Ich sah, wie ein Wagen den Weg hochkam. Ein struppiges, graues Pony war davor gespannt und eine Frau mit einem Baby saß auf dem Bock. Direkt vor mir hielten sie an, die Frau stieg ab und legte mir das Kind in die Arme. Ich strich ihm liebevoll durchs Haar und sah die Frau fragend an. Sie drehte sich um, stieg auf den Bock und wendete das Pferd.
"Halt." rief ich "Was machst du?"
"Ihr braucht doch Kinder, oder?" fragte sie.
"Ja. Aber willst du das Kind denn nicht selber behalten? Es ist doch
so ein schönes Kind!"
"Mach damit, was du willst." sagte die Frau schroff, knallte mit
der Peitsche und fuhr im Gallopp davon.
Ich starrte ihr fassungslos nach, hielt das Kind in den Armen und konnte
nicht glauben, was ich erlebt hatte. War es wirklich möglich,
daß eine Frau freiwillig ihr eigenes Kind weggab? Freiwillig? Mein
gesamtes Weltbild war ins wanken geraten.
Erst als das Kind mit lautem Schreien seinen Hunger kund tat, raffte ich mich zusammen, ging ins Dorf und gab es einer Frau, die es an die Brust legte. Abends nahm sie es endgültig als ihren Sohn an.
Es gab nur einen Weg aus unserem Tal heraus und die meisten Besucher
machen bei dem einzigen Bauern am Wegesrand Halt. Er bot für ein
geringes Entgeld Essen an. Dort fanden wir die Mutter des Kindes. Das
Mädchen stürmte zu ihr hin und flehte sie an, sie wieder mit
nach Hause zu nehmen. Die Frau sah mich an:
"Wollt ihr das Kind nicht?"
"Doch. Aber sie will nicht." antwortete ich.
"Hör auf zu jammern, Regia. Du bleibst bei diesem Krieger und
damit basta."
Das Mädchen brach erneut in Tränen aus, ihre Mutter gab ihr
eine Ohrfeige und schickte sie zu mir. Regia weigerte sich und weinte
noch mehr. Die Frau legte sie übers Knie und setzte an, sie noch mehr
zu schlagen. Da griff ich ein, nahm das Kind auf den Arm, streichelte sie
und erklärte:
"Regia, du siehst, was deine Mutter tut. Ich weiß nicht warum,
aber sie will dich nicht mit heim nehmen. Sie liebt dich, schau, sie
weint, weil sie dich so geschlagen hat. Aber es wird dir nichts übrig
bleiben, als mit mir zu kommen, denn bei ihr hast du keine Heimat
mehr."
Auch die Mutter war in Tränen ausgebrochen.
Schweigend streichelte ich das Kind das nun leise, aber sehr verzweifelt
weinte, trug Regia hin und her, bis sie sich beruhigt hatte. Dann fragte
ich sie, ob sie sich von ihrer Mutter verabschieden wolle.
"Nein. Mit der rede ich nie mehr." sagte sie.
Ich nickte - ließ mir aber erklären, wo die Frau wohnte. Ich
konnte die Wut des Kindes verstehen. Erfahrungsgemäß dauert ein
solches "nie" dennoch nicht ewig.
Wie ist es möglich, daß eine Mutter ihr Kind so im Stich lassen will? Da ich aus meiner eigenen Kindheit nur ein ständiges "Wir haben zu wenig Kinder" kannte, war ich vollkommen unfähig, ihre Beweggründe nachzuvollziehen. Ich sah nur das Leid des Kindes - und der Mutter - und konnte nicht fassen, was ich sah.
Später fragte ich den Bauern, dem der Hof gehörte:
"Warum geben diese Leute ihre Kinder weg?"
"Armut, Rundon." antwortete der Mann "Bevor eine Mutter ihr Kind
verhungern läßt, gibt sie es weg, damit es anderswo gesund
groß werden kann."
"Aber sie sahen doch gar nicht so verhungert aus." sagte ich.
"Noch nicht. Aber der Winter steht vor der Tür. Sie werden keine
Wintervorrräte haben - zumindest nicht genug, um selbst davon satt zu
werden."
Unsere Bauern lagerten aufgrund der Erfahrung, daß es im Winter
immer, wenn das Wetter es erlaubte, Gäste gab, ein vielfaches
der für die Dörfer selbst notwendigen Vorräte ein.
Am Ende des darauffolgenden Jahres hatten wir so viele Kinder, als hätte jede Frau, die in den letzten fünf Jahren ein Kind zur Welt gebracht hat, Zwillinge bekommen. Wir teilten sehr junge Kinder zu ihrer Betreuung ein und teilten sie gleichzeitig einer Familie zu - in der in der Hälfte der Fälle die Eltern keine vierzehn Jahre alt waren. Ich war täglich Stunden damit beschäftigt, nachzuschauen, daß wirklich niemand zu kurz kam.
Hinzu kam, daß es in jenen Tagen durch den Hunger außerhalb sehr viele Räuberbanden gab. Keine dieser Banden bestand wirklich aus Kämpfern. Aber dennoch waren sie bedrohlich für uns, denn wir hatten einfach zu wenige Erwachsene. Jeder der verletzt wurde, war eigentlich unentbehrlich und wir wußten nicht, wie wir das entstandene Loch stopfen sollten. Bald zählten wir schon die zehnjährigen als erwachsen.
Und dennoch überstand das Dorf die nächsten fünf Jahre und die ersten der Kinder von Außerhalb wurden erwachsen. - Das heißt zehn Jahre alt. Und damit verdoppelte sich die Anzahl der Erwachsenen von einem Jahr auf andere.
Zwei Jahre danach gab es einen wirklich großen Angriff. Mehr Feinde als beim letzten Angriff, an den ich mich erinnern konnte und der für das Dorf so verheerend gewesen war. Regia, meine erste Pflegetochter von Außerhalb wurde bei diesem Angriff so schwer verletzt, daß sie bald darauf starb. Dennoch hatten wir wenige ernsthafte Verletzungen - viel weniger als damals, denn wer müde oder leicht verletzt war, hatte sich hinter die Linien der anderen zurückziehen und behandeln lassen können, statt weiterkämpfen zu müssen. Wir waren eben wirklich genug gewesen.
Der Bauer Harun an der Grenze zu außerhalb erzählte mir später, daß die wenigen, die fliehen konnten, völlig entsetzt gewesen waren, von einer Schar Kinder besiegt worden zu sein.
Danach in den Jahren ging es dann stetig aufwärts, weil wir alle älter, größer und stärker wurden. Das übliche Heiratsalter stieg beinahe unmerklich zuerst auf vierzehn und dann auf fast achtzehn Jahre an. Dann schließlich beauftragten wir den Bauern Harun, bekanntzumachen, daß wir nur noch Kinder zwischen zwei und fünf Jahren annehmen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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