Veröffentlicht in Zeitschrift: Idee und Bewegung: 1/1995
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Merkwürdige Erfahrungen

E18.

Die geliehene Gitarre

Die letzten Tage einer Sommerfahrt verbrachten wir, die beiden Mädchengruppen des Pfadfinderbundes Zugvogel, in Wien. Schon bei der Ankunft in der Stadt, auf dem Bahnhof sagte Gloria versonnen, daß sie gerne einmal in der Fußgängerzone für Geld singen würde. Wir anderen stimmten ihr zu. Dennoch ließen wir am nächsten Tag die Gitarre in der Jugendherberge liegen. So ganz trauten wir uns das doch nicht zu.

Wir fuhren mit der Straßenbahn ins Stadtzentrum, trennten uns dort in Grüppchen von drei, vier Leuten auf und bummelten durch die Fußgängerzone. Wir betrachteten die Auslagen einiger Geschäfte. Die andernen beiden, mit denen ich unterwegs war, hatten wieder einmal einen gemeinsamen Spleen entwickelt, was sie unbedingt kaufen müßten. Ich glaube, es waren in jenen Sommer diese billigen Stoffschuhe mit aus Stroh geflochtener Sohle. Ich selbst hatte kein Interesse an solchen Dingen, doch es machte mir Spaß, die anderen beiden zu beobachten. Verschiedene Menschen führten auf der Straße etwas vor. Einige Ausländer tanzten in ihren Trachten. Andere Menschen spielten Instrumente, wie das an schönen Sommertagen in den Fußgängerzonen der Großstädte meist ist. Als wir einmal kreuz und quer durch die Innenstadt gelaufen waren, entdeckten wir die anderen Pfadfinder. Sie saßen in der Mitte der Straße, spielten auf ihren Instrumenten und sangen. Wir kannten sie nicht. Neugierig blieben wir stehen. Es war eine Mädchengruppe wie wir auch. Sie spielten weiter, als hätten sie uns nicht gesehen. Das ist keine unfreundliche Geste, keine Abweisung. Es ist einfach so, daß man in den Bünden, wenn man singt, singt. Ein Lied wird nicht für eine Begrüßung unterbrochen. Man spricht nicht dazwischen und stört nicht die Stimmung, indem man aufsteht oder wilde Gesten macht. Dagegen sind alle, die zufälligerweise vorbeikommen, eingeladen, jederzeit unaufgefordert mitzusingen. Nach und nach sammelten sich die Mädchen unserer beiden Gruppen unter den Zuschauern. Zufall. Zwischen den einzelnen Strophen spielte eines der fremden Mädchen ein Zwischenspiel auf ihrer Querflöte und am Ende des Liedes fügte sie ein langes Nachspiel an. Dann herrschte für einen Augenblick Stille. Wir Zugvögel verließen unsere Plätze unter den Zuschauern und mischten uns zwischen die anderen Pfadfinder. Die Vorstellung beschränkte sich auf ein Minimum. Es reichte uns, zu wissen, daß sie auch auf Großfahrt waren und dem Pfadfinderbund Mannheim angehörten. Ein Bund, von dem wir noch nie gehört hatten. Dann blätterten wir in den handgeschriebenen Liederbüchern der Anderen. Wir fanden unter ihren weit über hundert Liedern kein einziges, das wir kannten. Schließlich gaben wir es auf, sie sangen eine Weile allein weiter, während wir in freundschaftlichem Schweigen zwischen ihnen saßen. Als die Mädchen des Pfadfinderbundes Mannheim schließlich zusammenpackten und das ersungene Geld einsammelten sagte unsere Gruppenführerin:
"Wir würden uns gerne die Gitarre von euch leihen."
"Gut. Wir gehen jetzt essen und wenn wir fertig sind, holen wir sie wieder ab." antwortete eine der anderen.
Sie gingen, wir sangen und spielten weiter Gitarre.

Langsam wurde es dunkel. Die Sterne schimmerten am Himmel und die Luft war angenehm lau. Wir sangen und genossen die Schönheit der Sommernacht.

Es war schon ganz dunkel, als die Polizei kam und die vielen Straßenmusikanten der Reihe nach höflich aufforderte, ihre Instrumente einzupacken und zu gehen. Wir packten die geliehene Gitarre gehorsam ein. Doch als sie uns dann aufforderten die Straße zu verlassen, wechselten wir ratlos einen Blick. Schließlich sagte eine von uns:
"Es tut uns leid. Wir können die Gitarre gerne einpacken und wir spielen auch bestimmt nicht weiter, aber wir müssen hier noch auf die Besitzer der Gitarre warten. Wir kennen ihre Namen nicht und haben auch keine Addresse, wo wir sie finden können."

Da wir uns nicht fortschicken ließen, ging der Polizist unverrichteter Dinge weiter, wir warteten auf die andere Pfadfindergruppe und gaben ihnen die Gitarre zurück, ohne nach Addressen zu fragen. Warum auch? Wir werden sie auch so nicht vergessen.

Kersti


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