FC22.

Zentralkrankenhaus

Am nächsten Tag schrieb ich das letzte Kapitel und am übernächsten Tag, kam der Transporter, der mich ins Zentralkrankenhaus brachte.

Ich ging alleine hin. Vor dem Transporter wartete ein junger Mann auf mich. Er trug die Uniform der Transportbegleiter und war sichtlich erstaunt, daß ich ohne jeden sichtbaren Zwang kam.
"Weißt du, wo es hingeht?" fragte er.
"Ins Zentralkrankenhaus. Mir wurde gesagt, daß sie mir die Beine abnehmen und die meisten inneren Organe." antwortete ich.
"Warum versuchst du dann nicht zu fliehen?" fragte er.
"Ich habe über zehn Jahre nach einem Fluchtweg gesucht und keinen gefunden. Alles, was ich tun könnte, wären leere Gesten. Eine Chance zu einer erfolgreichen Flucht sehe ich nicht." antwortete ich.
Ich stieg in den Transporter. Der Wachmann folgte mir und betrachtete mich nachdenklich. Dann fesselte er mir meinen einen Arm auf den Rücken. Ich setzte mich auf die Bank und sah ihn schweigend an. Er erwiderte meinen Blick und nach Minuten ruhigen Wartens fragte er schließlich:
"Was ist das eigentlich für ein Gefühl, wenn man ohne Betäubung operiert wird?"

Leise und ruhig beschrieb ich ihm die Operation, in der sie mir meinen Arm abgenommen hatten. Das Gefühl, doch irgendetwas tun zu müssen, wegrennen, schimpfen, dem anderen ins Gesicht spucken, und es doch nicht zu können, denn wenn man es versucht, rührt sich der Körper einfach nicht. Nur das Herz schlägt noch und das Zwerchfell sorgt dafür, daß genug Luft in die Lunge kommt. Die Schmerzen, die sich über Ewigkeiten hinzuziehen, scheinen und immer schlimmer werden, obwohl ja jede Wunde so schnell wie möglich mit dem Heilstrahler verheilt wird, damit man nicht zuviel blut verliert. Auch das scheint eine Reaktion darauf zu sein, daß man nicht tun kann, was tun zu müssen, man das Gefühl hat. Dann wird die Lähmung ausgestellt und die längst geheilten Wunden tun immer noch weh - Phantomschmerzen, denn es fehlt ja etwas zur Ganzheit des Körpers. Die Jahre darauf, wie Leute mich anstarrten oder verspotteten, als wäre es meine Schuld, daß sie mir Teile meines Körpers geraubt haben.
"Und jetzt bin ich hier." endete ich.
Er stellte keine weitere Fragen, sah nur aus, als wäre ihm schlecht geworden. Er führte mich zum Umkleideraum vor dem Operationsraum, wie es seine Pflicht war und drückte mir kurz die Schulter. Ich lächelte ihm zum Abschied nur zu, denn auch mir fielen keine passenden Worte ein.

Der Mann kündigte noch an demselben Tag seine Stelle.

Ich aber zog mich aus, duschte mich wie vorgeschrieben und ging dann gehorsam in den Operationsraum. Die Ärzte erwarteten mich schon, schnallten mich auf der Operationsliege fest, stellten den Lähmstrahler an und begannen, indem sie die Bauchmuskulatur von den Rippen schnitten, mich umdrehten und die Wirbelsäule bis zum Hals von den Rippen abschnitten und so den gesamten Unterleib mitsamt allen inneren Organen außer der Leber und der Milz mit entfernten. Auch die Speiseröhre wurde oben am Kehlkopf abgeschnitten. Als nächstes wird das Herz herausgeschnitten und durch eine künstliche Pumpe ersetzt. Dann verschlossen sie die Wunde am Rücken mit dem Heilstrahler, so daß die Rippen am Rücken direkt aneinander festwachsen, ohne Wirbelsäule dazwischen. Dann wird die Öffnung im Zwerchfell verschlossen, Haut über die verbleibenden Organe gezogen, damit sie vor Luft geschützt sind. Dann gehen sie an den Kopf, ziehen die Kopfhaut mit den Haaren ab und schneiden einen Teil der Schädeldecke heraus. Das Loch wird nur mit Haut verschlossen. Zum Schluß entfernen sie die Nase. Sie schließen mich an ein kompliziertes Lebenserhaltungssystem an und rollen mich in einen Raum, wo viele Menschen gibt, denen es nicht besser geht als mir. Dann stellen sie den Lähmstrahler aus.

Zuerst falle ich in einen tiefen, komaartigen Schlaf. Als ich aufwache, entdecke ich zu meiner Erleichterung, daß ich meinen Arm noch bewegen und auch noch sprechen kann. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie den Kehlkopf gleich mit und bis zu welchem Rückenwirbel sie die Wirbelsäule herausgenommen hatten.
"Hallo?" sprach ich eine vorübergehende Ärztin an.
Sie sah ziemlich überrascht aus. Offensichtlich sprach hier fast niemand mit ihr.
"Kannst du mir sagen, wie lange die Operation her ist?" fragte ich.
Sie schaute im Computer meines Lebenerhaltungssystems nach und antwortete:
"Drei Tage."
"Ist da schon eine neue Operation eingetragen?"
"Ja. In einer Woche."
"Was?"
"Alles."
Ich schwieg erst einmal einige Minuten. Sie ging weg. Dann, als sie wieder einmal vorbeikam fragte ich:
"Kannst du mir einen Computer leihen? Ich will meine Erfahrungen hier aufschreiben."
"Wozu?"
"Um sie ins Netz zu setzen."
"Und wer soll das machen?"
"Du kannst es einer Freundin mailen, die das für mich tut." antwortete ich.
Sie sah mich an, als hätte eine Schnecke oder ein ähnliches Tier ihr gerade einen gelehrten Vortrag gehalten, brachte mir aber am selben Tag noch einen kleinen Computer und fand eine Möglichkeit Bildschirm und Tastatur so zu befestigen, daß ich ohne große Anstrengungen schreiben konnte.

In den nächsten Tagen stellte ich fest, daß schreiben Schwerstarbeit sein kann - jedenfalls mit so einem geschwächten und zerstörten Körper, wie meiner es war. Aber es hielt mich Gottseidank auch davon ab, mir all die hunderttausend Foltermethoden ins Gedächtnis zu rufen, die ich in früheren Leben schon erlebt hatte. Es war eine erstaunlich wirkungsvolle Methode, dafür zu sorgen, daß ich zu meinen augenblicklichen Problemen, die ja schwierig genug waren, nicht noch schlimmere hinzuerfand, die sich ergeben könnten. Und außerdem war die Ärztin wirklich so nett, es der Psychologin zu schicken, die es ins Internet zu der Fassung meiner Geschichte setzte, die ich für die einfachen Leute geschrieben hatte. - Also die, wo der psychologischer Sermon fehlte.

Kersti


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