Danach kam eine alte Frau mir einem weichen
freundlichem Gesicht. Die Hebamme. Auch
sie untersuchte das schlafende Mädchen
sanft und fragte mich dann:
"Weißt du, wie knapp sie das überlebt hat?"
"Ich habe die Hebammengrundausbildung der Amazonen mitgemacht,
Mutter. Ich habe öfter Kinder an den Folgen solcher
Verletzungen sterben sehen, die zu uns geflohen sind." antwortete
ich ebensoleise.
"Und dann bist du gestern ausgerastet..."
"Sozusagen. Er hatte Glück, daß ich mich gerade noch
davon abhalten konnte, ihm den Kopf abzuschlagen, wie er es verdient
hätte."
Sie lächelte boshaft, als würde sie ihm genau
das wünschen.
Dann fragte sie unvermittelt:
"Sag mal, hat Sanara es zu euch geschafft?"
"Ja. Sanna lebt. Sie hat die Geburt ihrer kleinen Tochter
überlebt, auch wenn es sehr knapp war, da die alten Narben wieder
aufgerissen sind." antwortete ich.
"Sie war schwanger? Und wer kümmert sich um das Kind? Kann sie
es überhaupt lieben?"
"Ihr Stillkreis. Sie will nichts von ihr Tochter wissen, aber die
anderen reißen sich darum, die Kleine zu bemuttern."
erklärte ich.
"Und es geht ihr wirklich gut?" fragte sie noch einmal.
"Ja. Es geht ihr gut. Nur die Regel ist für sie sehr
schmerzhaft und sie will nichts mehr von Männern hören und
sehen." antwortete ich.
"Das kann ich nur zu gut verstehen. Nach dem, was sie erlebt
hat."
"Dadurch verliert sie eines der schönsten Dinge im Leben. Und
wenn das Kind älter ist, wird sie bedauern, in dessen Kindheit
nicht für es dagewesen zu sein, weil sie wegen ihre inneren
Verletzungen keine weiteren Kinder bekommen kann.
Aber warum ich eigentlich mit dir reden wollte: meinst du, du kannst
entweder ihrem Vater oder ihrer Mutter den Ernst der Lage klar machen,
so daß ich sie bei den Amazonen in Sicherheit bringen kann, ohne
dadurch gleich einen Krieg hervorzurufen?" fragte ich.
"Mit der Mutter könnte ich reden - und dafür sorgen,
daß sie dir ein Schreiben für den König mitgibt, der
ihr Bruder ist. Die beiden stehen sich sehr nahe, und es wird deshalb
wohl Gewicht bei ihm haben."
Das hörte sich an, als gäbe es so etwas wie
Hoffnung. Da hätte ich nicht mit gerechnet.
Während des Trainings erklärte der Offizier eine spezielle Wache vor meiner Zimmertür für unnötig, da die ganze Halle voller Bewaffneter sei. Im Training nahm ich die Position vor der Zimmertür ein, die ich bewachte, und blieb dort stehen, wenn die anderen auf eine neue Position wechselten, um mit einem neuen Partner zu trainieren. Die Stimmung war plötzlich wieder entspannt wie immer. Zwischenfälle hatte ich nicht erwartet. Ich wußte, daß die Männer innerlich auf meiner Seite standen und nur auf ausdrücklichen Befehl angreifen würden. Aber daß sie plötzlich wieder mit mir scherzten, als sei nichts passiert, hätte ich nun auch wieder nicht für möglich gehalten.
Quelle: Erinnerungen an eigene frühere Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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