Wir waren schweigsam und bedrückt, als wir zur Versammlung kamen. Die
Bauern dagegen legten ihre übliche, sorglose Lautstärke an den
Tag. Erst als meine Mutter die Toten und Verletzten aufzählte, machte
sich auch bei ihnen bedrücktes Schweigen breit. Zwei der Gefallenen
stammten aus dem Bauerndorf. Ich hörte einige Bauern weinen. Krieger
gingen hinüber, um sie zu trösten. Jemand machte den Vorwurf,
daß wir Bauernkindern die gefährlichsten Aufgaben geben
würden.
"Ihr redet Unsinn. Sie haben aus eigener Entscheidung getan, was ihre
Aufgabe im Kampf war." sagte meine Mutter ruhig.
Um die Dikussion nicht ausufern zu lassen, stand ich auf und erzählte,
von meinem Botengang. Ich schloß mit den Worten:
"Unsere Berufung als Krieger ist, das Bauerndorf zu schützen. Doch
wenn wir diesmal kämpften, wäre das kein Schutz, sondern
Selbstmord. Die Feinde sind mehr als zehn mal so viele wie wir. Selbst
wenn wir sie besiegen, wäre das das Ende des Kriegerdorfes und des
Bauerndorfes. Wir sind jetzt schon zu wenige. Ich rate euch, die Kinder zu
schicken. Wir geben ihnen den Befehl zurückzukehren, sobald nicht
mehr die Gefahr besteht, daß das mit unserem Dorf in Verbindung
gebracht wird. Sie sollten je zur Hälfte Krieger- und Bauernkinder
sein und aus allen Altersgruppen zwischen fünf und zwölf Jahren
stammen. Da der Vorschlag von mir stammt, werde ich mitgehen. Jemand
muß alt genug sein, sie zu führen. Alle sollten Waffen tragen,
um sich notfalls verteidigen zu können."
Es herrschte Totenstille. Alle sahen mich wie betäubt an. Ich hatte
Angst vor der Verantwortung, die ich damit übernahm und daß es
mir vielleicht nicht gelingen würde, auch nur eines der Kinder lebend
zurückzubringen.
Schließlich brach Koresch das Schweigen:
"Wenn Rundon geht, gehe ich auch."
"Das erlaube ich nicht!" fuhr Holdin dazwischen.
"Bist du dir im Klaren darüber, worauf du dich
einläßt?" fragte ich Koresch ernst.
"Ich glaube nicht, aber ich komme trotzdem mit." sagte Koresch
fest. Er hatte Angst.
"Ich werde froh sein, einen Freund an meiner Seite zu haben, auf den
ich mich verlassen kann." antwortete ich ernst.
Koresch konnte nicht kämpfen. Aber planen und einen klaren Kopf
behalten, wenn es drüber und drunter geht, konnte er.
"Ich will auch mit!" rief der kleine Jorisch.
"Nein!" protestierte ich, "ich will das du in Sicherheit
bist."
Plötzlich redeten alle durcheinander.
"Halt!" rief meine Mutter, "solche Dinge werden innerhalb der
Dörfer geklärt. Außerdem haben wir noch nicht entschieden,
was wir tun."
Vergeblich hoffte ich, daß jemand einen besseren Vorschlag machte. Viele griffen mich für meine Idee an, weil sie auch keine Lösung wußten. Ich beschwichtigte, half mit drei, vier anderen, teils Bauern, teils Kriegern, die Menschen dazu zu bringen, das Nötige zu planen und hatte das Gefühl mitten in einem großen Alptraum zu stehen.
Schließlich waren alle Einzelheiten geklärt und ich ging erschöpft hinüber zu meiner Mutter, um mich auf dem Heimweg auszuheulen. Sie weinte ebenfalls. Jorisch kam in meine Arme und weinte auch. Langsam und eng aneinandergeschlungen gingen wir heim.
Schara gesellte sich unterwegs zu uns. Leise sagte sie:
"Ich hatte mich so darauf gefreut, dich in meiner Familie zu
haben."
Ich nickte. "Schicksal." sagte ich leise.
Sie kniff die Lippen zusammen und nickte:
"Komm zurück, Rundon. Wir brauchen dich."
"Jedes Kind wird gebraucht." erwiderte ich leise.
"Schicksal." entgegnete Schara, umarmte mich, ließ mich erst
im Dorf wieder zögernd los.
"Schara, Mutti, Jorisch, ich will noch einmal mit Toris sprechen."
sagte ich und betrat die Versammlungshalle.
Als er meine leisen Schritte hörte, öffnete Toris die Augen.
"Wie ist es gelaufen?" fragte er leise.
"Ich werde mit fortgehen." antwortete ich.
Toris schloß die Augen und dachte nach. Ich wußte, er verstand
auch, was ich nicht gesagt hatte. Schließlich flüsterte er:
"Komm zurück, komm bloß zurück, Rundon. Wir können
auf kein Kind verzichten."
Ich nickte und antwortete bedrückt:
"Wie kann ich das schaffen?"
"Du mußt erstklassige Arbeit leisten. Und es mag dennoch sein,
daß das nicht ausreicht."
Ich nickte.
"Vielleicht ist es längst zu spät, wenn du
zurückkehrst."
Wieder nickte ich und erklärte:
"Koresch wird ebenfalls mitkommen und mit ihm neun
Bauernkinder."
"Rundon, wenn du es nicht schaffst, kann das niemand." sagte
Toris.
Ich weinte und fragte:
"Woher nimmst du dieses Vertrauen?"
"Du hat es verdient, Rundon. Tu einfach dein Bestes. Der Rest ist
Schicksal."
Ich sprang wütend auf und schimpfte:
"Oh, dieses verdammte Schicksal!"
Toris lächelte nur und bestätigte ruhig:
"Ja, dieses verdammte Schicksal."
Er schloß erschöpft die Augen. Beschämt kniete ich
nieder:
"Oh Toris! Du bist tödlich verletzt und ich lasse mich noch von
dir trösten."
Es dauerte lange, bis Toris die Kraft für einige weitere Worte
fand:
"Keine Sorge, ich werde mich bald sehr lange ausruhen können. Du
dagegen hast ein langes und hartes Leben vor dir."
"Ich werd's überleben." sagte ich und mußte schmunzeln,
weil das Schwachsinn war.
Am Ende meines Lebens würde ich selbstverständlich sterben, wie
jeder andere auch. Vielleicht ist das auch gut so. Lange saß ich
schweigend neben ihm und streichelte sein graues Haar. Ich konnte mir unser
Dorf ohne Toris nicht vorstellen und wahrscheinlich würde ich es auch
nie kennenlernen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.