Ich schüttelte den Kopf. Bei dem Gedanken wurde mir übel.
"Ich möchte jetzt nur schlafen." sagte ich.
Der Bauer rief seiner Frau zu, daß sie ein Bett für mich machen
solle und forderte mich auf, vor dem Kamin der Wohnstube Platz zu nehmen.
Ich setzte mich auf den Stuhl und ließ den Kopf in die Hände
sinken.
"Du hast das nicht verdient. Du bist so ein guter Mensch. Warum haben
sie gerade dich verstoßen?"
Ich hätte mich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen.
"Bitte verschone mich heute mit Fragen zu diesem Thema. Das ist das
letzte, worüber ich jetzt reden möchte." flehte ich, ohne
den Kopf zu heben.
Er platzte fast vor Fragen. Doch statt sie zu stellen, erzählte er
eine Geschichte:
"Mein Vater erzählte immer: Das Kriegervolk sind unheimlich
stille, friedliche Nachbarn. Nur ein einziges Mal kam eine Kriegerin bis
hierher. Es war eine hochgewachsene, katzenhaft geschmeidige Frau, die
höflich anklopfte und bat, bei uns schlafen zu dürfen. Sie sah
so mitgenommen aus, daß ich es nie übers Herz gebracht
hätte, sie fortzuschicken. Ich fragte sie, was geschehen sei.
Bereitwillig anwortete sie: "Ich habe einen der Unseren getötet
und bin deshalb verstoßen worden." Am nächsten Morgen
bedankte sie sich für die Gastfreundschaft und ritt fort. Ich fand
ihre Leiche noch am selben Tag. Sie hatte sich selbst die Kehle
durchgeschnitten."
"Wenn du das wissen willst: Nein, ich werde nicht Selbstmord begehen.
Ich weiß aber auch nichts, für das es sich zu leben lohnen
würde." beschwichtigte ich ihn.
Harun setzte an, mich von der Schönheit des Lebens zu
überzeugen.
"Es ist, als wäre ich neugeboren - inklusive Geburtsschmerzen.
Ich bin neu in dieser Welt Außerhalb und weiß zu wenig
darüber, um mir begründete Hoffnungen machen zu können.
Ich werde lernen und zurechtkommen." sagte ich sanft.
Er betrachtete mich prüfend und akzeptierte meine Worte. Bald darauf
ging ich zu Bett.
Als ich wieder erwachte, saß Harun neben mir. Ich war
überrascht.
"Du bist noch da?" fragte ich.
"Du sahst so mitgenommen aus, daß ich dich nicht alleinlassen
wollte. Meine Frau und ich haben abwechselnd an deinem Bett Wache
gehalten."
Ich zog mich an, nahm mein Schwert vom Kopfende des Bettes, gürtete
es, kämmte und flocht mein langes, schwarzes Haar.
"Danke. Eine solche Geste hätte ich außerhalb des
Kriegerdorfes nicht erwartet. Bei uns sagt man: Die Menschen von
Außerhalb können nicht richtig lachen, nicht richtig weinen
und nicht glücklich sein. Damals als Geisel habe ich erschreckend
viel Herzlosigkeit gesehen. Vielleicht habe ich nur die schlechtesten
Seiten der Welt Außerhalb erlebt. Ein Heer, wo Kinder vergewaltigt
und ermordet werden und Frauen, die ihre Kinder loswerden wollen."
sagte ich nachdenklich.
Harun nickte:
"Ein schrecklicher Haufen, dieses Heer. Daß es dir gelungen ist,
18 der 19 Kinder heil wieder mit nach Hause zu bringen, ist eine
unglaubliche Leistung für das halbe Kind, das du damals
warst."
"Es ist besser gelaufen, als ich hoffen konnte. Gilt das Angebot mit
dem Essen noch? Jetzt habe ich Hunger." fragte ich.
"Weißt du, wie lange du geschlafen hast? Zwei Nächte und
einen Tag."
"Das wundert mich nicht. Ich konnte die Nacht davor nicht
schlafen." antwortete ich.
"Was ist im Kriegerdorf passiert? Warum haben sie dich
verstoßen?" fragte der Bauer.
"Nach dem Essen", wehrte ich lächelnd ab, "Eine
Geschichte gehört richtig erzählt."
Ich hatte überhaupt keine Lust, darüber zu reden. Das ging noch
zu tief. Aber ich war der Ansicht, daß er ein Recht hatte, die
Wahrheit zu erfahren. Also erzählte ich nach dem Essen in allen
Einzelheiten, was geschehen war.
"Du bist verrückt. Warum bist du nicht geblieben?" rief der
Bauer heftig.
"Harun, überleg nur, welche Wirkung das auf das Kriegervolk
gehabt hätte. Sie haben mich als den zukünftigen Anführer
betrachtet. Sie hätten gelernt, daß ein Führer sich alles
erlauben kann, während die Schwächeren sich an die Gesetze
halten müssen. Jeder andere hätte an meiner Stelle bleiben
dürfen, wenn das Dorf ihn darum bittet. Ich als Führer dagegen
muß jedes Gesetz doppelt ernst nehmen." widersprach ich.
"Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, daß
Anführer sein nur aus Pflichten besteht."
"So ist es. Ein Anführer hat doppelt bis drei mal so viel zu tun,
wie ein einfacher Krieger und niemand, der nicht führt, merkt es auch
nur. Immer muß man alles im Auge behalten, darauf achten, daß
jede Arbeit erledigt wird, daß niemand zu kurz kommt. Immer wenn
etwas schief läuft, fragt man sich: Bin ICH dafür
verantwortlich? Hätte ich das verhindern können? Auch bei
Rikon: Hätte ich irgendetwas für ihn tun können, um diesen
Kampf zu verhindern?"
"Du bist verrückt. Rikon wollte dich ermorden!" protestierte
er.
"Trotzdem. Rikon muß hochgradig verzweifelt gewesen sein, um
diesen Kampf zu beginnen. Wenn er gewonnen hätte, wäre er
verstoßen worden und hätte Selbstmord begangen. Ich habe mir
schon lange Sorgen um ihn gemacht. Ich wünschte, ich hätte
gewußt, was ihm wirklich fehlt, damit ich etwas tun konnte. Jetzt
habe ich ihn selbst erschlagen. Andererseits, ich liebte meine Pflichten.
Es ist wunderschön, das Dorf zu betrachten, das nun mehr Einwohner
hat als in meiner Kindheit und mir sagen zu können: Das ist mein
Werk. Ohne mich würden hier nur noch Ruinen stehen. Ich liebe das
Kriegerdorf, jede Kriegerin, jeden Krieger, jedes Kind. Ich würde
mein Leben für sie geben, wenn nötig."
"Rundon, wenn du willst, kannst du als Knecht bei mir arbeiten."
bot Harun mir an.
"Ich würde es versuchen. Aber an deiner Stelle würde ich mir
noch einmal sehr gut überlegen, ob du wirklich einen Mann einstellen
willst, der von der Arbeit, die er tun soll, nicht mehr Ahnung hat, als
ein Krabbelkind. Ich bin Krieger, das einzige, was ich gelernt habe, ist
kämpfen." entgegnete ich ernst.
"Übertreib nicht. So schlimm kann das nicht sein."
"Doch. Harun, Bauern bauen Getreide an - wir lernen gerade mal,
daß wir es nicht zertrampeln dürfen. Bauern haben
Gemüsegärten. Wir essen das Gemüse nur auf. Bauern
hüten Vieh. Uns interessiert daran nur, daß wir es nicht jagen
dürfen. Bauern nähen Kleider. Wir holen sie fertig im
Bauerndorf ab. Bauern kaufen ein. Wir stellen einen Wächter auf,
der aufpaßt, daß die Händler keine Dummheiten machen.
Auch der Schmied und die Heilerin sind Bauern. Wir sind Krieger und nur
Krieger. Das einzige, was wir lernen, ist kämpfen."
Heute denke ich, ich hätte sein Angebot annehmen sollen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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