Es wurde mit Holzschwertern gekämpft, wie das spielende Kinder tun. Sie stellten keine Kampfwächter auf, die den Kampf überwachen und notfalls abbrechen könnten. Ich übte gegen mehrere Gegner. Der Gardehauptmann wollte herausfinden, wo die Grenzen meiner kämpferischen Fähigkeiten lagen. Wir übten nur wenige Stunden und nicht so hart, wie ich es gewohnt war. Aber ich wußte, daß ich aus ihren unbekannten Kampftechniken viel lernen würde.
Als wir mit den Übungen gerade fertig waren, kam Schjerra:
"Rundon, komm schnell, Elara ist etwas Schlimmes passiert!"
Ich rannte zum Wagen. Der Gardehauptmann folgte mir. Elara lag wimmernd
neben der Feuerstelle. Ihre Kleider waren zerrissen und blutig.
"Hol den Arzt!" befahl ich.
"Koresch ist schon unterwegs." sagte jemand.
Ich stellte fest, daß das Blut aus der Scheide kam. Bei
Kampfverletzungen hätte ich gewußt, wie sie zu versorgen
wären, aber so etwas? Wie kommt man zu so einer Verletzung? Ich
streichelte ihr Haar und fragte:
"Was ist geschehen Elara?"
Was sie erzählte hätte ich nicht glauben können, ohne Elara
als lebenden Beweis. Ein Mann hatte sie zu Boden geschlagen und sie dann
gezwungen, mit ihm zu schlafen. Dabei hatte er so viel Gewalt angewandt,
daß er sie innerlich zerrissen hatte. Wie kann ein Mensch auf eine
so abartige Idee kommen? Ich hielt Elaras Hand, versuchte sie zu
trösten und fühlte mich hilflos. Der Arzt kam, kniete sich neben
mich und untersuchte Elara. Nach Minuten hob er langsam den Kopf.
"Kannst du etwas tun?" fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck wurde düster von
ohnmächtigem Zorn.
Ich nickte. Ich hatte damit gerechnet.
"Danke."
Dann wandte ich mich Elara zu, um ihr beizustehen.
"Ne, Elara wird doch gesund?" fragte ein kleines
Bauernmädchen.
"Nein. Sie stirbt." antwortete ich hart.
Wir Kriegerkinder hatten alle genug Sterbende gesehen, um zu wissen, was
los war. Das Mädchen sah mich mit fassungslosen großen Augen
an.
"Bleib hier. Sonst wirst du nie mehr mit Elara reden können."
sagte ich sanfter.
Das letzte Gespräch mit einem Sterbenden ist etwas besonderes. Man
redet über Träume, die nie mehr wahr werden werden und
vergangene Zeiten und fühlt sich in diesen Stunden des Abschieds
einander so nah, wie sonst selten. Elara trug mir Grüße an ihre
Eltern auf.
Vor einem Kampf weiß man nicht, ob man sterben wird. Ich
wünschte mir, wenn ich einmal sterbe, daß ich Zeit habe, mich
von meinen Lieben zu verabschieden. Die Stunden des Schmerzes, die eine
solche Verletzung mit sich bringt, würde ich dafür in Kauf
nehmen.
Es war gerade dunkel geworden, als Elara schließlich starb. Ein
letztes mal strich dem toten Mädchen übers Haar, richtete mich
auf und sagte zum Hauptmann der Garde:
"Ich muß mit dem Führer reden."
"Du wirst keinen Erfolg haben, Rundon." antwortete der.
"Ich will es zumindest versuchen."
"Er wird dich auspeitschen lassen."
Ich durfte es nicht auf sich beruhen lassen, sonst konnten unsere
Mädchen sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Ich drehte mich
zum Zelt des Führers um und fragte:
"Kommst du?"
Zögernd folgte er mir zum Eingang des Zeltes, wo ich zu den Wachen
sagte, daß ich den Anführer sprechen wolle. Der Gardehauptmann
hielt sich im Hintergrund. Die Wachen weigerten sich, mich einzulassen,
also redete ich auf sie ein, bis der Führer persönlich herauskam
und fragte, was los sei. Ich sagte ihm, daß ich mit ihm reden wolle.
Der Führer warf mir einen irritierten Blick zu, sah den
Gardehauptmann kurz an und sagte zu uns beiden:
"Dann kommt herein."
Sobald er mich zum Sprechen aufforderte, erzählte ich, was geschehen
war und sagte ihm, daß es seine Verantwortung sei, den Schuldigen zu
bestrafen. Doch er entgegnete:
"Dazu sehe ich keinen Grund. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es
nicht an. Sollen die Männer doch ihre Freude haben."
Für einen Augenblick war ich sprachlos vor Zorn. Als ich mich wieder
gefangen hatte, sagte ich beherrscht:
"Diese Ansicht kann ich nicht teilen. Disziplin in solchen Dingen hat
einen direkten Einfluß auf die kämpferischen Fähigkeiten
eines Heeres. Nicht umsonst wird dergleichen in der Garde nicht geduldet,
wie ich beobachten konnte."
"Wir sind das größte Heer der Welt!" fuhr der
Führer auf.
"Das stimmt. Aber eure Soldaten sind bestenfalls
mittelmäßige Kämpfer. Sonst hätten wir eure kleine
Streitmacht nicht so mühelos besiegen können." entgegnete
ich.
Der Führer war empört. Er befahl dem Gardehauptmann:
"Der Bursche gehört zur Garde - also ist es Deine Aufgabe, ihn
für seine Unverschämtheiten auszupeitschen."
Vor Wut wurde mir schwarz vor Augen. Ich atmete tief durch, um nicht auf
den Führer loszugehen. Es war nichts zu machen, also drehte ich mich
zu meinem Hauptmann um und fragte still: "Wohin?"
Der Gardehauptmann sah mich an, als wollte er sagen:
"Das habe ich dir doch gleich gesagt." und drehte sich um.
In tiefes Nachdenken versunken, folgte ich ihm. Es gab keine Lösung.
Wir betraten sein Zelt.
"Ich brauche deinen Rat." wandte ich mich an den Gardehauptmann.
"Ich kann nichts machen. Ich muß dich bestrafen." versuchte
er mir klarzumachen.
"Das ist unwesentlich." winkte ich ab.
"Ich kann wirklich nichts tun - sieh mal..." setzte er ein zweites
mal an.
"Mir ist klar, daß du nicht den Befehl verweigern kannst. Ich
habe wichtigere Probleme, als daß mich jemand auspeitschen lassen
will. Ich muß wegen Elara etwas tun. Sonst nehmen die Soldaten die
Entscheidung ihres Führers als Aufforderung, nach und nach jedes der
Mädchen zu vergewaltigen. Tötete ich Elaras Mörder,
gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder fänden sie nicht
heraus, wer es war - dann war die Strafe wirkungslos. Oder sie suchten
die Schuld bei mir - dann würde ich hingerichtet und könnte die
Kinder auch nicht mehr schützen. Ich habe noch mehr Bauernkinder
dabei, die sich nicht wehren können."
"Schjerra könnte sich verteidigen?" fragte er mich.
"Ja. Wer das bei ihr versucht hätte, wäre jetzt tot."
bestätigte ich.
"Selbst ich?"
"Vermutlich. Du bist gut genug, um sie besiegen zu können, wenn
sie Pech hat."
Lange saß er mir nachdenklich schweigend gegenüber.
Schließlich erklärte er:
"Schjerra ist wahrscheinlich die nächste, bei der es jemand
versucht. Sie ist die älteste. Keines der anderen Mädchen
sollte alleine im Lager herumlaufen. Wenn ein kleines Mädchen wie
Schjerra einen erwachsenen Mann mit dem Schwert besiegt, halten die
Krieger das für Zauberei. Du solltest androhen, daß jeder, der
von heute ab einem der Mädchen etwas tut, sein blaues Wunder erleben
wird."
Ich fand den Plan nicht perfekt, aber er hatte mehr Aussicht auf Erfolg,
als alles, was mir eingefallen war.
Die Strafe war auszuhalten. Meine Drohung nachher wurde mit Gelächter quittiert.
Wenige Tage später rief mich ein Mitglied der Garde. Schjerra stand
mit verschrammten schmutzigen Gesicht, wütend und aufrecht dem
Heerführer gegenüber. Sie war gefesselt und wurde von einem
einfachen Soldaten an den Haaren festgehalten. Zwei andere standen daneben
und sagten, daß Schjerra einen ihrer Kameraden mit dem Schwert
angegriffen und getötet hätte.
"Stimmt das?" frage der Heerführer.
"Ja. Der hat mich..."
Der Heerführer zog sein Schwert, um ihr den Kopf abzuschlagen.
Ich schlug die Waffe zur Seite und befahl:
"Halt! Wenn Schjerra einen Menschen erschlagen hat, hatte sie
dafür einen sehr guten Grund. Sie ist weder unbeherrscht noch dumm.
Schjerra, erzähl mir die ganze Geschichte."
"Der Mann hat mich schon mehrmals an Stellen angefaßt, wo ich
das nicht wollte, und ich habe ihm das auch gesagt. Daraufhin meinte er,
daß ich mit ihm schlafen müßte, wenn er das wolle. Ich
sagte ihm, daß ich eine Kriegerin bin und mich gegen solche
lebensgefährlichen Übergriffe zu verteidigen weiß. Er zog
sein Schwert und griff mich an. Ich bin nicht so gut wie Rundon, der
selbst den Heerführer mehrfach entwaffnen konnte, ohne ihn zu
verletzen. Wenn ich den Mann nicht getötet hätte, wäre ich
jetzt tot."
Der Heerführer sagte:
"Dafür bekommt sie hundert Peischenhiebe."
"Nein. Das sehe ich mir nicht mit an. Das würde sie nicht
überleben." widersprach ich.
"Oh, ihr könnt euch die Strafe auch teilen. Dann bekommt jeder
fünfzig." höhnte der Heerführer.
"Das könnt ihr von mir aus tun." sagte ich.
Fünfzig Peitschenhiebe kann man überleben.
Daraufhin wurde das ganze Heer zusammengerufen, damit sie der Bestrafung
zuschauen konnten. Ich bekam meinen Anteil zuerst und sah danach
schweigend zu wie Schjerra ausgepeitscht wurde. Als sie fertig waren,
gingen die Männer und ließen Schjerra einfach hängen.
Ich befreite sie und sagte:
"Im Grunde habe ich gehofft, daß du die nächste sein
würdest, bei der ein Mann versucht, dasselbe zu tun, wie bei Elara.
Du hast genau das getan, was ich hoffte. Bist du mir böse
dafür?"
"Nein. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich konnte mich
wenigstens verteidigen. Die anderen Mädchen hätten es
wahrscheinlich nicht gekonnt." antwortete sie ruhig.
Schjerras Gesicht war naß von Tränen. Arm in Arm kehrten wir
zum Wagen zurück.
Warum muß es ein so ekelhaftes Gefühl sein, wenn ein Plan aufgeht?
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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