erste Version vor dem 15.2.00
letzte Bearbeitung: 7/2013
Gehorsam folgte ich ihm durch die Gänge des Tempels zur Kammer des
Opfers. Als er mich aufforderte einzutreten, fragte ich leise:
"Ich?"
"Ja." antwortete Archiel und erwiderte ernst, traurig und
liebevoll meinen fragenden Blick. Auch er war mein Freund.
Ich nickte nur. Ich hatte mir gedacht, daß ich das nächste
Opfer sein würde.
Leise verschloß Archiel die Tür und ging fort. Ich legte mich auf das saubere Bett und richtete mich aufs Warten ein. Ich fragte mich, wer mein Priester sein würde.
Noch am selben Tag kam Jojet zu mir in die Kammer. Ich war traurig.
Dächte ich nur an mich, hätte ich mir wohl gewünscht,
daß er diese Aufgabe übernähme. So aber überlegte ich,
wie sehr er darunter leiden würde. Ich begrüßte Jojet
liebevoll.
"Weißt du es?" fragte er zaghaft.
Ich nickte.
"Ich hätte mich nicht getraut, es dir zu sagen." sagte
Jojet leise.
"Ich war zu meinen Opfern immer ehrlich." erklärte ich ihm.
"Immer? Wie sind sie denn mit den Antworten zurechtgekommen?"
fragte Jojet.
"Wenn sie merken, daß sie auf jede Frage eine klare und
ehrliche Antwort bekommen, dann überlegen sich die Menschen sehr genau,
welche Fragen sie lieber nicht stellen wollen", sagte ich ihm,
"weißt Du Jojet, ich frage mich plötzlich, ob das, was wir
hier tun, wirklich richtig ist."
Jojet setzte sich zu mir auf das Bett, nahm meinen Kopf auf seinen
Schoß, strich mir liebevoll durch das Haar und sah mich erstaunt und
fragend an, weil ich unser ganzes Leben in Frage stellte. Als Opfer hatte
ich das Recht alles zu sagen, was mir in den Sinn kam.
"Jojet, sprich deine Gedanken aus." sagte ich bestimmt.
"Du weißt doch, daß unser Land nicht bewohnbar
wäre, wenn wir nicht die magische Macht, die wir durch die Opferungen
erhalten, nutzen würden, um Regen zu rufen. Wir haben nur die Wahl
zwischen keinem Leben hier und einem Leben, das durch regelmäßige
Opfer erhalten wird." wiederholte Jojet, was wir beide wußten.
"Trotzdem frage ich mich inzwischen, ob es nicht besser wäre,
wenn hier keine Menschen leben würden." sagte ich.
Jojet schwieg. Er hatte sich diese Frage mit Sicherheit auch schon
gestellt, doch bisher hatte er immer das Leben gewählt.
"Warum gerade Du?" fragte Jojet einige Minuten später mit
tränenerstickter Stimme. Ich nahm seine Hand, streichelte sie und sagte
ruhig:
"Weißt Du, Archiel redet nicht mit mir darüber, nach
welchen Gesichtspunkten er das nächste Opfer auswählt. Aber ich
denke, ich kenne den Grund. Jojet, ich will lieber sterben als weiterhin
Priesters zu sein. Ich würde es nicht noch einmal ertragen, einen
Menschen, den ich liebe, zu töten. Eine dritte Wahl kann mir Archiel
aber nicht bieten. Also gibt er mir den Tod, den ich selber wählen
würde, wenn ich zu entscheiden hätte."
Jojet weinte jetzt hemmungslos. Ich hielt seine Hand und wartete ruhig,
bis er wieder das Wort ergriff:
"Warum müssen wir auch an jedes unserer Opfer unser Herz
verlieren?" fragte er voller Zorn.
"Ach Jojet, das weißt du doch! Stell dir nur vor, wie du uns
Priester gehaßt hättest, wenn wir dich damals, als wir dich
geholt haben, hier in diesem Raum allein gelassen und geopfert hätten.
Du weißt doch, daß der Haß eines Opfers die Wirkung des
Zaubers zum Schaden des Landes verändert hätte." erinnerte
ich ihn an die Dinge, die jeder Priester während seiner Ausbildung
lernt, leise fuhr ich fort:
"Es ist schon so schlimm genug, daß wir Menschen opfern. Wenn
wir das aber ohne Liebe täten, dann gäbe es in diesem Land bald
nichts mehr, das ein solches Opfer wert ist. Ein Priester darf niemals
herzlos sein."
"Ist es nicht hart genug, daß wir unsere Opfer nur lieben
lernen, um sie nachher zu ermorden. Warum müssen wir auch noch
mitansehen, wie nach und nach alle unsere Freunde geopfert werden? Warum
können nicht wenigstens wir Priester verschont sein? Männer aus
dem Volk haben wenigstens die Chance, daß sie am Leben bleiben und alt
werden. Ein Priester lebt nie lange." fragte Jojet voller Bitterkeit.
"Als Hohepriester darf Archiel nicht über die Gründe
für die Auswahl unserer Opfer sprechen, aber ich denke, ich kenne sie
trotzdem. Sieh mal, Jojet: Archiel ist der mächtigste Mann unsres
Landes und unter den Frauen steht nur die Königin selber im Rang
über ihm. Von seinen Entscheidungen hängt viel ab. Archiel darf
niemals gedankenlos einen Menschen opfern. Nur wenn er das ganze
Ausmaß des Leides kennt, das so ein Opfer hervorruft, wird er sich oft
genug überlegen, ob es wirklich notwendig ist. Darüber, daß
ich selbst einmal geopfert werden würde, habe ich mir nie viel Gedanken
gemacht und mein Tod schreckt mich auch jetzt nicht sehr, da er so nahe ist.
Bei meinen Opfern hatte ich mich von vorneherein damit abgefunden, daß
ich sie nur kennen und lieben lernte, um sie zu töten. Ich habe um
jeden einzelnen tagelang geweint, doch wirklich erschüttert hat es mich
nur, meine Freunde sterben zu sehen, mit denen ich jahrelang
zusammengearbeitet habe. Ich denke ein Hohepriester muß einfach
wissen, wie es ist, einen guten Freund oder einen Angehörigen durch ein
Opfer zu verlieren, damit er die richtigen Entscheidungen trifft."
"Aber ich will dich nicht verlieren!" protestierte Jojet.
"Weil du mich liebst, Jojet. Und ohne die Liebe ist das Leben
nichts wert. Deshalb müssen die Priester so ausgebildet werden,
daß unter all der Grausamkeit des Opfers, niemals die Liebe
verlorengeht." sagte ich sanft und streichelte seine Hand, die ich
immer noch in der meinen hielt. Wir schwiegen beide lange. Was wir dachten,
war zu traurig, um es in Worte zu fassen.
Spät am Abend klopfte es an der Tür.
"Was ist?" fragte ich.
"Arton, darf ich hereinkommen?" fragte Archiel von
draußen.
"Selbstverständlich. Du bist mir immer willkommen, das
weißt du doch."
Ich hörte wie Archiel den Riegel zur Seite schob. Als er hereinkam,
sah er niedergeschlagen und traurig aus.
"Setz dich zu mir, Archiel." sagte ich freundlich und fragte
dann: "Steht der Tag meines Opfers schon fest?"
"Übermorgen." sagte Archiel kurz, ohne mich anzusehen.
Ich zuckte zusammen.
"Es ist ein Schlag für dich, aber du protestierst nicht."
stellte Archiel fest.
"Ja. Ich hatte gehofft noch ein paar Tage mehr zu leben zu haben.
Aber ich vertraue dir." sagte ich sanft.
"Womit habe ich dieses Vertrauen verdient?" fragte Archiel
bedrückt.
"Du hast es nicht verdient, Archiel. Ich habe es dir
geschenkt." antwortete ich ernst.
"Und wenn ich dein Vertrauen nicht wert bin?" fragte Archiel.
Ich dachte darüber nach und lächelte in mich hinein. Es war ein
liebevolles, aber kein fröhliches Lächeln. Ruhig antwortete ich:
"Dann habe ich mein ganzes Leben auf einem Irrtum aufgebaut."
Archiel warf mir einen schockierten Blick zu.
"Du übrigends auch", fuhr ich fort, "Denn aus
Bosheit würdest du kein Unrecht tun. Du wirst Dich bald selbst zum
Opfer bestimmen, nicht wahr?"
Jetzt spiegelte Archiels Gesicht Unglauben wieder.
"Woher weißt Du ... ?" begann er und brach mitten in
der Frage ab.
"Ich kenne dich." antwortete ich einfach.
"Ich habe immer gedacht, daß du auch ohne Ausbildung einen
guten Priester abgegeben hättest. Jetzt weiß ich, daß du
auch ohne Ausbildung ein guter Hohepriester wärest." sagte Archiel. Ich sah ihn erstaunt an. Ich hatte nicht geahnt, daß er so viel von mir hielt. Dann stellte ich richtig:
"Nein, Archiel, dazu habe ich nicht mehr die Kraft."
"Stimmt." bestätigte Archiel und sank in sich zusammen.
Ich nahm auch seine Hand und streichelte sie tröstend. Es gehörte
zu den Aufgaben eines Priesters, stets für sein Opfer da zu sein, und
ihm zu helfen, sich mit seinem Tod abzufinden. War ein ehemaliger Priester
das Opfer, lief es meist umgekehrt und das Opfer tröstete die anderen.
Am Tag des Opfers aßen Jojet und ich ein letztes mal gemeinsam.
Ich ließ die Schale mit dem Betäubungsmittel stehen. Jojet
reichte sie mir und fragte erstaunt:
"Willst Du das nicht trinken?"
"Nein.", antwortete ich ernst, "Ich habe nur noch wenige
Minuten zu leben und die will ich nicht an eine Drogenbetäubung
verschwenden."
"Muß ich dich fesseln?" fragte Jojet, als wir kurze Zeit
später aufbrachen.
"Nein." antwortete ich fest und folgte ihm ruhig zum
Altarstein. Wieder einmal dachte ich voll Trauer an all die Menschen, die
ich hier getötet hatte.
"Jetzt muß ich dich fesseln." sagte Jojet bestimmt.
Ich nickte, legte mich auf den kalten Steintisch und streckte Jojet
meine Hände hin, damit er sie festbinden konnte. Kein Mensch hat seine
Muskeln genug unter Kontrolle, um die letzten Zuckungen zu unterdrücken. Von einer seltsamen Ruhe erfüllt, sah ich zu, wie Jojet meinen Brustkorb öffnete und mein noch schlagendes Herz herausholte. Ich hatte mir die Schmerzen weit schlimmer vorgestellt. Jojet schaute suchend in mein Gesicht. Ich wollte ihm tröstend zulächeln, doch meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr. Ich verließ meinen toten Körper und richtete mich auf, um Jojets Gesicht zu sehen. Er starrte erschüttert auf mein blutiges Herz in seiner Hand und konnte sich nicht von diesem Anblick lösen. Doch sein eigenes Herz, das noch in seiner Brust schlug, blutete nicht weniger. Was hätte ich darum gegeben, ihn trösten zu können! Aber er lebte und ich war unsichtbar für ihn. Da erst begriff ich:
"Nichts auf der Welt, auch nicht das Leben selbst, ist es wert,
daß wir einander dafür immer und immer wieder so weh tun! Wenn
ich dazu jemals die Möglichkeit habe, werde ich alles tun, was in
meiner Macht steht, um weitere Menschenopfer zu verhindern."
Ich habe in späteren Leben andere Fehler gemacht, doch diesen habe ich nicht wiederholt. Ich verwandte mehr als ein Leben auf den Versuch, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Menschenopfer abzuschaffen.
Eine weitere Geschichte zum Thema Menschenopfer:
M6. 13 Hexen:
... um nichts auf der Welt
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal
im Voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von
Lesern immer bekomme.
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