Jorisch lag weinend in seinem Bett. Ich kniete mich neben ihm auf den Fußboden und nahm ihn in die Arme. Schweigend hörte ich mir an, wie sein Tag verlaufen war, widersprach auch nicht den Vorwürfen, die er den Erwachsenen machte. Erst als er aufhörte zu reden, begann ich, ihm zu erklären, warum seine erste Kampfübung so und nicht anders verlaufen mußte. Er mußte wissen, daß wir das nicht aus Boshaftigkeit, Gleichgültigkeit oder Lieblosigkeit getan hatten. Die Kriegerausbildung unseres Volkes war nur deshalb die beste Kampfausbildung, weil sie so hart war. Und ein schlechter Krieger ist bald ein toter Krieger. Ich wollte Jorisch nicht verlieren, wie ich meinen Vater verloren hatte.
Als er eingeschlafen war, zog ich die warmen, trockenen Sachen an, die meine Mutter gebracht hatte und legte mir die Wolldecke um. Ich brauchte meinen ganzen Willen, um die ganze Nacht wachzubleiben. Langsam begann ich vor Erschöpfung zu zittern, die Augen wollten mir zufallen. Ich fühlte mich klein und verlassen, hätte am liebsten geweint. Aber ich war entschlossen, dem kleinen Jorisch nicht von der Seite zu weichen.
Es war fast schon Mittag des nächsten Tages, als er erwachte. Er
lächelte voll Freude darüber, mich zu sehen und sagte
verwundert:
"Du bist ja immer noch da."
Ich rang mir mühsam ein Lächeln ab und antwortete:
"Natürlich bin ich das. Ich kann dich nach so einem langen Tag
doch nicht alleinelassen."
"Du siehst müde aus, Rundon. Komm zu mir ins Bett, dann kannst du
schlafen und ich habe dich bei mir." sagte Jorisch.
So totmüde wie ich war, schien mir das ein guter Vorschlag zu sein.
Ich legte mich zu Jorisch ins Bett und schlief sofort ein.
Als ich erwachte, war er nicht mehr da. Ein eisiger Schreck fuhr mir in die
Glieder. Die Regel, daß nach einem so anstrengenden Tag jemand am
Bett Wache halten muß, war nicht zum Spaß eingeführt
worden. Manche Leute kommen am Morgen danach auf merkwürdige Ideen.
Einige wollten sogar Selbstmord begehen. Voller Angst wollte ich
aufspringen, hinausrennen und Jorisch suchen. Da erst bemerkte ich,
daß meine Mutter neben dem Bett saß.
"Wo ist Jorisch?" fragte ich ängstlich.
"Draußen. Er spielt mit den anderen Kindern." antwortete
sie.
Ich atmete auf:
"Dann ist es ja gut."
"Es ist Zeit zum Abendessen. Bist du ausgeschlafen?" fragte meine
Mutter. Ich nickte.
Darauhin fuhr sie ernst fort:
"Nach dem Essen müssen wir uns über deine Wache
unterhalten."
"Was hätte ich tun sollen, als nach der Nachtwache niemand kam, um
mich abzulösen? Ich hätte es doch wirklich nicht geschafft
durchzuhalten, bis Jorisch ausgeschlafen war!" fragte ich meine
Mutter, als ich nach dem Abendessen mit ihr alleine war.
"Überleg mal." sagte sie nur.
"Ich hätte nicht weggehen dürfen, um jemanden zu holen. Er
hätte in der Zwischenzeit aufwachen können. Ich durfte mich
nicht neben ihn legen, um zu schlafen. Ich kann dann nicht aufpassen, ob
er auf dumme Ideen kommt. Sonst wäre ich neben dem Bett
eingeschlafen. Was hätte ich tun sollen? Mir fällt nichts
ein." überlegte ich laut.
"Du suchst zur falschen Zeit." erklärte meine Mutter.
"Danach kann ich keinen Fehler gemacht haben, da habe ich geschlafen.
Und vorher? Während der Wache hätte ich nichts anders machen
können oder dürfen. Hätte ich die Wache ablehnen sollen?
Nein. Jorisch hätte niemand anderen akzeptiert. Ich hätte
jemanden gebraucht der wenn ich eingeschlafen wäre für Jorisch
da gewesen wäre."
Meine Mutter nickte bestätigend.
Sie erzählte mir, daß sie hinter der Tür Wache gehalten
hatte, damit mein Fehler keinen Schaden anrichtet, dann fragte sie:
"Darf ich das am Feuer als Lehrbeispiel für die anderen
bringen?"
Meine Erlaubnis war eine Formalität. Man lehnt eine solche Bitte nicht
ab. Fehler sind da, damit man daraus lernt und wenn sie auf
ungewöhnlichen Überlegungen beruhen, müssen sie vor der
ganzen Gruppe besprochen werden, damit alle daraus lernen können.
Ebenso ist es mit ungewöhnlich guten Gedanken und Strategien.
Meine Mutter erzählte es abends am Versammlungsfeuer. Sie verriet
nicht, ob sie es für gut oder schlecht hielt. Wer auf Anhieb
wußte, was mein Fehler war, schwieg ebenfalls. Für ihn war
dieses Beipiel nicht gebracht worden. Ich ignorierte die fragenden Blicke
der Gleichaltrigen, die überlegten, weshalb meine Mutter diese
Geschichte erzählte. Schließlich sagte Rikon:
"Irgendwo ist diese Idee genial."
"Ich weiß nicht", sagte ein anderer Junge nachdenklich,
"Wenn nach meiner ersten großen Kampfübung meine Mutter
neben mir geschlafen hätte, glaube ich nicht, daß sie mir ein
großer Trost gewesen wäre."
"Das war verantwortungslos", sagte Schara, eine
vierzehnjährige Frau leise, die ihr Baby auf dem Schoß hielt,
"Als ich nach meiner ersten Kampfübung erwachte, wollte ich so
weit wie möglich wegrennen. Es war Winter. Ich weiß nicht, ob
ich rechtzeitig gefunden worden wäre. Ich hätte erfrieren
können."
Scharas Verletzungen von diesem verhängnisvollen Kampf waren so schwer
gewesen, daß sie an diesem Tag zum ersten mal wieder aufgestanden
war. Ich konnte ihr ansehen, daß sie noch Schmerzen hatte und ihr Arm
war immer noch verbunden. Der Vater des Kindes lebte nicht mehr.
Männer durften und mußten im Kriegervolk größere
Risiken eingehen, da sie keine Kinder zur Welt bringen können.
"Ich war so müde, daß ich nicht mehr darüber
nachgedacht habe." sagte ich.
"So etwas darf nicht passieren. Es geht um das Leben eines Kindes.
Während eines Kampfes vergißt du auch nicht auf deine
Verteidigung zu achten, wenn du müde bist." sagte Rischka.
Sie war mit dreizehn Jahren ebenfalls Mutter. Da sie von der Geburt noch
geschwächt gewesen war, hatte sie sich nicht gezeigt, sondern mit
Pfeil und Bogen aus dem Hinterhalt geschossen, wie Schwangere oder
Zwölfjährige das tun. So war sie unverletzt geblieben. Vor ihrer
Schwangerschaft hatte sie sich nie für kleine Kinder interessiert. Ich
bestätigte ihre Worte mit einem Nicken und sagte dann:
"Noch länger hätte ich nicht wachbleiben können. Ich
hatte vor der Nachtwache einen langen Tag."
"Außerdem stammte der Vorschlag von Jorisch selbst. Das ist etwas
anderes." ergänzte die elfjährige Karim, neben der eines der
Bauernkinder saß, ein Mädchen.
Noch ein Kind, das eine Erwachsenenaufgabe übernommen hatte. Immerhin
war sie ein Jahr älter als ich.
"Das ist wahr. Trotzdem hätte jemand dir bei der Wache helfen
sollen, Rundon. Ich weiß wie lange wir am Tag davor gekämpft
haben. Du mußt vorher schon totmüde gewesen sein." meinte
Schjerra.
"Ich weiß. Ich hätte darauf bestehen sollen." antwortete
ich.
"Deine Mutter hätte das von sich aus machen müssen",
schimpfte Rikon, "Sie hat dir eine Falle gestellt. Sie hätte
wissen müssen, was dabei herauskommt."
Auch die Älteren murmelten zustimmend. Ich war überzeugt,
daß sie mir tatsächlich eine Falle gestellt hatte. Sie hatte
mich bewußt zu einem Fehler verleiten wollen, den ich mir für
den Rest meines Lebens merken sollte, damit ich diesen Fehler nicht mache,
wenn kein älterer da ist, um das Kind vor den Folgen zu bewahren.
"Das stimmt. Ich hielt hinter der Tür von Jorischs Zimmer
Wache." erklärte meine Mutter das, was sie noch nicht verraten
hatte.
"Rundon hätte nicht die Verantwortung für ein Bauernkind
bekommen dürfen, das ist eine Erwachsenenaufgabe! Für Karim gilt
dasselbe. Sie ist erst elf." schimpfte Schara.
Sie tröstete ihr Kind, das bei diesen heftigen Worten angefangen hatte
zu weinen und legte es an die Brust. Schon nach kurzer Zeit fing das Kleine
wieder an zu quengeln, da Schara wegen ihrer Verletzung zu wenig Milch
hatte.
"Gib mir das Kind", sagte die achtzehnjährige Kalada, die
ebenfals ein Baby hatte, "Ich habe noch Milch."
"Laß mich mit deinen dämlichen Hilfsangeboten in
Frieden." fuhr Schara sie wütend an, dann zuckte sie zusammen und
ließ sich wieder zurücksinken.
Tränen des Schmerzes und der Erschöpfung liefen ihre Wangen
hinunter. Ein Zeichen, daß sie am Rande ihrer Kräfte war. Ich
dachte mir, daß sie zu früh aufgestanden war. Vermutlich war sie
zu ungeduldig gewesen, um auf den Rat der Heilerin zu hören. Kalada
wartete wortlos, bis Schara zur Vernunft kam und ihr das Baby reichte. Dann
legte sie es an die Brust. Ihr eigenes Kind wollte ebenfalls trinken, als
es das sah. So hatte sie kurz darauf in beiden Armen je ein Kind, das an
ihrer Brust trank. Schara legte sich hin und lauschte mit geschlossenen
Augen der weiteren Unterhaltung. Ich deckte sie zu. Meine Mutter
erklärte:
"Zu deinem Vorwurf, Schara: Eigentlich hätten wir mindestens
zwanzig zusätzliche Kinder gebraucht. Wir waren schon vor dem letzten
Kampf weniger, als gut ist. Jetzt sind wir so wenige, daß fraglich
ist, ob wir das Bauernvolk auch in Zukunft werden schützen
können. Wir hatten nicht genug junge Erwachsene, also haben wir auch
unter den Kindern nach Kriegern gesucht, die die Fähigkeit hatten,
die Verantwortung für ein Bauernkind zu übernehmen. Wir stellten
fest, daß wir nicht genug Leute hatten, um mehr als zehn Kinder bei
uns aufzunehmen."
"Was passiert, wenn wir zu wenige sind, um das Bauernvolk zu
schützen?" fragte eines der wenigen jüngeren Kinder, die
nach der abendlichen Geschichte noch am Beratungsfeuer geblieben waren.
"Wenn wir zu wenige sind, um das Bauernvolk zu beschützen,
erkennen wir das daran, daß es uns nicht gelingt, die Feinde
aufzuhalten, die den Weg heraufkommen. Dann werden noch viel mehr Krieger
sterben, als beim letzten Kampf. Die Feinde gehen ins Bauerndorf,
erschlagen die Bauern und rauben ihnen, was sie sich in ihrem Leben
erarbeitet haben." erklärte ich.
"Wenn es so schlimm steht, warum habe ich dann nicht die Verantwortung
für ein Bauernkind bekommen?" fragte Rikon.
"Willst du das?" fragte Toris, ein alter weißhaariger Mann.
Er war unser Anführer.
"Nein", sagte Rikon entschieden, "Aber wenn du sagst, daß
es notwendig ist, tue ich es."
"Das weiß ich, Rikon. Es freut mich, daß du meinem
Urteilsvermögen solches Vertrauen schenkst. Aber das ist eine
Aufgabe, die ein Mensch nur dann gut erfüllen kann, wenn er selbst
erkennt, wie wichtig sie ist. Du tust andere Erwachsenenarbeit."
erklärte Toris.
"So wie das Wachehalten in den letzten Tagen?" fragte Rikon.
"Ja." bestätigte Toris.
Einen Augenblick herrschte Stille, weil die Älteren über das
nachdachten, was sie eben gehört hatten.
Plötzlich fragte ein fünfjähriger Junge:
"Schara, wo ist denn deine Schwerthand?"
Schara öffnete ihre Augen und sah ihn gequält an.
Verständlicherweise tat es ihr weh, darüber zu sprechen. Sie
brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu fassen. Doch jede Frage, die am
Feuer gestellt wird, soll ehrlich und ausführlich beantwortet werden.
Schara erzählte den Verlauf des Kampfes, bei dem sie ihre Hand
verloren hatte und schloß mit den Worten:
"Und dann hat mein Gegner mir die Hand abgeschlagen, in der ich mein
Schwert hielt. Wenn Kalada nicht eingegriffen hätte, wäre ich
jetzt tot."
"Aber wie kämpfst du jetzt?" fragte Diron.
"Ich denke, ich nehme das Schwert einfach in die andere Hand.
Außerdem werde ich mir eine neue Kampftechnik erarbeiten, bei der
man mit einer Hand auskommt." antwortete Schara.
Sie hörte sich nicht so an, als glaubte sie, was sie sagte. Ich
bedauerte sie, sah aber keine Möglichkeit, ihr zu helfen.
Danach löste sich die Runde am Versammlungsfeuer nach und nach auf. Es wurde nur noch über nebensächliche Themen gesprochen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.