Am nächsten Tag wurden die Kinder hoch in unser Dorf gebracht. Ohne viel Worte suchten sich die Krieger, die gekommen waren, um sie abzuholen, je ein Kind aus. Wir nahmen Jorisch, den Jungen, der zuletzt übrigblieb und gingen mit ihm durch das Dorf. Entsetzt starrte er die Kriegerkinder an, die am Wegesrand spielten. Ich spürte, daß er am liebsten weggelaufen wäre. Ich wunderte mich. Zu Hause angekommen, gaben wir ihm zu essen. Danach wollte ich spielen. Eigentlich hatte ich keine Lust diesen verängstigten Jungen dabeizuhaben. Aber er war in einer Stimmung, in der ich nicht hätte alleingelassen werden wollen. Also war ich verpflichtet bei ihm zu bleiben.
"Möchtest du mitkommen, spielen?" fragte ich.
"Nein." antwortete er und hob nicht einmal den Kopf.
"Warum denn nicht. Es ist so schön draußen!" versuchte
ich ihn zu locken.
"Ich will aber nicht!" wehrte er ab.
"Willst du den ganzen Tag in der Hütte bleiben?" wunderte ich
mich.
"Nein." kam kurz die Antwort.
"Was willst du denn dann machen?" fragte ich ratlos.
"Ich will nach Hause!" forderte er.
Das konnte ich verstehen. Doch es war festgesetzt worden, daß er
mindestens eine Woche nicht seine Eltern besuchen durfte. Ich
überlegte, wie ich den Jungen zu einer vernünftigen Handlung
bringen konnte. Ich wollte nicht den ganzen Tag im Haus verbringen.
Schließlich sagte ich:
"Hör zu. Du gehörst für den Rest deines Lebens zu uns.
Du kannst deine Eltern später besuchen, aber wohnen mußt du
hier. Du wirst kämpfen üben und ein richtiger Krieger werden.
Dir bleibt keine Wahl. Ich habe heute den ganzen Tag Zeit für dich. Du
kannst natürlich hier in der Hütte hocken bleiben. Wir
können aber auch mit den anderen Kindern spielen. Oder wir nehmen
Pfeil und Bogen und gehen zusammen auf Hasenjagd, ganz wie du
willst."
"Gehen wir ganz alleine auf Jagd, ohne andere Kinder?" fragte der
Junge.
"Wenn du das willst, dann gehen wir alleine." sagte ich, froh,
daß er wenigstens zu etwas Lust zu haben schien.
Also gab ich ihm meinen alten Kinderbogen mit einigen Pfeilen und nahm meinen neuen, größeren Bogen, den ich selbst gefertigt hatte, von der Wand. Da Jorisch sehr klein war, gingen wir nur bis zur nächsten größeren Wiese. Wir verbargen uns hinter einem kleinen Felsen und warteten, daß sich die Hasen hervorwagten. Als der Junge nach einiger Zeit das erste Tier sah, rief er erfreut: "Guck mal, da ist einer." Es verschwand sofort wieder im Gebüsch. Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und erklärte, daß man bei der Jagd leise sein muß. Nichtsdestotrotz begrüßte der Junge auch den nächsten Hasen mit einem fröhlichen Juchzen. Es dauerte, bis er gelernt hatte, still zu sein. Als nächstes merkte ich, daß er nicht schießen konnte. Ich hatte geglaubt, so etwas lernt man von alleine, ehe man vier ist. Es fiel mir schwer, ihm das zu erklären, denn ich wußte selbst nicht genau wie ich es machte. Also spannte ich den Bogen langsam und beobachtete meine eigenen Bewegungen. Dann übte ich sie mit dem Jungen ein. Das Ergebnis war nicht sehr berauschend. Wir kamen müde und ohne Beute zum Abendessen nach Hause.
Nachdem ich den Jungen zu Bett gebracht hatte, klagte ich meiner Mutter
mein Leid. Ich erzählte, daß der Jorisch ungeschickt und
unfähig sei, wie ein Baby. Meine Mutter hörte sich aufmerksam
meine Beschwerden an, dann erklärte sie:
"Überleg mal, Rundon, Jorisch ist hier auch fast so etwas wie ein
Baby. Sprechen und gehen hat er bei seinen Eltern zwar gelernt, aber sonst
gibt es das, was unser Leben ausmacht, im Bauerndorf nicht. Es gibt weder
Kämpfe noch Kampfspiele. Die Bauern jagen nur mit Fallen. Der Junge
hatte noch nie eine Waffe in der Hand, höchtens ein Messer, um sein
Fleisch kleinzuschneiden."
Hätte ich das glauben können, wäre es mir sicher logisch
erschienen. Aber ein Spiel, das nicht mit Kämpfen zu tun hat, war mir
unvorstellbar. Selbst die Tänze des Kriegervolkes waren auf den
Bewegungen des Kampfes aufgebaut und erforderten die Fähigkeit schnell
und richtig zu reagieren. Ich kannte das Bauerndorf, doch die Bauern
bewegten sich so ungeschickt, daß sie mir nie der Aufmerksamkeit wert
erschienen waren.
Der nächste Tag begann mit einer kurzen Kampfübung, bei der
Jorisch mir zusah. Er war nicht bereit, mir von der Seite zu weichen. Mein
Gegner war Rikon, ein guter Freund von mir und mir ebenbürtig. Ich
brauchte meine volle Konzentration für den Kampf, so daß ich
keine Augen für den Jungen hatte, der uns ängstlich zusah und
jedesmal zusammenzuckte, wenn ich einen Fehler machte und die flache Klinge
abbekam. Erst als wir nachher den Kampf mit meiner Mutter durchsprachen,
fragte der Junge mich:
"Tut das denn nicht weh?"
"Was?" fragte ich verwirrt.
Jorisch berührte vorsichtig mit dem Finger eine Strieme, die die
flache Klinge auf meinem Gesicht hinterlassen hatte und sagte:
"Das."
"Ach so", erwiderte ich, "Ja, aber man kann es
aushalten."
Ich hatte dem Treffer kaum Beachtung geschenkt.
"Rundon, schlagt ihr oft andere Kriegerkinder tot?" fragte der
kleine Junge nach einigem Zögern.
Fassungslos fragte ich:
"Nein. Wie kommst du auf diese verrückte Idee?"
"Aber ich habe ganz genau gesehen, daß ein Kriegermädchen
einen Jungen mit dem Stock totgeschlagen hat!" behauptete der
Junge.
Ich konnte mir keinen Reim darauf nachen. So lange ich mich erinnern
konnte, war nie ein Mitglied des Kriegervolkes von einen der unseren
ernsthaft verletzt worden. Daß ein Kind ein anderes töten
konnte, war undenkbar und unfaßbar für mich.
"Nein, Jorisch. Die Kinder haben gespielt. Der Junge hat nur so getan,
als wäre er tot." mischte sich meine Mutter ein.
"Ich habe es doch gesehen!" behauptete der Junge.
"Weißt du was? Wir schleichen uns an die Kriegerkinder an und
beobachten sie." schlug ich vor.
Dann bat ich meinen gleichaltrigem Freund flüsternd, den anderen zu sagen, daß sie tun sollten, als würden sie uns nicht sehen. Ich ließ meinem Freund ein wenig Zeit, ehe ich ihm zusammen mit meinem ängstlichen Begleiter folgte. Das Bauernkind machte beim Schleichen einen erstaunlichen Krach, flüsterte mir so laut, daß man es von Weitem hören mußte, etwas ins Ohr und setzte mich durch seine Tolpatschigkeit in Erstaunen. Nachdem er so allen Kriegerkindern verraten hatte, wo wir waren und was wir taten, verbargen wir uns hinter Büschen und beobachteten das Spiel. Schon bald wurde ein Mädchen mit einem geschnitzten Holzschwert so an die Brust getroffen, daß sie nach den Spielregeln tot war. Sie ließ sich fallen und spielte die Tote Frau.
"Siehst du, sie ist tot." flüsterte der Junge so laut,
daß das Mädchen ihn hörte und Mühe hatte, ein Lachen
zu unterdrücken. Tote lachen schließlich nicht.
"Schjerra, komm her." rief ich sie.
Sie rührte sich nicht. Ich sagte ernst:
"Schjerra, das ist kein Spiel. Komm her."
Da erst kam sie.
"Was ist denn los?" fragte sie ärgerlich, daß ich das
Spiel unterbrochen hatte.
"Jorisch ist der Ansicht, daß wir Kriegerkinder uns beim Spielen
gegenseitig totschlagen." antwortete ich.
"So ein Blödsinn! Als wenn wir nicht genug richtige Feinde
hätten. Wie kommt er denn auf die Idee?" lachte Schjerra.
"Was für Feinde denn?" fragte Jorisch.
"Sie kommen den Paß hoch und greifen uns an." sagte
Schjerra.
"Aber warum denn?" fragte Jorisch verwirrt.
"Weil sie dumm sind. Eigentlich müßten sie langsam begriffen
haben, daß sie nicht gegen uns ankommen." behauptete ich
überzeugt.
Schjerra stimmte mir zu. Jorisch dagegen fand das nicht logisch.
Nachdenklich beobachtete er die anderen Kriegerkinder.
So leise, daß Jorisch es nicht hören konnte fragte das
Mädchen:
"Stimmt es, daß deine Mutter dir die Verantwortung für
diesen Bauernjungen übertragen hat?"
Ich nickte.
"Aber das ist doch eine Erwachsenenaufgabe!" staunte sie.
Ich hatte mich auch gewundert. Ich hätte die Aufgabe frühestens
an meinem zwölften Geburtstag übernehmen dürfen.
"Hast du nachgezählt, wie viele Erwachsene keine eigenen Kinder
haben? Es sind keine zehn." gab ich ihr die Erklärung, die ich
schließlich gefunden hatte.
Schjerra nickte und ihre Augen wurden traurig.
Sie dachte an ihre Schwester und ihren Bruder, die auch im letzten Kampf
gefallen waren. Ich umarmte sie tröstend, als sie ihn Tränen
ausbrach und auch ich begann zu weinen, bei dem Gedanken an meinen toten
Vater.
"Warum weint ihr so?" fragte Jorisch uns.
Ich erzählte, wie wir am Abend nach dem letzten Kampf erfuhren,
wieviele Krieger gefallen waren. Danach stellte Jorisch keine Fragen
mehr.
In den darauffolgenden Tagen begann Jorisch zögernd, mit den anderen Kindern zu spielen, aber nur wenn ich dabei war.
Eine Woche nach seiner Ankunft im Kriegerdorf, erlaubte meine Mutter Jorisch zum ersten mal, seine Eltern zu besuchen. Ich begleitete ihn. Im Bauerndorf beobachtete ich die Kinder. Ich stellte zu meiner Verwunderung fest, daß keines ihrer vielen Spiele etwas mit Kampf zu tun hatte. Die Spiele des Bauernvolkes waren so ruhig, sanft und friedlich wie ihr übriges Leben. Jorisch rannte voraus, begrüßte seine alten Freunde. Ich beobachtete ihn. Er war geschmeidiger geworden, bewegte sich leiser und erschreckte die Bauernkinder durch seine wildere Art. Dann sah er seine Mutter, lief zu ihr hin und sprang ihr in die ausgebreiteten Arme. Beide, Mutter und Kind weinten bei der Begrüßung. Ich hielt mich abseits, um sie nicht zu stören. Als sie langsam ihr Haus betraten, folgte ich ihnen in einigem Abstand, betrat das Haus, sobald die Frau mir mit einem flüchtigen Nicken in meine Richtung die Erlaubnis dazu gegeben hatte. Sie waren in eine Unterhaltung vertieft, in deren Verlauf Jorisch seiner Mutter in allen Einzelheiten erzählte, was er in den letzten Tagen gemacht und erlebt hatte. Im Gesicht der Mutter machten die anfänglichen Tränen einer anderen Art von Trauer Platz.
Lange unterhielten Mutter und Kind sich, dann schickte die Frau
Jorisch zu seinem Vater. Ich blieb.
"Warum geht du nicht mit?" fragte mich Jorischs Mutter.
"Jorisch kann sich auch ohne meine Hilfe mit seinem Vater unterhalten.
Du bist traurig, nicht wahr?"
Die Frau sah mich nur schweigend an. Sie hielt den letzten Satz für
einem Ablenkungsversuch, auf den sie nicht eingehen wollte.
"Ich bin nicht wegen Jorisch mitgekommen. Er wird mir sowieso alles
erzählen, was er heute getan hat. Meine Mutter hat gesagt, ich soll
Jorisch Eltern kennenlernen. Sie sagte, ihr würdet mich
brauchen." erklärte ich.
Jorischs Mutter dachte nach, dann antwortete sie:
"Ja ich bin traurig. Jorisch ist nicht mehr der Junge, den ich vor ein
paar Tagen hoch zum Kriegerdorf gebracht habe."
Ich nickte. Ich wußte, was sie meinte. Ich hatte mit meiner Mutter
darüber gesprochen. Ich faßte es für Jorischs Mutter in
Worte und wiederholte dabei unverändert vieles, was meine Mutter am
Vorabend zu mir gesagt hatte:
"Ich weiß. Vorher war er ein Bauernkind. Ich verstand nicht, wie
er dachte, was ihm solche Angst machte. Ich wußte nicht, was er in
unseren Spielen sah. Ich wollte ihm helfen, habe darüber nachgedacht,
wer ihr Bauern seid. Während ich ein wenig lernte, ihn zu verstehen,
hat er auch gelernt, mich zu verstehen. Er hat begonnen den Abgrund zu
überqueren, der zwischen der Lebensweise des Bauernvolkes und der des
Kriegervolkes liegt. Jetzt liegt auch Abstand zwischen dir und Jorisch und
es tut euch beiden weh."
Die Frau sah mich nachdenklich an. Ich wußte, daß sie solche
Worte nicht von mir erwartet hatte. Sie nickte.
"Ich will ihn aber nicht verlieren!" rief sie.
"Das wirst du auch nicht. Alle Krieger unseres Dorfes, die im
Bauerndorf zur Welt gekommen sind, besuchen ihre Eltern, solange sie
leben." erklärte ich.
"Solange wer lebt?" fragte Jorischs Mutter. Es klang
wütend.
"Das kommt darauf an. Manche Krieger leben länger als ihre
Eltern." antwortete ich und begann zu weinen.
Die Frau war bestürzt und umarmte mich tröstend. Leise fragte
sie:
"Was habe ich gesagt, daß du so weinst?"
Es dauerte eine Weile, bis ich zwischen den Schluchzern antwortete:
"Mein Vater ist gefallen."
Sie wiegte mich in den Armen, bis ich mich wieder beruhigte.
"Und wenn Jorisch in einem Kampf stirbt, ehe er ausgewachsen
ist...?" sprach sie die Angst aus, die in ihrem Inneren erwachte.
"Dann wirst du weinen." sagte ich in jenem endgültigen Tonfall, den auch meine Mutter
bei diesem Satz verwendet hätte. Ich umarmte die Bäuerin
tröstend.
"Mutti, du hast gesagt, du willst alle Krieger umbringen und jetzt
umarmst du Rundon!" hörte ich hinter mir Jorischs Stimme.
"Weißt du, wenn man traurig ist, sagt man manchmal dumme Dinge,
die man eigentlich nicht so meint." antwortete seine Mutter.
Jorischs Vater musterte uns schweigend und deckte den Tisch. Erst spät am Abend kehrten wir zurück ins Kriegerdorf.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.