F23.

Der Wert des Gewissens

Unbeweglich kniete ich im Schützengraben und schaute hinüber in die feindlichen Reihen. Es war nicht viel zu sehen. Sie hatten auch Schützengräben.

Irgendwann zeigte sich ein Gesicht, spähte zu uns herüber. Der junge Mann schoß. Ich sah ihn an und wußte, daß ich nicht auf ihn schießen konnte. Er war doch ein Mensch. Ich beobachtete weiter. Mit weit offenem Geist erspürte ich das Leben hier und Drüben. Dort im anderen Schützengraben hatten sie dieselben Sorgen und Nöte wie hier. Sie unterschieden sich kaum von uns. Nein. Ich konnte nicht schießen. Es war falsch.

Wer nicht schießt, gilt als Deserteur und Deserteure werden erschossen. Scheiße. Ich Idiot. Ich hätte doch früher drauf kommen können, daß ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, auf Menschen zu schießen. Dann hätte es Möglichkeiten gegeben, um einen Posten zu bitten, bei dem ich nicht schießen muß. Nun ja - dazu war es jetzt zu spät. Ich fühlte mich innerlich ganz ruhig. Weglaufen? Nein. Es fühlte sich falsch an. Ich legte das Gewehr zur Seite und wartete.

Plötzlich legte sich eine große Hand auf meine Schulter:
"Willst du nicht schießen?"
Ich zuckte zusammen und bekam eine Gänsehaut. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Ich drehte mich um und sah den Mann gerade an:
"Nein."
"Weißt du, was das bedeutet?" fragte er drohend.
"Ja." antwortete ich und sah ihm jetzt ganz ruhig in die Augen.
Ich hatte meine Entscheidung getroffen und ich hatte guten Grund dafür - denn das Gewissen war für mich immer schon die wichtigste Entscheidungsgrundlage gewesen. Er rief die anderen, ehemalige Klassenkameraden, damit sie mich fesselten und abführten. Ich ging ruhig mit.

"Warum schießt du nicht?" fragte der Junge, der mich abführte.
"Ich kann nicht. Es sind Menschen." antwortete ich.
"Du warst schon immer etwas merkwürdig." sagte er. Es war nicht unfreundlich gemeint.
Ich nickte. Daß ich aus Sicht meiner Klassenkameraden merkwürdig war, war mir nichts Neues.

Ich dachte an meine Familie. In den nächsten Tagen würden sie einen Brief erhalten in dem stand, daß ich wegen Desertation erschossen wurde. Das würde ihnen wehtun. Ja es würde für sie schlimmer sein, als wäre ich im Krieg gefallen. Denn daß jemand im Krieg fällt, ist etwas, das sie verstehen. Daß ich mich geweigert hatte, zu schießen, würde für sie unfaßbar sein.

Ich selbst fühlte mich ruhig und in Frieden mit mir selbst. In Wirklichkeit ist sterben einfach. Es ist nichts, vor dem man sich fürchten müßte. Aber es ist sehr schwer, allein zurückzubleiben, wenn man einen Menschen verloren hat, der einem sehr nahe steht.

Nun. Dann mußte ich ihnen jedem einen Brief schicken. Für jeden die richtigen Worte finden. Ihnen zeigen, daß ich immer noch voller Lebensfreude war, sie liebte, daß ich immer noch derselbe war. Ihnen ein wenig Trost geben.
"Gerold, ich möchte gerne ein paar Briefe nach Hause schreiben. Wenn du mir die Arme frei machst, gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich diese Nacht nicht fliehe." wandte ich mich an meinen Klassenkameraden.
Er löste die Fesseln sofort und begleitete mich zu meinem Bett, als ich Papier und Stift holte. Dann fragte er mich, ob ich auch einen Kaffee wolle und ließ mich ganz allein, bis er mit dem Kochen fertig war, und mir meine Tasse brachte.

Ich fragte mich, ob er mich gut genug kannte, um zu wissen, daß er sich auf mein Ehrenwort tatsächlich verlassen kann, oder ob er hoffte, daß ich die Gelegenheit nutzen würde, um zu fliehen. Vielleicht war ihm auch nur nicht bewußt, was mit mir geschehen würde.

Ich begann zu schreiben. Von Zeit zu Zeit wechselte ich ein freundliches Wort mit Gerold. Es war richtig gemütlich. Abends, als die anderen hereinkamen, war ich noch lange nicht fertig. Ich begrüßte jeden von ihnen herzlich und schreib dann fast bis zum nächten Morgen. Mir standen nicht genug Marken zu, um alle Briefe zu verschicken, deshalb bat ich die anderen nach dem Wecken, mir welche zu schenken und verteilte dann alles, was mir gehörte an sie.

Hinrichtung

Ruhig stand ich am nächsten Morgen vor der Wand und schaute meine Klassenkameraden an, die befehlsgemäß die Gewehre auf mich gerichtet hatten. Der Offizier gab den Befehl zum Schießen. Ein vielfacher lauter Knall - und ich stand immer noch völlig unverletzt da. Zuerst war ich einfach nur überrascht. Dann wurde mir bewußt, was es hieß, daß sie alle daneben geschossen hatten: Es war Absicht. Aus dieser Entfernung schießt niemand ausversehen daneben. Eine Gewissensentscheidung: Sie waren alle ausnahmslos der Ansicht, daß ich den Tod nicht verdient hätte. Das gefiel mir. Ich lächelte in mich hinein. Nicht daß es im Endeffekt viel ändern würde.

Der Offizier war zuerst nur verblüfft, dann wurde ihm bewußt, was geschehen war. Er wurde rot im Gesicht holte tief Luft und machte die versammelte Klasse zur Sau. Ich beobachtete ihn nachdenklich. Er wollte die Klasse dazu bewegen, daß sie gegen ihr Gewissen handeln. Das durfte nicht sein. Als er fertig war, sagte ich laut:
"Wenn du meinst, mich erschießen lassen zu müssen, solltest du die Drecksarbeit vielleicht selber tun."
Er fuhr zu mir herum und starrte mich ungläubig an, wurde rot im Gesicht, holte Luft:
"Du hast mir gar nichts zu sagen, du Feigling!" brüllte er mich an.
"Wer ist hier der Feigling? Derjenige, der nicht auf andere schießt und dafür den Tod in Kauf nimmt, oder der, der ihn dafür erschießen läßt und damit kein Riesiko eingeht?" fragte ich zurück.
"Du..." ihm fiel offensichtlich keine neue Beschimpfung mehr ein.
"Du solltest die Drecksarbeit selber machen." wiederholte ich sanft und überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, zu fliehen.
Die Nacht, für die ich mein Ehrenwort gegeben hatte, war schließlich vorbei.

Doch er richtete seine Pistole auf mich - ich sah ihm direkt und offen in die Augen. Er wandte den Blick ab, zielte auf mein Herz und schoß. Ehe ich meinen Körper verlassen konnte, mußte ich noch ein paar Sekunden des Schmerzes durchstehen.

Einige Minuten beobachtete ich nach meinem Tod meine Klassenkameraden. Mir ging es gut, doch es tat mir leid, sie so traurig zu sehen. In der darauffolgenden Nacht besuchte ich jene, die mir nahestanden, im Traum und teilte ihnen mit, daß es mir gut ginge - daß ich tot sein und nun an einem friedlichen Ort leben würde.

Bald darauf begann ich ein neues Leben ebenfalls in Deutschland. In jenem Leben jedoch redete ich, als ich einberufen wurde so lange mit dem zuständigen Mann, bis ich als Sanitäter eingeteilt wurde - doch auch in jenem Leben überlebte ich diesen Krieg nicht.

Kersti

Quelle: Erinnerungen an eigene frühere Leben


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