erste Version: 12/2015
letzte Bearbeitung: 12/2015
Vorgeschichte:
F661.
D
Der Heilige erzählt:
An einem anderen Tag kam ein Jugendlicher vorbei, der offensichtlich bei der Stadtwache angeheuert hatte. Er sah, wie albern sich die Leute in meiner Umgebung verhielten mit ihren Gebetskränzen und was sie noch für einen Schnickschnack dabei hatten und erklärte so laut er konnte, daß diese Heiligenverehrung bescheuert fand. Das hätte ich sein können! Doch die Leute, die mich umlagerten, hatten dafür wenig Verständnis. Sie waren höchst empört und einige hoben schon gefährlich große Steine auf. Närrischer Junge. Ich stand auf meinem einen verbliebenen Bein auf und rief so laut, daß jeder es hören konnte:
"Das ist ein wahres Wort! Jeder, der einen Heiligen verehrt, aber diesem Heiligen nicht die Butter auf dem Brot gönnt, die Bettelkinder auf der Straße verhungern läßt und Leute, die ein wahres Wort sprechen steinigen will, ist ein Heuchler!"
Die Leute sahen mich fassungslos an, würden aber keine Steine nach mir werfen, da was ich mir ziemlich sicher. Ich forderte den Jungen auf, zu mir zu kommen, was er zuerst nicht wollte.
"Willst du, daß sie dich steinigen?" fragte ich so leise, daß nur wenige Nahestehende das mitbekommen konnten.
Da erst sah er, wie viele Leute große Steine in der Hand hielten und tat, was ich sagte. Ich achtete darauf, daß er hinter mir in der Nische unter der Treppe saß und wechselte leise ein paar freundliche Worte mir ihm.
Der Wachoffizier kam etwas später und fragte, was los sei. Ich redete mit ihm, wie ich früher mit vorgesetzten Offizieren gesprochen hatte.
"Sie wissen doch wie diese Jungs sind. Immer ein freches Wort auf den Lippen und ehe man sich versieht, haben sie sich in Schwierigkeiten gebracht. Diesmal meinte er, es wäre ein kluger Gedanke, der Menschheit mitzuteilen, daß Heiligenverehrung albern ist." erklärte ich leise.
Krähenfüßchen erschienen an seinen Augenwinkeln, während er gleichzeitig sein Bestes tat eine strenge Miene zu wahren. Wahrscheinlich hatte er sich seine eigenen Gedanken zum Thema Heiligenverehrung gemacht, zumindest hatte er mir täglich heimlich etwas zusätzliches Brot zugesteckt und mir erklärt, daß man ihm sogar verboten hatte, mir mehr zu essen geben, deshalb dürfe ich nicht darüber reden.
"Wenn Sie mich fragen, ist er ein Tunichtgut." sagte er viel lauter als ich gesprochen hatte und befahl dem Jungen mitzukommen. Dieser folgte ihm mit beklommener Miene, während ich mir recht sicher war, daß nicht viel passieren würde. Die Offiziere haben im Allgemeinen sehr viel mehr Verständnis für die Jungen, denen sie Disziplin beizubringen versuchen, als sie je zugeben würden. Schließlich wissen sie, daß die Jungen, die bei ihnen anheuern, im Allgemeinen auf der Straße aufgewachsen sind und erst einmal lernen müssen, daß es für einen Erwachsenen kein guter Gedanke ist, das Brot, was man essen will, einfach zu klauen, weil eine Karriere als Dieb einen letztlich aufs Schafott bringt. Und die moralischen Vorstellungen, die so ein Straßenkind mitbringt, sind für meine Begriffe zwar nicht schlimmer als die derjenigen, die ihren Heiligen auf dem Marktplatz anketten - aber leider auch nicht besser. "Wieso er ist doch selbst schuld, wenn ich ihm die Kehle durchgeschnitten habe. Er hätte mir sein Geld doch auch geben können!" ist durchaus etwas, was diese Jugendlichen für eine völlig normale Einstellung halten.
Um wirklich zu verstehen, warum solche Kinder so werden, muß man es selbst erleben. Zu der Bande an Straßenkindern, zu der ich gehört habe und die ich zeitweise auch geführt habe, gehörten in ihrer besten Zeit zwölf Kinder. Insgesamt habe ich in den vier Jahren, in denen ich Straßenkind war, etwa fünfzig verschiedene Mitglieder erlebt, von denen die meisten auch in dieser Zeit umgekommen sind. So weit ich weiß, bin ich der einzige, der wirklich erwachsen geworden ist. Im Winter starb im Allgemeinen etwa die Hälfte der Bande, nicht direkt an Hunger, nicht direkt durch erfrieren. Aber Hunger und Kälte führten dazu, daß sie eine simple Erkältung nicht überlebten. Die anderen starben, weil jemand seine Hofhunde auf ihn gehetzt hatte, weil Soldaten die Mädchen vergewaltigten, weil jemand ein Kind zur Strafe für einen kleinen Diebstahl erstochen oder erschlagen hatte. Mord und Totschlag sind einfach zu alltäglich für uns gewesen, als daß wir sie für ein Kapitalverbrechen hätten halten können und eine geraubte Börse konnte die kleine Bande durchaus einen Monat lang mit dem Lebensnotwendigsten versorgen. Es hatte bei uns auch manchmal kleinere Kinder gegeben, aber ich hatte es in den vier Jahren nie erlebt, daß ein Kind unter zehn Jahren einen Winter überlebt hatte. Wir waren für unsere Verhältnisse nicht unfreundlich zu ihnen, aber so ein kleines Kind überlebt es einfach nicht, wenn es monatelang fast nichts zu essen gibt. Als ich vierzehn war, ging ich zu einer der vielen herumziehenden Armeen und ließ mich anwerben, weil ich mir dachte, daß ich dann wenigstens jeden Tag satt zu essen bekomme. Zwei weitere Jungen und ein Mädchen von unserer Bande ließen sich gemeinsam mit mir als Soldaten anwerben. Die Jungen fielen in den folgenden Schlachten. Daß das Mächdchen eine Frau war, fiel natürlich bald auf, weil sie, sobald sie regelmäßig zu essen bekam, ihre Tage bekam und dann von mir schwanger wurde. Unser Hauptmann reagierte eher amusiert als verärgert und gab meiner Frau eine Arbeit beim Troß, als die Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen war und sie das Kampftrainig nicht mehr schaffte. Mein Kind wurde kein Jahr alt. Nach einer verlorenen Schlacht, haben gegnerische Soldaten meine Frau vergewaltigt und Frau und Kind umgebracht. In einer der Armeen, in denen ich danach diente, fiel ich dem Hauptmann auf und er entschied, mir den Befehl über zehn Mann zu geben, was bedeutete, daß er mich auch nach dem Kriegszug behielt, weil er beim nächsten mal, wenn er Leute anwerben wollte, einen zuverlässigen Stamm an Offizieren brauchte. Und nachdem ich zehn Jahre so gelebt hatte, passierte mit mir, was Soldaten auf Schlachtfeldern passiert. Ich war vierundzwanzig als ich verkrüppelt wurde und hätte danach nur noch betteln können, was ein Bettler meist keinen Winter überlebt.
Wie auch immer. Mittags kam der Junge, den sie hatten steinigen wollen, zu mir und brachte mir einen Teller voll vom Mittagessen der Soldaten mit. Während wir aßen, fragte ich mich, ob er sich damit Ärger einhandeln würde, vermutete aber, daß einfach alle behaupten würden, daß sie von nichts wüßten, wenn man sie fragt. Der Junge sagte mir, daß ihm der Offizier nach der nächsten Ecke nur gesagt hätte, daß er besser so etwas nicht mehr sagt, wenn er nicht will, daß die Leute ihn steinigen.
Der Junge brachte mir regelmäßig Mittagessen und unterhielt sich dann ein Weilchen mit mir, was wohl hieß, daß es zumindest geduldet wurde. Er hielt jedem, ob sie es hören wollten oder nicht, einen Vortrag darüber, wie unmöglich er es fand, daß ich unter der Treppe angekettet worden war und man mir nichts anständiges zu Essen und keine Decke gönnte. Dem Hauptmann mußte das wohl gelegen kommen, denn er behielt den Jungen länger in der Wache, als die anderen jungen Leute, die für denselben Kriegszug angeworben worden waren.
Fortsetzung:
F663.
D
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal
im Voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von
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