Ich klopfte an die Bürotür. Ein kleiner dunkelhaariger Mann
öffnete.
"Wer hat dir erlaubt, hier herumzurennen?" fragte der Mann
barsch.
"Ich wollte gerade um Erlaubnis bitten." antwortete ich ruhig
und hüllte mich in Frieden, als wolle ich einen Drachen
beruhigen.
Es funktionierte.
"Das hier ist ein Gefängnis und kein Vergnügungshotel. Ab
in die Zelle." sagte er merklich sanfter.
"Dhaeraith hat mich um Hilfe für ihren Drachen gebeten. Leider
ist das eine Aufgabe, für die man mindestens fünf Menschen
braucht, die sich abwechseln, denn in seinem Zustand muß
ständig jemand bei dem Drachen Wache halten." erklärte
ich.
"Das ist doch nur ein ausgeklügelter Fluchtplan. Ich kenne
solche wie euch."
Ich sah den Mann erstaunt an. Wie kam er dazu, zu vermuten, daß
sich mit Menschen, die völlig apathisch im Bett lagen und nicht
einmal trinken wollten, so mir nichts dir nichts ein Fluchtplan
durchsetzen ließ? Es würde schwierig genug sein, sie
überhaupt zum Aufstehen zu bewegen.
"Aber selbstverständlich. Wenn ihr uns einen Platz nennt, an
den zu fliehen es sich lohnt, uns verratet, wie wir dieses
Gefängnis verlassen können, uns dann auch noch den Weg zeigt,
wie wir problemlos dorthingelangen und uns schlagt, wenn wir nicht
fliehen, dann würden wir selbstverständlich auch fliehen.
Wenn ihr uns nicht schlagt, sind die meisten von uns leider zu
apathisch um auch nur zu trinken." antwortete ich ironisch.
"Und - was hat der Drache mit dir gemacht, daß du nicht mehr
so apathisch bist?"
"Nicht der Drache. Daeraith. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und
mich angefleht, ihren Drachen zu retten. Und - funktioniert hat das
nur, weil sie meine Freundin ist und der Drache die Schwester meines
Drachen. Ihr Drache ist völlig in sich zurückgezogen und tut
im Augenblick erst einmal gar nichts, außer sterben, wenn wir
es zulassen. Und das will ich nicht." erklärte ich.
"Dann stimmt es also doch, daß Drachenreiter um ihres Drachen
willen die eigene Familie verkaufen würden."
"Wie kommt ihr denn auf den Schwachsinn?" fragte ich empört
zurück.
Natürlich kannte ich diese Unterstellung längst. Jeder
Drachenreiter bekam sie von Außenstehenden wer weiß wie oft
zu hören. Aber ganz gleich, was meine Familie mit mir angestellt
hatte - es war immer noch meine Familie und ich liebte jeden von ihnen
- auch wenn ich nur zu meinen beiden Brüdern noch Kontakt hatte,
weil es niemanden etwas bringt, wenn ich mich ständig mit
meinem greisen Vater streite, der inzwischen auf meine Kosten in einem
kleinen Häuschen lebt. Meine Mutter ist längst gestorben.
Ich glaubte nicht, daß ich mir um meine Familie Sorgen machen
mußte. - Es sei denn, ich würde die Feinde darauf aufmerksam
machen, daß ich Familie hatte, die mir etwas bedeutet.
In demselben Jahr als ich meinen Drachen für mich gewonnen hatte, war mein älterer Bruder auf die Universität geschickt worden. Als er nach einem Jahr das erste mal für längere Zeit nach Hause kam, bat ich, zur selben Zeit meine Familie besuchen zu dürfen. Der Vater meines Drachen brachte mich in mein Heimatdorf, damit ich meinen Bruder wiedersehen konnte.
Er erzählte damals die ganze Zeit nur von seinem Studium und anderen Studenten. Ich begann von Drachenreitern und Drachen zu erzählen. Bei ihm fanden sie es normal. Mir wurde vorgeworfen, ich wäre kein richtiger Mensch mehr, weil ich nur noch an Drachen denken würde. Ich war wegen dieser ungerechten Unterstellung zutiefst verletzt, denn ich hatte ja nichts anderes getan als mein Bruder, der auch nur von seinen neuen Bekannten redete.
Bei einem späteren Besuch lernte ich meinen kleinen Bruder kennen. Mein jüngster Bruder war damals noch keine drei Jahre alt und sah bewundernd zu mir auf. Bevor ich heimkehrte ließ ich ihn einmal auf dem Drachen reiten.
Ein Jahr später erhielt ich die Nachricht, daß er mit
schweren Verletzungen ins Krankenhaus gekommen sei. Mir erzählte
er, was er den Ärzten nicht erzählt hatte: Mein Vater hatte
ihn mit einer Eisenstange verprügelt - die Art von Strafen, die
früher immer für mich reserviert waren. Ich bat meinen Drachen
daraufhin, meinen Eltern gegen den üblichen Kaufbetrag für
einen Jungen seines Alter das Sorgerecht zu entziehen und holte meinen
Bruder zu mir. Ein paar Jahre redete er davon, später einmal
Drachenreiter zu werden, doch als er alt genug dazu war, besuchte er
lieber eine gute Schule um später studieren zu können.
"Ich will kein Drachensklave werden." sagte er und von ihm
akzeptierte ich diese Worte, denn er meinte damit etwas anderes, als
Außenstehende es gewöhnlich meinen, wenn sie dasselbe
sagten.
Er wußte, daß unsere Drachen uns mit großer Liebe und
einer Hingabe, die bis zur Selbstverleugnung gehen kann, dienen,
daß sie aber dieselbe Hingabe und Liebe auch von uns erwarten. Und
er wollte lieber ein eigenständiges Leben leben.
"Mir scheint, ich muß zuerst einmal ein wenig über
Drachen erzählen, damit ihr mich verstehen könnnt. Darf ich
mich setzen?" fragte ich.
Zu meinem Glück hatte ich den Mann bei einer sehr langweiligen
Arbeit unterbrochen, so daß er froh um die Ablenkung war und
sich Zeit nahm, mir zuzuhören. Am Ende gab er mir vorerst die
Erlaubnis, zu tun, worum ich gebeten hatte. Er wollte sich zur
Sicherheit aber noch die Erlaubnis der vorgesetzten Stellen einholen.
Ich dankte ihn und machte mich an die Arbeit. Wie ich den Akten, in die
ich Einsicht nehmen durfte, entnehmen konnte, war Gorith tot. Von meinen
engeren Freunden unter den Drachenreitern war nur noch Phaerith am Leben
und deshalb war er der erste, zu dem ich hinging, um ihn zur Besinnung
zu bringen. Leider erreichte ich nicht mehr, als daß es mir
gelang, ihm etwas zu trinken einzuflößen. Auch die anderen
Reiter waren nahezu absolut apathisch. Am Abend war ich totmüde und
ziemlich entmutigt. Ich ging ins Büro des Gefängnisleiters und
erzählte ihm, daß ich es kaum geschafft hätte, auch nur
alle zum Trinken zu bewegen. Ob er mich nicht irgendwelche Hilfe
beschaffen könnte.
"Hilfe? Die einzigen Leute, über die ich zu befehlen habe, sind
die Wachmänner, die verhindern sollen, daß ihr einen Aufstand
plant."
"Einen Aufstand?" Ich lachte. Dann fragte ich: "Könnt
ihr ihnen nicht befehlen, dafür zu sorgen, daß jeder
zumindest ißt und trinkt?"
"Schon. Aber ich habe Angst vor dem, was dabei herauskommen
könnte. Das ist eine Truppe von Schlägern und Trunkenbolden.
Sie würden die Gefangenen nur noch mehr mißhandeln."
antwortete er.
"Die ein oder andere Ohrfeige schadet nichts. Im Endeffekt habe ich
jedem auch zuerst rechts und links eines um die Ohren gegeben. Die
Drachenreiter sind dermaßen in fremdem Schmerz gefangen,
daß man sie nur noch über körperlichen Schmerz in ihren
Körper zurückrufen kann. Wenn du dafür sorgen kannst,
daß es nicht ausartet, nutzt ein rauher Umgangston ihnen eher,
als zu schaden. Schau doch einfach mal in den Akten nach, ob es da
Leute gibt, denen du zutrauen würdest, daß sie sich
zumindest einigermaßen anständig verhalten - nur vielleicht
ein wenig mehr Gewalt anwenden als nötig. Wenn ich keine Hilfe
bekomme, werden sie verdursten. Und sorge dafür, daß die
Helfer nach dem Ende der Arbeit zu mir kommen, damit ich mit ihnen
reden kann. Ich gehe jetzt zum Drachen und halte die Nacht bei ihm
Wache, morgen werde ich tagsüber schlafen und ich verlasse mich
darauf, daß die anderen Reiter zumindest zum Trinken gebracht
werden." erklärte ich.
Danach wechselte ich Daeraith bei dem Drachen ab, schickte sie essen und schlafen. Ich hüllte den Drachen vollständig in mein Energiefeld ein füllte meinen Geist mit Frieden und streichelte den winzigen Drachenkörper. Der Drache rührte sich die ganze Nacht nicht und auch als Dhaeraith am nächsten Morgen die Wache übernahm, war er immer noch in demselben tiefen Schlaf befangen. Ich sagte ihr, daß sie ihn zum Trinken zwingen solle - und ansonsten immer im Frieden bleiben. Dann ging ich zu Bett.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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