Sie lief sofort, zutiefst beunruhigt zu den Kindern von Außerhalb.
Ich und Jorisch folgten ihr. Die Kinder waren dabei, ihre alten Lumpen
anzuziehen.
"Was macht ihr denn?" fragte meine Mutter.
"Wir gehen." antwortete Hodan.
Sein Gesicht war finster und verschlossen.
"Eine solche Entscheidung sollte man nicht von einem Augenblick auf den
anderen treffen. Außerdem könnt ihr die Sachen behalten, die
wir euch gegeben haben. Sie sind ein Geschenk."
Die Kinder von Außerhalb sahen verwirrt aus. Was hatten sie
erwartet?
"Ihr solltet zumindest bis zur Versammlung bleiben und uns verraten,
warum ihr gehen wollt. Haben wir etwas falsch gemacht?" fragte ich.
Das schien ihre Verwirrung noch zu vergrößern.
"Hast du nicht verstanden? Solche Kampfübungen sind grausam. Das
machen wir nicht mit!" sagte Hodan scharf und ablehnend.
"Ich finde, wenn ihr etwas gegen unsere Ausbildungsmethoden habt, haben
wir ein Recht zu erfahren warum. Außerdem solltet ihr kein Urteil
fällen, bevor ihr gefragt habt, weshalb wir so ausbilden."
entgegnete meine Mutter im scharfen Ton.
"Ach und warum macht ihr dann so etwas?" fragte Hodan.
"Kommt heute ans Versammlungsfeuer und bringt den Willen mit, alles
auszusprechen, das euch an uns stört. Ihr habt uns auch noch andere
Dinge verschwiegen, über die ihr euch geärgert habt." fuhr
meine Mutter wütend fort.
"Warum sollten wir?" fragte Hodan ablehnend.
"Ihr habt uns nie eine Chance gegeben dazuzulernen, weil ihr uns nicht
verraten habt, was wir falsch gemacht haben. Erwartet ihr von uns,
daß wir eure Gedanken lesen?"
Ich habe meine Mutter selten so zornig erlebt.
"Es ist offensichtlich, was uns stören muß."
"Das ist vielleicht für jeden offensichtlich, der von
Außerhalb kommt. Hier ist eine andere Welt. Woher soll ich wissen,
was euch ärgert? Schon bei Bauernkindern fällt mir das schwer.
Und mit dem Bauernvolk leben wir Krieger Seite an Seite. Die Menschen von
Außerhalb kennen wir nicht einmal! Nur ihr acht seit über die
Grenze unserer kleinen Welt gekommen und erwartet wie
selbstverständlich von mir, daß ich eure Gedanken errate. Das
kann ich nicht! Wo sollte ich das gelernt haben?" fuhr meine Mutter
leidenschaftlich fort.
Irgendetwas an ihren Worten schien Hodans kalte Ablehnung durchbrochen zu
haben, jedenfalls sagte er nach einer Weile des verdrossenen Schweigens:
"Gut. Ich komme heute abend. Aber macht euch auf einiges
gefaßt."
"Gut." sagten meine Mutter und ich fast gleichzeitig.
In diesem Augenblick kam Schara herein und fragte, was los sei. Niemand
antwortete. Schara sah von einem zum anderen und wiederholte die Frage
verunsichert.
"Komm heute abend zum Versammlungsfeuer. Da reden wir
darüber." antwortete Hodan.
Schara sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. Ihr Baby
fing an zu schreien. Sie drückte es an sich und fragte Hodan leise, ob
er wirklich nicht bereit sei, mit ihr zu reden. Hodan schien nachdenklich
zu werden und schickte uns hinaus. Wir gehorchten, weil alles andere noch
mehr Chaos hervorgerufen hätte.
Als das Dorf am Abend um das Feuer versammelt war, trug Hodan eine derart
lange Liste an Beschwerden vor, daß ich nur staunen konnte. Er redete
mehrere Stunden und ließ sich nicht unterbrechen, um die einzelnen
Punkte durchsprechen zu können. Also warteten wir, bis er fertig war
und baten ihn, noch einmal mit dem ersten Punkt zu beginnen.
Schließlich mußten wir eine Lösung finden, damit es in
Zukunft nicht wieder zu denselben Problemen kam.
"Habt ihr mir denn nicht zugehört?" fragte Hodan
empört.
"Selbstverständlich haben wir zugehört", antwortete meine
Mutter beschwichtigend, "Aber ich muß zugeben, daß ich
nicht verstanden habe, warum du dich über all das ärgerst. Wir
haben getan, was wir für richtig und freundlich hielten. Kannst du es
uns erklären, wir gemeinsam überlegen können, wie wir es in
Zukunft besser machen. Also, was war noch einmal das erste?"
"Ihr redet nicht mit uns." beschwerte er sich.
"Wie kommst du denn darauf? Natürlich reden wir mit euch!"
rief ich.
Hodan bestand auf seiner Beschwerde, und es dauerte, bis wir ihn so weit
hatten, daß er uns an einem Beispiel erklärte, was er meinte.
Hodan erzählte eine kleine, alltägliche Begebenheit, wo Schjerra
sich genau so verhalten hatte, wie wir es für höflich, normal und
richtig hielten. Es ging ums Wasserholen. Einer der Jungen von
Außerhalb war an der Quelle und wusch dort einen Topf aus. Schjerra
kam mit einer Flasche. Sie überblickte kurz die Situation und kam zu
dem Ergebnis, daß sie Wasser holen konnte, ohne dabei den Jungen in
seiner Arbeit zu behindern. Also füllte sie wortlos ihre Flasche auf
und ging. Nach einigem Hin und Her bekamen wir heraus, daß Hodan der
Meinung war, Schjerra hätte den Jungen um Erlaubnis fragen
müssen, da er zuerst dagewesen sei. Irgendjemand meinte erstaunt,
daß das doch vollkommen unnötige Worte seien. Eine Weile ging
die Diskussion fruchtlos hin und her, bis Jorisch sagte:
"In den ersten Tagen hier oben im Kriegerdorf habe ich gedacht: Ihr
mögt mich alle nicht und redet deshalb nicht mit mir. Jetzt
weiß ich, daß ihr nur redet, wenn es notwendig ist, damit
jeder weiß, was er zu tun hat und warum."
Wir dachten eine Weile schweigend über seine Worte nach, dann sagte
ich:
"Hodan, es ist nicht gut, wenn wir reden, wenn man etwas auch ohne
Worte klären kann. Um beim Wasserholen zu bleiben: Hätte
Schjerra gefragt, ob sie Wasser schöpfen darf, hätten Frage und
Antwort etwas Zeit gekostet. Dann hättest auch du etwas später
ans Wasser gekonnt. In diesem Beispiel ist das natürlich nicht
wichtig. Es ist nur ein Augenblick. Aber wir sind keine Wasserholer
sondern Krieger. Wenn wir in der Schlacht reden, statt zu tun, was
notwendig ist, kann dieser Augenblick Leben kosten oder den Unterschied
zwischen Sieg und Niederlage bedeuten. Deshalb reden wir nicht,
während wir handeln, sondern klären während der abendlichen
Versammlungen, wer wann was tun muß."
Dem Blick nach zu urteilen, den Hodan mir zuwarf, fand er diese
Begründung sehr merkwürdig. Aber er ging zum nächsten Punkt
über. Wir redeten stundenlang. Die Kinder von Außerhalb hatten
sich über viele Kleinigkeiten oder Mißverständnisse
geärgert, die mit wenigen Worten geklärt und aus dem Weg
geräumt waren. Doch wir hatten auch schwerwiegende Fehler gemacht.
Kriegerkinder hatten die Kinder von Außerhalb geärgert, weil sie
sie nicht verstanden und keiner der Erwachsenen hatte das unterbunden. Wenn
man bedenkt, wieviel Arbeit ich in dieser Woche hatte, ist nicht
verwunderlich, daß ich davon nichts gesehen oder gehört hatte.
Aber das macht es nicht besser. Ich machte den Vorschlag, daß wir in
der nächsten Zeit zu Beginn jeder Abendversammlung zuerst die Kinder
von Außerhalb fragen sollten, ob es Probleme gegeben hätte. Das
sei wichtig, damit sich nicht wieder so viel Groll ansammeln könne.
Die Kinder von außerhalb setzten Fett und Muskeln an und schienen sich einzugewöhnen. Es kam wie aus heiterem Himmel, daß Hodan einige Wochen später am Versammlungsfeuer sagte, daß er mit sechs der acht Kinder von Außerhalb unser Dorf verlassen wolle. Doch sie hatten es sich gut überlegt und waren nicht zum Bleiben zu überreden. Wir gaben ihnen Vorräte für eine Woche mit. Nur das Mädchen und der kleine Horisch blieben bei uns.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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