Ich ging alleine hin. Vor dem Transporter wartete ein junger Mann auf
mich. Er trug die Uniform der Transportbegleiter und war sichtlich
erstaunt, daß ich ohne jeden sichtbaren Zwang kam.
"Weißt du, wo es hingeht?" fragte er.
"Ins Zentralkrankenhaus. Mir wurde gesagt, daß sie mir die Beine
abnehmen und die meisten inneren Organe." antwortete ich.
"Warum versuchst du dann nicht zu fliehen?" fragte er.
"Ich habe über zehn Jahre nach einem Fluchtweg gesucht und keinen
gefunden. Alles, was ich tun könnte, wären leere Gesten. Eine
Chance zu einer erfolgreichen Flucht sehe ich nicht." antwortete
ich.
Ich stieg in den Transporter. Der Wachmann folgte mir und betrachtete mich
nachdenklich. Dann fesselte er mir meinen einen Arm auf den Rücken.
Ich setzte mich auf die Bank und sah ihn schweigend an. Er erwiderte
meinen Blick und nach Minuten ruhigen Wartens fragte er
schließlich:
"Was ist das eigentlich für ein Gefühl, wenn man ohne
Betäubung operiert wird?"
Leise und ruhig beschrieb ich ihm die Operation, in der sie mir meinen Arm
abgenommen hatten. Das Gefühl, doch irgendetwas tun zu müssen,
wegrennen, schimpfen, dem anderen ins Gesicht spucken, und es doch nicht
zu können, denn wenn man es versucht, rührt sich der Körper
einfach nicht. Nur das Herz schlägt noch und das Zwerchfell sorgt
dafür, daß genug Luft in die Lunge kommt. Die Schmerzen, die
sich über Ewigkeiten hinzuziehen, scheinen und immer schlimmer
werden, obwohl ja jede Wunde so schnell wie möglich mit dem
Heilstrahler verheilt wird, damit man nicht zuviel blut verliert. Auch das
scheint eine Reaktion darauf zu sein, daß man nicht tun kann, was
tun zu müssen, man das Gefühl hat. Dann wird die Lähmung
ausgestellt und die längst geheilten Wunden tun immer noch weh -
Phantomschmerzen, denn es fehlt ja etwas zur Ganzheit des Körpers.
Die Jahre darauf, wie Leute mich anstarrten oder verspotteten, als
wäre es meine Schuld, daß sie mir Teile meines Körpers
geraubt haben.
"Und jetzt bin ich hier." endete ich.
Er stellte keine weitere Fragen, sah nur aus, als wäre ihm schlecht
geworden. Er führte mich zum Umkleideraum vor dem Operationsraum, wie
es seine Pflicht war und drückte mir kurz die Schulter. Ich
lächelte ihm zum Abschied nur zu, denn auch mir fielen keine
passenden Worte ein.
Der Mann kündigte noch an demselben Tag seine Stelle.
Ich aber zog mich aus, duschte mich wie vorgeschrieben und ging dann gehorsam in den Operationsraum. Die Ärzte erwarteten mich schon, schnallten mich auf der Operationsliege fest, stellten den Lähmstrahler an und begannen, indem sie die Bauchmuskulatur von den Rippen schnitten, mich umdrehten und die Wirbelsäule bis zum Hals von den Rippen abschnitten und so den gesamten Unterleib mitsamt allen inneren Organen außer der Leber und der Milz mit entfernten. Auch die Speiseröhre wurde oben am Kehlkopf abgeschnitten. Als nächstes wird das Herz herausgeschnitten und durch eine künstliche Pumpe ersetzt. Dann verschlossen sie die Wunde am Rücken mit dem Heilstrahler, so daß die Rippen am Rücken direkt aneinander festwachsen, ohne Wirbelsäule dazwischen. Dann wird die Öffnung im Zwerchfell verschlossen, Haut über die verbleibenden Organe gezogen, damit sie vor Luft geschützt sind. Dann gehen sie an den Kopf, ziehen die Kopfhaut mit den Haaren ab und schneiden einen Teil der Schädeldecke heraus. Das Loch wird nur mit Haut verschlossen. Zum Schluß entfernen sie die Nase. Sie schließen mich an ein kompliziertes Lebenserhaltungssystem an und rollen mich in einen Raum, wo viele Menschen gibt, denen es nicht besser geht als mir. Dann stellen sie den Lähmstrahler aus.
Zuerst falle ich in einen tiefen, komaartigen Schlaf. Als ich aufwache,
entdecke ich zu meiner Erleichterung, daß ich meinen Arm noch
bewegen und auch noch sprechen kann. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob
sie den Kehlkopf gleich mit und bis zu welchem Rückenwirbel sie die
Wirbelsäule herausgenommen hatten.
"Hallo?" sprach ich eine vorübergehende Ärztin an.
Sie sah ziemlich überrascht aus. Offensichtlich sprach hier fast
niemand mit ihr.
"Kannst du mir sagen, wie lange die Operation her ist?" fragte
ich.
Sie schaute im Computer meines Lebenerhaltungssystems nach und
antwortete:
"Drei Tage."
"Ist da schon eine neue Operation eingetragen?"
"Ja. In einer Woche."
"Was?"
"Alles."
Ich schwieg erst einmal einige Minuten. Sie ging weg. Dann, als sie wieder
einmal vorbeikam fragte ich:
"Kannst du mir einen Computer leihen? Ich will meine Erfahrungen hier
aufschreiben."
"Wozu?"
"Um sie ins Netz zu setzen."
"Und wer soll das machen?"
"Du kannst es einer Freundin mailen, die das für mich tut."
antwortete ich.
Sie sah mich an, als hätte eine Schnecke oder ein ähnliches Tier
ihr gerade einen gelehrten Vortrag gehalten, brachte mir aber am selben
Tag noch einen kleinen Computer und fand eine Möglichkeit Bildschirm
und Tastatur so zu befestigen, daß ich ohne große
Anstrengungen schreiben konnte.
In den nächsten Tagen stellte ich fest, daß schreiben Schwerstarbeit sein kann - jedenfalls mit so einem geschwächten und zerstörten Körper, wie meiner es war. Aber es hielt mich Gottseidank auch davon ab, mir all die hunderttausend Foltermethoden ins Gedächtnis zu rufen, die ich in früheren Leben schon erlebt hatte. Es war eine erstaunlich wirkungsvolle Methode, dafür zu sorgen, daß ich zu meinen augenblicklichen Problemen, die ja schwierig genug waren, nicht noch schlimmere hinzuerfand, die sich ergeben könnten. Und außerdem war die Ärztin wirklich so nett, es der Psychologin zu schicken, die es ins Internet zu der Fassung meiner Geschichte setzte, die ich für die einfachen Leute geschrieben hatte. - Also die, wo der psychologischer Sermon fehlte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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