Von der Tür aus belauschte ich ein Gespräch zwischen Karon und
seinem Stellvertreter.
"Wie willst du Wildwolf aus den Bergen finden? Wir haben die ganze
Zeit nur Gerüchte von ihm gehört." fragte der
Stellvertreter.
"Ich lasse das Gerücht ausstreuen, daß wir ihn fangen
wollen. Er ist so neugierig, daß er kommen wird, um uns in
Augenschein zu nehmen." meinte Karon.
Ich schmunzelte, weil es so zutreffend war. Dann spannte ich meinen Bogen
und schoß einen Pfeil zwischen den beiden in die Tischplatte. Er
hatte einen Gedankenfehler gemacht, als er glaubte, wenn ich ihn finde,
müßte er mich bemerken. Der zweite Fehler war die Vermutung,
daß er das Gerücht selber ausstreuen müßte.
"Was ist das?" fragte der Stellvertreter, der beinahe vor
Entsetzen nach hinten umgekippt wäre. Karon lächelte und
antwortete:
"Eine Nachricht. Rundon, der Wildwolf hat uns belauscht. Er fordert
uns heraus."
Ich spürte, daß Karon nachdachte und seine Fehler erkannte,
dann gab er einen Warnpfiff ab. Ich schlich mich aus dem Lager, in dem
sich die gesamte Mannschaft meines Schülers ebenfalls sehr
unauffällig und leise bewegte, während sie mich suchten. Ich
mußte sehr aufmerksam sein, um sie zu entdecken, bevor sie mich
sahen. Mir war nicht ganz klar, weshalb ich die drei, die mich
schließlich doch bemerkten, bewußtlos schlug, statt sie
zu töten.
In meinem geheimen Lager sattelte ich mein altes Pferd und ritt davon.
Ich ritt zu jenem Fürstentum, das für einige Zeit meine Heimat
gewesen war. Es war einfach, den Fürstensohn alleine zu erwischen.
Ich paßte ihn auf einem Ausritt ab.
"Rundon, du lebst!" begrüßte er mich voll Freude.
"Ja. Und du?"
"Rundon, sei vorsichtig. Vor etwas über einem Jahr kam ein Bote
und bot für einem gewissen Karon an, daß er dich jagen und
fangen würde, wenn er die nötige Unterstützung
bekäme. Mein Vater hat ihn bezahlt und ich konnte nichts dagegen
tun. Sei vorsichtig, der Mann ist gefährlich."
"Ich weiß. Ich habe ihn beobachtet. Es gibt nur einen, der ihn
so ausbilden konnte."
"Und wer ist das?"
"Ich." der Junge starrte mich einen Augenblick verwirrt an, dann
begriff er:
"Rundon, du bist vollkommen verrückt geworden!"
"Vermutlich. Ich wußte von Anfang an, daß er das vorhatte.
Und daß er gut genug war."
Bald nach dieser Begegnung spürten sie mich wieder auf - Karon hatte sie wirklich sehr gut ausgebildet - und jagten mich weiter. Dabei kam ich in die gegend des Kriegerdorfes und besuchte den Bauern, der Außerhalb nahe dem Paß wohnte. Eine Nacht blieb ich dort, redete mit ihm über die letzten Jahre und erzählte ihm von meinen Verfolgern. Daß ich es einfach nicht übers Herz gebracht hatte, sie aus dem Hinterhalt zu erschießen, überstieg das Fassungsvermögen des Bauern vollkommen. Ich sagte ihm, daß er den Verfolgern ruhig sagen dürfe, wohin ich mich wendete.
Er hat es wohl nicht gesagt - oder die Verfolger haben damit gerechnet, daß ich hinter der nächsten Ecke vom Weg abweichen würde - jedenfalls blieben sie mir auf der Spur, als ich einem schmalen Bergpfad folgte und mein Pferd alleine weiterschickte.
Irgendwann versteckte ich mich an einer engen Wegstelle, um meinen Verfolgern einen Hinterhalt zu legen. Unbeweglich wartete ich ab und ließ sie an mich herankommen. Als ich sah, wieviele es waren, begann ich mir Sorgen zu machen. Es war schon zu spät, um den Plan mit dem Hinterhalt fallenzulassen. Ich hatte keinen Vorsprung mehr.
Mit weichen, schnellen Schritten griff ich sie an. Eine ganze Weile gelang es mir, alle meine Gegner auf einer Seite zu halten, doch ich konnte und wollte keinen verletzen und wurde langsam müde. Dann gelang es einem, hinter mich zu kommen und mich am Rücken zu treffen. Ich stürzte und versuchte wieder aufzuspringen. Meine Beine gehorchten mir nicht. Der Kampf war verloren und ich wußte, daß solche Verletzungen nicht heilen. Ich stellte mir meine Zukunft als Krüppel vor, und wußte daß ich ein solches Leben als Gefangener meiner Feinde nicht leben wollte. Nur Spott und Verachtung. Ich wollte mir die Kehle durchschneiden, griff nach dem Schwert, doch der Junge trat auf meine Schwerthand. Ich sah ihm gerade in die Augen. Nein, die Chance zum Selbstmord war vertan. Ich ließ die Waffe fallen, schloß die Augen und ergab mich in mein Schicksal.
Als ich wieder zu mir kam, waren meine Hände auf den Rücken
gefesselt. Eine Frau versuchte mich zu füttern. Zuerst überlegte
ich, in Hungerstreik zu treten. Dann ließ ich es bleiben, da ich
mich nur gequält hätte, ohne mein Leben wesentlich zu
verkürzen. Solche Lähmungen überlebt man nicht lange.
"Was habt ihr mit mir vor?" fragte ich sie.
"Ich weiß es nicht." antwortete die Frau.
Etwas später kam der Junge.
"Karon, was hast du mit mir vor?" fragte ich ihn.
"Wir werden dich als Zielscheibe benutzen." antwortete er.
Ich nickte. Zumindest würde das nicht lange
dauern.
Er warf mich wie einen Sack über die Schulter, trug mich zu einer Bogenschießbahn und hing mich dort an den Armen auf. Ich entspannte mich, soweit das in dieser Haltung möglich war und beobachtete aufmerksam die Schützen, die auf mich zielten. Ich hatte mich mit der Situation abgefunden, fühlte mich ganz ruhig, entspannt, nur ein wenig neugierig. Ich habe selten Menschen gesehen, die durch einen einfachen Blick so irritiert wurden. Wahrscheinlch lag es daran, daß ich eben nicht wütend oder verzweifelt war. Daran, daß ich mit mir und der Welt abgeschlossen hatte. Ich merkte, daß ich nur die Pfeile, die mich oberhalb meiner Rückenverletzung trafen, spüren konnte, obwohl ich das Gefühl hatte, daß jeder einzelne Zeh mir weh tat.
Es wurde dunkel, die Schützen gingen schlafen und ich stellte zu
meinem Erstaunen fest, daß ich noch lebte. Ich konnte nur abwarten,
nichts tun. Ich schloß die Augen und versuchte trotz der Schmerzen
zu schlafen. Etwas später näherten sich die vertrauten
Schritte des Jungen. Ich sah ihn an.
"Du lebst ja noch!" rief er erstaunt.
"Ja." antwortete ich.
"Du hättest mir wohl nicht zugetraut, daß ich dich besiegen
kann", meinte er hämisch.
"Doch. Sonst hätte ich nicht den Wunsch gehabt, dich
auszubilden." antwortete ich.
Ich konnte dem Jungen ansehen, daß er diese Logik nicht
nachvollziehen konnte.
"Ich war dieses ständige Töten satt." erklärte
ich.
"Aber das ist doch Selbstmord." sagte er.
"Ja, es ist Selbstmord. Ich wollte so nicht weiterleben."
bestätigte ich, was ich erst jetzt begriff.
Nachdenklich musterte er mich. Ich erwiderte ruhig seinen Blick. Sein
Gesichtsausdruck wurde viel ruhiger und weicher. Ihm wurde zum ersten mal
bewußt, daß er mich irgendwo auch liebte.
"Willst du immer noch sterben?" fragte er.
Ich nickte. Er zögerte kurz, dann schnitt er mir die Kehle durch.
Lange musterte er meinen Körper, eher er schließlich
gedankenversunken zu seinem Zelt ging.
Ich verließ diese Welt mit dem Gedanken, daß es auch eine Art geben muß, den einfachen Leuten zu dienen, bei der man nicht tötet. Nein, Krieger wollte ich nicht mehr sein. Ich liebte den wunderschönen, schnellen Tanz des Kampfes, aber das Töten war ich satt. Mir war klar geworden, daß mit jedem Feind, den ich getötet hatte auch ein Mensch gestorben war, den ich im Grunde meines Herzens geliebt hatte. Ein guter Krieger ahnt die Gedanken und Pläne seines Gegners voraus und vereitelt sie, bevor sie in die Tat umgesetzt werden. Doch das bedeutet auch, daß ich jeden meiner Gegner kennen und verstehen gelernt hatte, daß ich auch lernte ihn zu achten und zu lieben.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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