FC6.

Der Gefängnisleiter

Ich ließ mir von ihr die Zellenschlüssel geben, ging aber erst zur Gefängnisleitung, um mir die Erlaubnis für mein Vorhaben einzuholen. Dhaeraith hatte nämlich nur die Erlaubnis, mich aus der Zelle zu holen.

Ich klopfte an die Bürotür. Ein kleiner dunkelhaariger Mann öffnete.
"Wer hat dir erlaubt, hier herumzurennen?" fragte der Mann barsch.
"Ich wollte gerade um Erlaubnis bitten." antwortete ich ruhig und hüllte mich in Frieden, als wolle ich einen Drachen beruhigen.
Es funktionierte.
"Das hier ist ein Gefängnis und kein Vergnügungshotel. Ab in die Zelle." sagte er merklich sanfter.
"Dhaeraith hat mich um Hilfe für ihren Drachen gebeten. Leider ist das eine Aufgabe, für die man mindestens fünf Menschen braucht, die sich abwechseln, denn in seinem Zustand muß ständig jemand bei dem Drachen Wache halten." erklärte ich.
"Das ist doch nur ein ausgeklügelter Fluchtplan. Ich kenne solche wie euch."
Ich sah den Mann erstaunt an. Wie kam er dazu, zu vermuten, daß sich mit Menschen, die völlig apathisch im Bett lagen und nicht einmal trinken wollten, so mir nichts dir nichts ein Fluchtplan durchsetzen ließ? Es würde schwierig genug sein, sie überhaupt zum Aufstehen zu bewegen.
"Aber selbstverständlich. Wenn ihr uns einen Platz nennt, an den zu fliehen es sich lohnt, uns verratet, wie wir dieses Gefängnis verlassen können, uns dann auch noch den Weg zeigt, wie wir problemlos dorthingelangen und uns schlagt, wenn wir nicht fliehen, dann würden wir selbstverständlich auch fliehen. Wenn ihr uns nicht schlagt, sind die meisten von uns leider zu apathisch um auch nur zu trinken." antwortete ich ironisch.
"Und - was hat der Drache mit dir gemacht, daß du nicht mehr so apathisch bist?"
"Nicht der Drache. Daeraith. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und mich angefleht, ihren Drachen zu retten. Und - funktioniert hat das nur, weil sie meine Freundin ist und der Drache die Schwester meines Drachen. Ihr Drache ist völlig in sich zurückgezogen und tut im Augenblick erst einmal gar nichts, außer sterben, wenn wir es zulassen. Und das will ich nicht." erklärte ich.
"Dann stimmt es also doch, daß Drachenreiter um ihres Drachen willen die eigene Familie verkaufen würden."
"Wie kommt ihr denn auf den Schwachsinn?" fragte ich empört zurück.
Natürlich kannte ich diese Unterstellung längst. Jeder Drachenreiter bekam sie von Außenstehenden wer weiß wie oft zu hören. Aber ganz gleich, was meine Familie mit mir angestellt hatte - es war immer noch meine Familie und ich liebte jeden von ihnen - auch wenn ich nur zu meinen beiden Brüdern noch Kontakt hatte, weil es niemanden etwas bringt, wenn ich mich ständig mit meinem greisen Vater streite, der inzwischen auf meine Kosten in einem kleinen Häuschen lebt. Meine Mutter ist längst gestorben. Ich glaubte nicht, daß ich mir um meine Familie Sorgen machen mußte. - Es sei denn, ich würde die Feinde darauf aufmerksam machen, daß ich Familie hatte, die mir etwas bedeutet.

In demselben Jahr als ich meinen Drachen für mich gewonnen hatte, war mein älterer Bruder auf die Universität geschickt worden. Als er nach einem Jahr das erste mal für längere Zeit nach Hause kam, bat ich, zur selben Zeit meine Familie besuchen zu dürfen. Der Vater meines Drachen brachte mich in mein Heimatdorf, damit ich meinen Bruder wiedersehen konnte.

Er erzählte damals die ganze Zeit nur von seinem Studium und anderen Studenten. Ich begann von Drachenreitern und Drachen zu erzählen. Bei ihm fanden sie es normal. Mir wurde vorgeworfen, ich wäre kein richtiger Mensch mehr, weil ich nur noch an Drachen denken würde. Ich war wegen dieser ungerechten Unterstellung zutiefst verletzt, denn ich hatte ja nichts anderes getan als mein Bruder, der auch nur von seinen neuen Bekannten redete.

Bei einem späteren Besuch lernte ich meinen kleinen Bruder kennen. Mein jüngster Bruder war damals noch keine drei Jahre alt und sah bewundernd zu mir auf. Bevor ich heimkehrte ließ ich ihn einmal auf dem Drachen reiten.

Ein Jahr später erhielt ich die Nachricht, daß er mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gekommen sei. Mir erzählte er, was er den Ärzten nicht erzählt hatte: Mein Vater hatte ihn mit einer Eisenstange verprügelt - die Art von Strafen, die früher immer für mich reserviert waren. Ich bat meinen Drachen daraufhin, meinen Eltern gegen den üblichen Kaufbetrag für einen Jungen seines Alter das Sorgerecht zu entziehen und holte meinen Bruder zu mir. Ein paar Jahre redete er davon, später einmal Drachenreiter zu werden, doch als er alt genug dazu war, besuchte er lieber eine gute Schule um später studieren zu können.
"Ich will kein Drachensklave werden." sagte er und von ihm akzeptierte ich diese Worte, denn er meinte damit etwas anderes, als Außenstehende es gewöhnlich meinen, wenn sie dasselbe sagten.
Er wußte, daß unsere Drachen uns mit großer Liebe und einer Hingabe, die bis zur Selbstverleugnung gehen kann, dienen, daß sie aber dieselbe Hingabe und Liebe auch von uns erwarten. Und er wollte lieber ein eigenständiges Leben leben.

"Mir scheint, ich muß zuerst einmal ein wenig über Drachen erzählen, damit ihr mich verstehen könnnt. Darf ich mich setzen?" fragte ich.
Zu meinem Glück hatte ich den Mann bei einer sehr langweiligen Arbeit unterbrochen, so daß er froh um die Ablenkung war und sich Zeit nahm, mir zuzuhören. Am Ende gab er mir vorerst die Erlaubnis, zu tun, worum ich gebeten hatte. Er wollte sich zur Sicherheit aber noch die Erlaubnis der vorgesetzten Stellen einholen. Ich dankte ihn und machte mich an die Arbeit. Wie ich den Akten, in die ich Einsicht nehmen durfte, entnehmen konnte, war Gorith tot. Von meinen engeren Freunden unter den Drachenreitern war nur noch Phaerith am Leben und deshalb war er der erste, zu dem ich hinging, um ihn zur Besinnung zu bringen. Leider erreichte ich nicht mehr, als daß es mir gelang, ihm etwas zu trinken einzuflößen. Auch die anderen Reiter waren nahezu absolut apathisch. Am Abend war ich totmüde und ziemlich entmutigt. Ich ging ins Büro des Gefängnisleiters und erzählte ihm, daß ich es kaum geschafft hätte, auch nur alle zum Trinken zu bewegen. Ob er mich nicht irgendwelche Hilfe beschaffen könnte.

"Hilfe? Die einzigen Leute, über die ich zu befehlen habe, sind die Wachmänner, die verhindern sollen, daß ihr einen Aufstand plant."
"Einen Aufstand?" Ich lachte. Dann fragte ich: "Könnt ihr ihnen nicht befehlen, dafür zu sorgen, daß jeder zumindest ißt und trinkt?"
"Schon. Aber ich habe Angst vor dem, was dabei herauskommen könnte. Das ist eine Truppe von Schlägern und Trunkenbolden. Sie würden die Gefangenen nur noch mehr mißhandeln." antwortete er.
"Die ein oder andere Ohrfeige schadet nichts. Im Endeffekt habe ich jedem auch zuerst rechts und links eines um die Ohren gegeben. Die Drachenreiter sind dermaßen in fremdem Schmerz gefangen, daß man sie nur noch über körperlichen Schmerz in ihren Körper zurückrufen kann. Wenn du dafür sorgen kannst, daß es nicht ausartet, nutzt ein rauher Umgangston ihnen eher, als zu schaden. Schau doch einfach mal in den Akten nach, ob es da Leute gibt, denen du zutrauen würdest, daß sie sich zumindest einigermaßen anständig verhalten - nur vielleicht ein wenig mehr Gewalt anwenden als nötig. Wenn ich keine Hilfe bekomme, werden sie verdursten. Und sorge dafür, daß die Helfer nach dem Ende der Arbeit zu mir kommen, damit ich mit ihnen reden kann. Ich gehe jetzt zum Drachen und halte die Nacht bei ihm Wache, morgen werde ich tagsüber schlafen und ich verlasse mich darauf, daß die anderen Reiter zumindest zum Trinken gebracht werden." erklärte ich.

Danach wechselte ich Daeraith bei dem Drachen ab, schickte sie essen und schlafen. Ich hüllte den Drachen vollständig in mein Energiefeld ein füllte meinen Geist mit Frieden und streichelte den winzigen Drachenkörper. Der Drache rührte sich die ganze Nacht nicht und auch als Dhaeraith am nächsten Morgen die Wache übernahm, war er immer noch in demselben tiefen Schlaf befangen. Ich sagte ihr, daß sie ihn zum Trinken zwingen solle - und ansonsten immer im Frieden bleiben. Dann ging ich zu Bett.

Kersti


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Thema: Drachen

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