Inzwischen waren auch drei Erwachsene durch die Wachen herbeigerufen worden, die die jungen Angreifer den Weg hochkommen sehen hatten. Die Kriegerkinder dagegen hatten sich erfolgreich außerhalb des Sichtfeldes der Wachen gehalten. Sie fragten ebenfalls zuerst, ob es Verletzte gegeben hätte.
Als die Kinder verneinten, nahmen sie die Gefangenen in Augenschein. Es
waren sieben Jungen und ein Mädchen. Nur einer von ihnen schien
über zwölf Jahre alt und damit erwachsen zu sein, den
Jüngsten schätzte ich auf vier. Alle waren sie schmutzig und sehr
mager. In ihren Augen lag ein friedloser, starrer Ausdruck. Ich ahnte,
daß sie uns noch fremder waren als die Kinder des Bauernvolkes.
"Große Göttin, das sind ja noch Kinder!" sagte einer
bestürzt.
"Wir nehmen sie mit ins Dorf und entscheiden dort, was wir machen."
entschied Idra, eine ältere Frau.
Die anderen stimmten dem zu, indem sie wortlos die Füße der
Gefesselten befreiten und sie hoch ins Dorf führten. Den
Kriegerkindern befahlen sie streng mitzukommen. Oben wurde das
Versammlungsfeuer entzündet und das Kriegervolk zusammengerufen.
Als alle da waren, ließen die Erwachsenen erzählen, was genau
geschehen war. Ein Junge sagte, daß sie auf dem Weg gespielt
hätten, als die acht fremden Kinder kamen und sie mit Messern
angriffen.
"Aber wir haben sie schnell besiegt und gefesselt, denn sie konnten ja
nicht kämpfen." beendete er seine Erzählung stolz.
Ich sah wie der größte der Fremden sein Fäuste ballte. Also
fragte ich ihn, ob etwas an der Erzählung des Kriegerjungen falsch
sei.
"Wie kann der Bursche sagen, wir könnten nicht kämpfen. Wir
haben doch gekämpft!" beschwerte er sich.
"Ich bezweifle nicht, daß ihr so gut kämpfen gelernt habt,
wie das ohne richtige Ausbildung möglich ist." sagte Schara,
"Doch so viel lernen Kinder bei uns im Spiel, bevor sie als
Fünfjährige mit der Kriegerausbildung beginnen. Sie sind sich
nicht bewußt, daß man das lernen muß. Deshalb
müßt ihr euch nicht wundern, wenn sie das Gefühl haben,
ihr könntet nicht kämpfen. Jeder Krieger und jede Kriegerin
unseres Volkes kann besser kämpfen als die besten Krieger von
außerhalb unseres Dorfes, die wir kennen."
"Was machen wir mit den Gefangenen?" fragte meine Mutter.
"Sie sind Kinder. Wir sollten sie einfach zurück auf den Weg
bringen, den sie gekommen sind." sagte Idra.
"Was wolltet ihr hier?" fragte Karim.
"Nichts." sagte der älteste Junge trotzig.
Alles lachte.
"Aha, außerhalb unseres Landes ist es üblich, andere
anzugreifen, wenn man nichts von ihnen will." sagte einer.
"Ja." antwortete der Junge, in der Meinung, dieser toternst
vorgebrachte Satz wäre auch ernst gemeint.
Wieder lachte die ganze Runde. Es war bekannt, daß Menschen von
Außerhalb ziemlich verrückt waren, aber so sehr nun auch wieder
nicht.
"Erstaunlich, daß es da draußen noch lebende Menschen
gibt." kommentierte ich.
Karim fragte schmunzelnd:
"Also im Ernst, weshalb seid ihr gekommen?"
"Wir hatten gehört, daß das Dorf unten im Tal unglaublich
reich sein soll. Da hätten wir uns etwas nehmen können, ohne
daß jemand es merkt. Wer hätte ahnen können, daß
hinter der Biegung des Weges so viele Kinder spielen." antwortete der
Junge schließlich.
"Stimmt, normalerweise hätte die Wache euch Erwachsene
entgegengeschickt, die schauen, was ihr von uns wollt", stimmte ich
zu, "Die Kinder sind den Erwachsenen zuvorgekommen. Ihr hattet so oder
so keine Chance."
Wir sahen uns an. Jeder überlegte. Solange ich mich erinnern konnte,
war es noch keinem Fremden gelungen, unbemerkt in das Kriegerdorf,
geschweige denn ins Bauerndorf einzudringen. Deshalb meinte Idra:
"Wir sollten ihnen die Wahl lassen. Entweder verlassen sie auf dem Weg,
den sie gekommen sind, das Dorf, oder sie schließen sich uns an.
Doch wenn ihr wieder einen Angriff startet, statt um das zu bitten, was
ihr wollt, werden wir nicht mehr freundlich sein. Wenn ihr bei uns bleibt,
erhaltet ihr dieselbe Ausbildung wie unsere eigenen Kinder."
Die anderen nickten zustimmend.
"Es ist Zeit zum Abendessen." mischte sich meine Mutter ein und
brachte frisch gebackene Brote ans Feuer.
"Macht den Kindern die Hände frei, damit sie essen
können." sagte sie.
Als wir das taten, sahen die fremden Kinder sehr erstaunt und verwirrt aus.
Sie rührten sich nicht. Ich fragte, ob sie keinen Hunger
hätten.
"Doch!" meinte der kleinste der Jungen.
"Dann nimm dir doch etwas." sagte ich.
"Darf ich so viel nehmen, wie ich will?" fragte er, als wäre
ihm so etwas noch nie passiert.
Ich wollte "Ja" sagen, doch meine Mutter war schneller. Sie
erklärte:
"Iß langsam und wenig. Stattdessen darfst du dir etwas für
morgen einstecken. Wer lange nichts gegessen hat, kann sterben, wenn er
zu viel auf einmal ißt."
"Das wußte ich nicht." sagte ich.
"Ich weiß", antwortete meine Mutter, "Du warst sehr
klein, als draußen Hungersnot war. Es hatte eine Mißernte beim
Reis gegeben. Wir hatten genug zu essen, weil unsre Bauern mehr
Gemüse angebaut haben als die Menschen draußen. Außerdem
haben wir mehr gejagt in dem Jahr, um die vielen Gäste satt zu
kriegen."
Nachdem wir uns sattgegessen hatten, fragte meine Mutter die fremden
Kinder, ob sie gehen oder bleiben wollten.
"Wir möchten uns alleine unterhalten, bevor wir eine Entscheidung
treffen." sagte der älteste Junge.
"Dann tut das draußen." sagte meine Mutter.
Als die fremden Kinder den Raum verließen, schickte meine Mutter
Rikon und Schjerra hinterher, damit sie beobachteten, ob sie sich
tatsächlich nur unterhielten. Wir warteten schweigend, bis die fremden
Kinder zurückkehrten.
"Wir wollen hierbleiben, wenn wir als Familie zusammenbleiben
dürfen." sagte der Älteste von ihnen.
Das hatte eine Diskussion zur Folge, bei der es darum ging, daß
keiner der älteren Erwachsenen zu den Kindern, für die er jetzt
die Verantwortung hatte, noch acht weitere Kinder versorgen wollte oder
konnte. Die fremden Kinder hörten mit wachsendem Ärger zu.
Schließlich unterbrach Schara die Diskussion scharf mit den
Worten:
"Die Forderung der fremden Kinder ist berechtigt. Sie bleiben zusammen.
Wir trennen auch keine Geschwister, wenn die Eltern gestorben
sind."
"Wie soll das funktionieren?" fragte meine Mutter.
"Wie heißt Du?" fragte Schara den ältesten der fremden
Kinder.
"Hodan." antwortete er.
"Hodan ist fähig die Verantwortung für eine Gruppe von
Kindern zu übernehmen. Sonst hätte er sie nicht
hierherführen können. Ich werde, die Stelle des zweiten
Elternteils einnehmen und ihnen jede Frage beantworten, die sie zu unserem
Volk haben. Die älteren Erwachsenen haben die Verantwortung für
so viele Kindern, wie sie ausbilden können. Also übernehmen je
zwei der jungen Erwachsenen die Kampfausbildung eines der fremden Kinder.
Ich werde Hodan ausbilden. Rundon, hilfst du mir dabei?" fragte
Schara.
Ich nickte.
Dann erkundigte Schara sich:
"Hodan erscheint dir das sinnvoll, oder sollte etwas anders gemacht
werden?"
Hodan sah verwirrt und erstaunt aus. Da er nichts sagte, wollte einer der
Erwachsenen das Wort ergreifen. Ich sah ihn scharf an und schüttelte
kurz den Kopf.
"Laß Hodan Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Er ist uns fremder als
die Bauernkinder." sagte ich leise.
Der Ältere sah es ein und schwieg. Hodan schien sich zu wundern. Ich
fragte mich worüber.
"Ich bin einverstanden. Wo können wir schlafen?" sagte
Hodan.
"Im Dorf steht ein Haus frei. Schara wird es euch zeigen. Das wird ab
jetzt eures sein." erklärte meine Mutter.
"Wir wollen es uns ansehen." sagte Hodan.
Ich merkte, daß ihm der Gedanke, ein eigenes Haus zu haben, sehr
gefiel. So als wäre das etwas Außergewöhnliches.
*Die Welt draußen muß seltsamer sein, als ich gedacht habe.*
wunderte ich mich.
Schara sorgte dafür, daß die anderen sich um Kleidung, Waffen
und Vorräte für ihre neue Familie kümmerten. Dann ließ
sie sich ihr Kind von der jungen Frau wiedergeben, die ihm die Brust
gegeben hatte. Sie forderte mich mit einem Nicken auf, mitzukommen,
während sie den Kindern von Außerhalb das Haus zeigte. Jorisch
folgte mir wie ein Schatten. Als die Kinder das Haus betraten, staunten
sie.
"Wie das Haus eines Adeligen!" riefen sie, als sie sahen, daß
es für jedes der Kinder ein eigenes Zimmer hatte. Die
Kampfübungshalle und die Wohnstube erschienen ihnen so groß,
wie ein ganzes Haus. Ich fragte mich verwirrt, ob die Häuser von
Außerhalb wirklich so klein waren. Staunend fragte Hodan:
"Gehört das Haus wirklich uns?"
"Selbstverständlich", antwortete Schara und erklärte,
"wenn wir eine Familie des Kriegervolkes sein sollen, brauchen wir ein
Haus in dem wir zusammen leben und kämpfen lernen
können."
"Du gehörst nicht zu uns." sagte das Mädchen wie aus der
Pistole geschossen und sah Schara feindselig an.
Ich begann den Kamin einzuheizen. Schara sah verwirrt und verletzt aus. Sie
mußte einige Zeit überlegen, ehe ihr eine sinnvolle Antwort
einfiel:
"Unten im Bauerndorf bleiben die Kinder, bis sie erwachsen sind, bei
ihren Eltern. Das nennt man dort Familie. Bei uns Kriegern fallen viele
Männer und Frauen im Kampf, bevor ihre Kinder erwachsen sind. Kinder
brauchen Menschen, die sie lieben, sie versorgen und ihnen beibringen, was
sie als Krieger lernen müssen. Also wird eine Beratung einberufen,
bei der die Familien neu eingeteilt werden, so daß jedes Kind
mindestens zwei Erwachsene hat, die für es verantwortlich sind. Ich
habe den Eindruck, Hodan hat sich nach besten Kräften bemüht,
für die jüngeren eurer Gruppe zu sorgen. Wenn ihr zu uns
gehören wollt, braucht ihr jemanden, der euch die Gesetze des
Kriegervolkes erklärt, damit ihr uns verstehen lernt. Deshalb bin ich
eurer Familie zugeteilt und damit auch meine kleine Tochter. Außerdem
braucht ihr Menschen, die euch in der Kampfkunst unterrichten. Sonst
würdet ihr nicht überleben. Ich bin wegen meiner Verletzung noch
zu geschwächt, um euch zu unterrichten. Ich muß selber erst
lernen, beim Kampf mit einer Hand zurechtzukommen. Ihr kämpft nicht
nur schlechter als wir, sondern vollkommen anders. Um die Kampftechnik
des Kriegervolkes zu verbessern, sollen sich immer zwei der jungen
Erwachsenen um die Kampfausbildung je eines von euch kümmern, und
dabei von euch lernen."
Hodan musterte Schara mit einem erstaunten und nachdenklichen
Gesichtsausdruck, dann fragte er:
"Redet ihr immer so viel?"
Schara war verwirrt.
"Ich habe nur eure Fragen beantwortet. Tut man das Außerhalb
nicht?"
"Doch, aber man redet dabei nicht so lange." erklärte
Hodan.
"Was hätte denn eine Frau von Außerhalb geantwortet, wenn
euer Mädchen gesagt hätte 'du gehörst nicht zur Familie'
Wie heißt du eigentlich?" fragte ich, weil ich mir keine
kürzere, gute Antwort darauf vorstellen konnte.
"Sonne heiße ich. Sie hätte bestimmt gesagt
'Red nicht so einen Blödsinn, selbstverständlich gehöre ich zur Familie.'" antwortete das
Mädchen.
"Das ist keine gute Antwort." sagte Schara.
Ich nickte. Sonne sah mich sehr erstaunt an. Ich fragte sie:
"Fändest du eine solche Antwort denn gut?"
"Nein."
"Warum gucktst du dann so erstaunt?"
"Geben Leute aus eurem Dorf immer gute Antworten?" fragte sie.
Ich hatte das Gefühl, daß ich ihre Frage nicht richtig verstand
und antwortete zögernd:
"Ich glaube nicht, daß es einen Mensch gibt, der immer gute
Antworten gibt. Aber man bemüht sich doch darum."
Da das Feuer inzwischen richtig brannte, hängte ich einen Topf in die Flammen. Als schließlich einige der jungen Erwachsenen mit Nahrungsmitteln, Waffen und Kleidung eintrudelten, redeten die Kinder von außerhalb nur das nötigste mit ihnen. Kleine Gesten verrieten mir, daß die fremden Kinder lieber allein sein wollten, deshalb schickte ich die anderen mit ihren neugierigen Fragen so schnell wie möglich wieder hinaus. Mir fiel auf, daß die Kinder so ungeschickt waren, als hätten sie noch nie beim Kochen geholfen. Ich wunderte mich, stellte aber keine Fragen mehr.
Abends am Versammlungsfeuer wurde der Fehler, den die Kinder gemacht
hatten, indem sie auf dem Weg nach Außerhalb spielten,
durchgesprochen. Dann wollten die Erwachsenen zu einem anderen Thema
übergehen. Ich ergriff das Wort:
"Ihr Erwachsenen habt einen Fehler gemacht, ohne den das nie passiert
wäre."
Alle starrten mich wie vom Donner gerührt an.
Ich wartete. Nach minutenlangem Schweigen fragte meine Mutter:
"Wie kommst du darauf?"
"Denk nach." antwortete ich, wie meine Mutter es immer tat, wenn
ich solche Fragen stellte.
Sie verzog ärgerlich den Mund. Ich lachte.
"Warum lachst du?" fragte meine Mutter wütend.
"Ich habe dich noch nie so ein Gesicht ziehen sehen." antwortete
ich.
Jetzt lachten alle.
"Ich habe schon sehr lange nicht mehr die Worte 'Denk nach' zu
hören bekommen." meinte meine Mutter lächelnd.
Immerhin kamen die Erwachsenen nach einigem Überlegen auf ihren Fehler und einigten sich, daß ab jetzt immer ein älteres verantwortungsvolles Kind oder ein junger Erwachsener zum Mitspielen eingeteilt werden sollte. Karim saß, während die Älteren diskutierten, in der Ecke und gab mir durch ein Grinsen zu verstehen, daß sie wußte, worauf ich hinaus wollte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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