Plötzlich gaben meine Beine unter mir nach und rissen mich aus dieser
Harmonie. Scharas Schwert folgte meinem Sturz und schlug mich mit der
flachen Klinge, dann erst registrierte sie, daß ich mich nicht wieder
auf die Beine rollte. Verwirrt und desorientiert, blieb sie mit erhobener
Waffe über mir stehen. Ich sah sie ruhig und gedankenverloren an.
Karim der Kampfwächter kam heran und fragte voll Angst:
"Rundon, was ist? Warum stehst du nicht wieder auf?"
Ich versuchte den Arm zu heben, doch nichts geschah. Nur wer das selbst
einmal erlebt hat, kann ermessen, was es für ein Gefühl ist, wenn
der eigene Körper nicht auf die Bewegungen reagiert, die man
auszuführen glaubt. Ich spürte Scharas Angst um mich, die ganz im
Gegensatz zu ihrer ruhigen Stimme stand, als sie befahl:
"Karim, hol den Anführer und die Heilerin. Damit kommen wir nicht
alleine zurecht."
Sie kniete neben mir nieder, fühlte kurz meinen Puls. Er muß
wohl in Ordnung gewesen sein. Dann nahm sie einige warme Decken aus einer
Ecke des Zimmers und deckte mich sorgfältig zu. Ich hatte keine Angst,
sondern beobachtete ihre Schritte nur mit einer seltsamen, teilnahmslosen
Ruhe, als hätte das nichts mit mir zu tun.
Nach einiger Zeit kam Toris, der Anführer herein und kniete neben mir
nieder.
"Er hat den Kontakt zu seinem Körper verloren." sagte er,
schloß die Augen und legte seine Hände konzentriert auf
verschiedene Stellen meines Körpers.
Ich sah warmes, heilendes Licht von ihn zu mir strömen und begann mich
langsam wieder mehr wie ich selbst zu fühlen. Ich registrierte, wie
die Heilerin hereinkam und schweigend wieder ging.
Nach einer Weile trat Toris zurück und sagte Schara:
"Du hast gesehen, was ich gemacht habe?"
Schara nickte ernst.
"Dann komm her. Schließ deine Augen und halte deine Hände
über seinen Körper. Konzentrier dich wie im Kampf. Ja, so.
Fühl dich in Rundon hinein und versuch zu erspüren, wo du deine
Hände hinhalten mußt."
Schara kniete neben mir nieder und führte konzentriert seine mit
halblauter Stimme gegebenen Anweisungen aus.
"Was spürst du?" fragte Toris.
Als sie anwortete, klang Scharas Stimme ruhig und irgendwie realer als der
Raum, in dem sie sich befand.
"Meine Hände kribbeln... Sie werden an eine Stelle über dem
Bauch gezogen. Meine ganze Kraft fließt zu Rundon."
Toris redete wieder:
"Dann geh mit deinen Händen dorthin. Keine Angst, es bleibt genug
Kraft für dich. Laß die Energie(VA180. Definition Eso) fließen. Jetzt stell dir
eine Verbindung vor, die tief in die Erde reicht. Kannst du sie
fühlen?"
"Ja."
"Bitte um Kraft."
"Ja. Ich spüre sie durch mich hindurchfließen. Es fühlt
sich richtig an." sagte Schara und arbeitete dann lange mit
geschlossenene Augen weiter.
Sie begann zu lächeln. Ich fühlte mich langsam wärmer,
behaglicher. Mein Bedürfnis nach Energie ließ nach, der
Fluß kam ins Stocken, versiegte. Schara öffnete die Augen und
sagte leise:
"Ich glaube ich bin fertig."
"Gut. Dann steh auf, Rundon." befahl Toris.
Ich reagierte nicht.
"Gib ihm eine Ohrfeige, Schara." befahl der Anführer.
Schara sah ihn erstaunt und fragend an.
"Es hilft ihm, wieder mit seinem Körper in Kontakt zu kommen."
erklärte Toris.
Schara gab mir eine leichte Ohrfeige, wunderte sich, daß ich nicht
zusammenzuckte und schlug dann mehrfach zu, so fest sie konnte. Erst die
drittte oder vierte Ohrfeige nahm ich als ein leichtes Brennen wahr. Ich
versuchte den Kopf zur Seite zu drehen, damit mich ihre Schläge nicht
mehr treffen konnten, doch er gehorchte mir erst mit eingen Sekunden
Verzögerung.
"Steh endlich auf, Rundon." sagte Schara eindringlich.
Langsam bekam sie echte Angst um mich. Ich bekam ein Nicken zustande. Ich
brauchte meinen ganzen Willen und meine ganze Konzentration, um meine Beine
dazu zu bewegen, daß sie mich hochstemmten. Immer wieder geschah es,
daß sie die Bewegungen, die ich zu machen glaubte, einfach nicht
mitmachten, sondern blieben, wo sie waren. Ich hatte das Gefühl, ich
würde schwanken, wie eine Weide im Sturm, als ich schließlich
stand. Die beiden anderen redeten ständig auf mich ein und zwangen
mich, auf und ab zu gehen, bis die Heilerin mit einer Schale heißer
Suppe zurückkehrte.
Zuerst wollte ich lachen, als ich sah, wie sie die Temperatur mit dem Finger prüfte. Dann wurde mir klar, daß ich es wahrscheinlich nicht gemerkt hätte, wenn es kochendes Wasser gewesen wäre. Zuerst fühlte ich nichts in meinem Mund. Ganz allmählich begann ich zu spüren, daß da etwas geschah. Ich bemerkte, daß ich automatisch kaute und schluckte. Ich fühlte Brocken und Flüssigkeit. Ich begann zu schmecken. Zuerst war mir das einfach lästig. In dem abwesenden Zustand vorher hatte es keine Angst, kein Zittern, keine schmerzenden Knochen, keine Erschöpfung gegeben. Alles erschien mir hart, unangenehm und lästig. Ganz allmählich kehrte ich zurück zu meinen normalen Empfinden für Realität. In dem Maße, wie ich das tat, erwachte ein panisches Entsetzen über die Fremdartigkeit der durchgemachten Erfahrung in mir. Ich konnte es nicht ertragen, in einen dunklen Winkel zu schauen, konzentrierte mich auf die Rauhigkeit der Decke, die Schmerzen und alles Unangenehme. Einfach, weil diese Dinge ganz enschieden nicht zu diesem unwirklichen Zustand gehörten, in den ich geraten war.
In den nächsten Tagen hatte ich vor jeder der kurzen Kampfübungen
Angst, weil ich fürchtete, ich könnte wieder in diesen
fremdartigen Zustand geraten. Schließlich wendete ich mich eines
Abends an unseren Anführer Toris:
"Toris, ich habe Angst. Ich hätte doch vor einigen Tagen in diesem
Kampf sterben können, oder?"
"Das stimmt. Es hätte nicht viel gefehlt. Das, was du gemacht
hast, nennt man Kampfdenken. Du kannst in diesem Zustand doppelt so
schnell reagieren wie normal und kämpfen, bis du vor Erschöpfung
tot umfällst. In einer Übung ist das gefährlich. In einem
Kampf kann es dir das Leben retten, daß du ausdauernder bist als
deine Gegner." antwortete Toris.
"Lernt jeder Krieger das?" fragte ich.
"Nein", antwortete Toris, "die meisten Kinder des Kriegerdorfes
werden zu Kriegern, weil wir ihnen keine andere Wahl lassen. Sie haben
eine mittelmäßige oder geringe Begabung zum kämpfen. Ganz
wenige tragen die Gaben in sich, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele
Krieger sein zu können. Dennoch erziehen wir jedes Kind in diesem
Dorf so sehr zum Krieger oder zur Kriegerin, daß sie keine andere
Art zu leben wissen, als hier Wache zu halten. Wir nehmen unseren Kindern
die Freiheit, ihre Fähigkeiten verwirklichen zu dürfen."
erklärte Toris seltsam hart.
"Aber wir sind doch glücklich dabei." widersprach ich
verwirrt.
"Freiheit ist ein hohes Gut." antwortete Toris in einem so strengen
Tonfall, daß ich ihn nur noch verwirrt ansah. Dann fuhr er weicher
und traurig fort: "Eine Lösung weiß ich auch nicht. Wir
brauchen so viele Krieger, wie wir ausbilden können. Wenn wir unseren
Kindern eine Wahl ließen, gäbe es unser Dorf schon lange nicht
mehr."
"Du stellst alles in Frage", stellte ich fest, "unser ganzes
Leben. So etwas habe ich noch nie gehört."
"Ja. Auch deine Mutter denkt so. Nur hat sie nie mit dir darüber
gesprochen. Du solltest darüber nachdenken. Nach mir wird
wahrscheinlich deine Mutter Anführerin. Und danach Schara oder du.
Die Erwachsenen hören schon jetzt manchmal auf euch."
"Aber solange du lebst wird doch niemand einen anderen Anführer
haben wollen, als dich, Toris." protestierte ich.
"Ich bin alt. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr wie früher.
Wahrscheinlich werde ich den nächsten Kampf nicht
überleben." erklärte Toris ruhig.
Ich begriff, daß er recht hatte und sagte:
"Ich werde dich vermissen, Toris."
Er warf mir einen seltsamen, ernsten, ruhigen, nachdenklichen Blick zu, der
aus weiter Ferne zu kommen schien, dann legte sich ein liebes, humorvolles
Lächeln darüber, das ganz gegenwärtig und fröhlich war,
er stand geschmeidig auf legte kurz seine Hand auf meine Schulter und
sagte:
"Es ist Zeit. Laß uns zum Versammlungsfeuer gehen und über
weniger tödliche Dinge sprechen."
In der Versammlungshalle setzte ich mich direkt neben Toris und legte
meinen Kopf auf seinen Schoß. Ich war den ganzen Abend schweigsam und
in mich gekehrt und genoß die Nähe des freundlichen, alten
Mannes, der mir von Zeit zu Zeit übers Haar strich. Toris war mir
immer unsterblich vorgekommen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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