Eines Tages lag ich wieder in der Sonne und dachte mir Geschichten aus. Ich
war so darein vertieft, daß mir selbst die lauten Bauern erst
auffielen, als ich schon von ihnen umgeben war. Ich blieb unbeweglich
liegen und hoffte, daß sie an mir vorbeigehen würden, ohne mich
zu bemerken. Ein Junge in meinem Alter kam direkt auf mich zu und wollte den
Fuß genau dahin setzten, wo ich lag. Ich werde wohl nie seinen
erstaunten Gesichtsausdruck vergessen, als er mich sah. Ich rollte mich in
den Stand und schoß direkt an der Stelle vorbei, wo er eben gestanden
hatte. Dabei rammte ich ihn. Ich hörte hinter mir einen Schrei.
Erschrocken kehrte ich zurück, um zu sehen, was passiert war. Der Junge
saß wimmernd am Boden und hielt sich seinen Arm. Ein alter Mann
schickte ein Mädchen los, damit es die Heilerin holte, dann drehte er
sich zu mir um und sagte voll Zorn:
"Geh nach Hause, wir wollen Dich nicht hier sehen."
Ich war so erschüttert über die Ablehnung hinter den Worten,
daß ich ihn einen Augenblick nur fassungslos ansah. Dann trottete ich
mit hängendem Kopf nach Hause.
Schweigend hörte sich meine Mutter die Geschichte an. Sie fragte nach
einigen Einzelheiten und sagte dann bekümmert:
"Rundon, was du erzählst, ist schlimm. Wir werden dich bestrafen
müssen. Warte in deinem Zimmer."
Ich sah sie mit großen Augen an, nickte und ging. Eine Strafe. Ich
konnte mich nicht erinnern, jemals bestraft worden zu sein. Die einzige
Bestrafung, von der ich gehört hatte, war als Jahre bevor ich geboren
wurde, eine Kriegerin einen der unseren erschlagen hatte. Sie war aus dem
Dorf verbannt worden. Der Frieden des Bauernvolkes war heilig. Ich konnte
mir nichts schlimmeres vorstellen, als das Dorf verlassen zu müssen.
Ich weinte.
Bei der abendlichen Versammlung mußte ich den Hergang meiner Tat
schildern. Toris, der Anführer ergänzte, daß ein Bauer zu
ihm gekommen sei, und erzählt hätte, daß der Arm des Jungen
gebrochen sei und die Bauern eine Bestrafung forderten.
"Wird Rundon verbannt?" fragte Jorisch ängstlich.
"Nein", antwortete der Anführer, "Die Bauern werden es
verlangen, aber es wäre zu hart."
"Was werdet ihr mit mir tun?" fragte ich.
"Das entscheiden wir in drei Tagen, wenn wir uns mit den Bauern
treffen, um die Strafe durchzuführen. Du bleibst so lange in deinem
Zimmer." antwortete der Anführer.
Ich nickte bedrückt und ging.
Drei Tage sind eine endlos lange Zeit, wenn man nichts zu tun hat und mit niemanden reden kann. Die Tür hatte kein Schloß, doch weder ich noch jemand anders kam auf die Idee, daß ich einfach hätte gehen können. Wenn meine Mutter mit dem Essen kam, ließ ich es stehen. Am zweiten Tag tadelte sie mich deswegen. Sie meinte, daß ich meine Kräfte beieinander halten solle, weil ich noch gebraucht würde. Danach versuchte ich zu essen, bekam aber nichts herunter.
Am nächsten Tag kam der Anführer herein.
"Rundon." sagte er leise und ich spürte die Sorge und Liebe
hinter diesem Wort.
Ich warf mich in seine ausgestreckten Arme und brach in Tränen aus.
Lange wiegte er mich nur, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann fragte
er:
"Weißt du, warum wir dich bestrafen müssen?"
Ich spürte daß er einen seltsamen Grund nennen würde und
sah ihn fragend an.
"Rundon, wir sind Krieger. Der Sinn unseres Lebens ist, den Frieden der
Bauern zu schützen. Wir geben dafür unser Leben, wenn
nötig. So wie dein Vater für diesen Frieden gestorben ist. Die
Bauern werden älter als wir. Viele haben graue oder weiße
Haare. Hier bin ich der einzige, der so alt ist. Viel zu oft kommen
Menschen, denen wir nie etwas getan haben und greifen uns an. Wir sind das
gefährlichste Heer, das uns bekannt ist. Wenn wir zu Tyrannen werden,
verliert alles seine Bedeutung, was wir tun, um die Bauern zu verteidigen.
Ja es wäre besser, es gäbe uns nicht. Ein Leben ohne Sinn, ist
nicht wert, gelebt zu werden. Der Arm wird heilen, doch du hast ihnen
Angst eingejagt, indem du einen der ihren verletzt hast. Wir müssen
zeigen, daß wir so etwas nie zu dulden bereit sind. Das müssen
auch unsere jungen Menschen sehen. Es war nicht deine Absicht, den Jungen
zu verletzen. Aber du bist ein Krieger, nicht wahr. Du wirst tun, was
nötig ist, um den inneren Frieden des Bauernvolkes zu schützen.
Du wirst diese Strafe auf dich nehmen."
Ich nickte nachdenklich. In dieser Nacht schlief ich das erste mal seit
diesem Unfall wieder tief und ohne Alpträume. Meine Mutter war
erleichtert zu sehen, daß ich am nächsten Morgen mit Appetit
frühstückte.
Als ich mich für die Versammlung anzog, sagte meine Mutter, daß ich keine Jacke anziehen sollte, sie sei ein Geschenk des Bauernvolkes. Ich nickte und gehorchte. Das war ein symbolischer Akt. Die Hose war ebenfalls von Bauern gemacht wie jedes Kleidungsstück im Kriegerdorf, aber ich konnte nicht nackt gehen. Auf dem Weg zum Versammlungsplatz warfen mir die anderen fragende und neugierige Blicke zu, doch niemand sprach mich an. Es tröstete mich, daß meine Mutter mir den Arm um die Schulter gelegt hatte. Sie befahl mir, am Rand des Platzes zu warten, bis ich gerufen würde. Also saß ich frierend dort draußem im Dunklen, sah zu, wie die Anderen aßen und Süßigkeiten knabberten, die die Bauern mitgebracht hatten und lauschte schweigend der Beratung. Es ging nur um mich. Die Bauern schilderten den Hergang meiner Tat. Die Heilerin sagte, daß der Arm des Jungen, Koresch hieß er, gebrochen sei.
"Wo ist der Kerl überhaupt?" fragte ein Bauer.
Meine Mutter rief mich. Ich stand auf, ging in die Mitte des Kreises und
sah den Frager an. Mir war so kalt, daß ich ein Zittern nicht
unterdrücken konnte. Zornig sprang der Mann auf und gab mir eine
Ohrfeige. Ich blieb unbeweglich stehen und sah ihn ruhig an. Es hätte
ja sein können, daß es von seinem eigenen Schwung ins Feuer
fällt, wenn ich ausweiche.
"Holdin, schäm dich. Strafen werden von der Versammlung
beschlossen." sagte meine Mutter kalt.
Der Mann senkte den Kopf.
"Rundon, hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?" fragte der
Anführer.
"Ich wollte dem Jungen nichts tun. Ich hätte nie gedacht,
daß er mir in den Weg stolpern oder sich einen Arm brechen
würde, wenn ihm das passiert." sagte ich.
Es gelang mir, meine Stimme ruhig zu halten.
"Das tut nichts zur Sache. Du hättest wissen müssen,
daß du die Bauern nicht richtig einschätzen kannst."
widersprach einer der Krieger scharf.
Ich nickte. Für die Krieger war der Einwand nicht gedacht gewesen. Ich
wollte, daß die Bauern darüber nachdachten.
"Er sagt die Wahrheit", mischte sich Koresch mit dem gebrochenen
Arm ein, "er wollte wegrennen doch als er gemerkt hat, was geschehen
ist, ist er sofort zurückgekehrt."
Wie vorausgesehen, forderten die Bauern, daß ich verstoßen
werden sollte. Unser Anführer redete mit ihnen, bis sie einsahen,
daß das übertrieben war. Nur wer einen der unseren tötet,
wird verbannt. Sie einigten sich schließlich, daß ich
geschlagen werden sollte, wie man das nur mit Tieren macht.
"Rundon, findest du diese Strafe gerechtfertigt?"
"Ich kann mich nicht beklagen." antwortete ich tonlos.
Der Anführer stand auf. Wortlos ließ ich zu, daß er mich
fesselte und zu einem Baum führte. Er sah sehr traurig aus. Doch es war
seine Pflicht, die Strafe auszuführen und er würde sich nicht
davor drücken. Er warf den Riemen aus ungegerbten Leder über
einen Ast und zog mich hoch.
Im Kampf merkt man oft erst nachher, wieviel man abbekommen hat und ist dann so müde, daß man schnell einschläft. Doch als ich da hing, gab es nichts, was mich von den schmerzenden Hieben ablenkte. Ich schloß die Augen und versuchte, es so gut wie möglich auszuhalten. Erst nachher wurde mir bewußt, daß mein ganzes Gesicht naß von Tränen war. Sie ließen mich hängen, bis alle Bauern und die Krieger außer dem Anführer und meiner Mutter gegangen waren.
Als der Anführer mich losschnitt gaben meine
Beine unter mir nach, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Es war
ein erschreckendes Gefühl.
"Du hast ihn umgebracht!" warf ihm meine Mutter vor und ich
spürte die Angst, die hinter diesen Worten lag.
"Aber nein. Das würde ich nie riskieren." widersprach der
Anführer lächelnd.
Dann kniete er nieder, befreite meine Hände von den letzten Resten der
Fesseln und sagte leise:
"Rundon, versuch aufzustehen. Du bist ausgekühlt und solltest
selber nach Hause gehen, um wieder warm zu werden."
Erst beim dritten Anlauf, kam ich auf die Beine. Dann zog ich meine Jacke
an und ging mit ihnen nach Hause. Ich fiel unterwegs mehrmals hin.
Obwohl ich mich erschöpft und ausgelaugt fühlte, hinderten mich die schmerzenden Striemen lange Zeit am Schlafen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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