FD11.

Aufwachen

Nach diesen drei Wochen wurde das Gerät ausgestellt und ich schlief endlich ein. "Torey? Du bist wach?" sagte er leise.
"Wie lange habe ich geschlafen, nachdem sie das Ding ausgestellt haben?" fragte ich.
Sprechen war schwierig, denn dadurch daß die Muskeln der rechten Wange fehlten, war es schwierig die Worte richtig zu artikulieren.
"Eine Woche." antwortete er.
"Ich habe Hunger. Kannst du mir etwas zu essen holen?" fragte ich.
"Sofort." antwortete er und ging.

Ich zog die Infusionsnadel mit den Zähnen aus dem Arm und tastete dann die Seite des Körpers ab, die sie operiert hatten. Dort fühlte sich nahezu nichts mehr normal an. Haare fehlten, wo mein Ohr gewesen war, war nur noch ein tiefes Loch. Arm und Schulter waren ab, die Rippen fühlten sich durch die dünne Haut an, als wäre ich fast verhungert, der Herzschlag dagegen war zu stark zu spüren. Dann kam ein tiefes Loch wo einmal die herausgeschnittenen inneren Organe gewesen waren. Es reichte fast bis zur Mitte des Körpers. Und wo das Bein angewachsen war, war nur noch der Hüftknochen und eine hautüberzogene Gelenkpfanne, ohne jedes Fleisch, nur Haut und Knochen. Fast die Hälfte meines Körpers fehlte mir. Eigentlich hatte ich es ja längst gewußt. Und doch machte es mich sehr traurig.

Dann überlegte ich, ob ich mich setzen konnte, obwohl ich nur noch ein Bein hatte. Ja es ging - wenn ich den rechten Fuß dahin tat, wo normalerweise die linke Pobacke gewesen wäre, dann könnte ich sitzen. Ich probierte es aus und war erschreckt, wie schwach ich mich fühlte. Ich kippte sofort wieder um und versuchte es ein zweites mal, diesmal vorsichtiger. Es gelang mir sitzenzubleiben, wenn auch nur mit Mühe. Von diesen wenigen Bewegungen war ich klatschnaß geschwitzt.

Schritte näherten sich und Odin fragte:
"Torey, was machst du?"
"Ich setze mich hin. Nimmst du mich in den Arm?"
Odin setzte sich neben mich und nahm mich in den Arm. Immer noch war er abgesehen von einem Finger seiner Hand unversehrt. Ich lehnte mich mit meiner operierten Seite an ihn und er legte mir den Arm um die Schultern.
"Wo ist der Arzt? Er hat versprochen, daß er bei dir bleibt, bis ich wiederkomme." fragte Odin.
"Ich habe ihn Essen holen geschickt." antwortete ich.
"Essen holen? Du hast es aber eilig."
"Ich muß doch Darith besuchen. Er vermißt mich bestimmt fürchterlich."
"Das tut er. Er hat oft nach dir gefragt und hätte dich gerne besucht. Aber er weiß auch, daß du jetzt wirklich nicht zu ihm kommen kannst." antwortete Odin.
"Ich will ihn aber besuchen." sagte ich störrisch.
"Warte noch ein paar Tage. Jetzt bist Du noch zu schwach." widersprach Odin.
Ich schaute auf, als ich die vertrauten Schritte des Arztes hörte. Aufschauen ist natürlich ein komisches Wort, wenn man nichts mehr sieht.
"Kores?" fragte ich.
"Ja. Es gibt Suppe. Soll ich dich füttern?" antwortete er.
"Nein. Halte nur den Teller fest. Meinen Mund finde ich noch selbst."
Die ersten Löffel aß ich tatsächlich selbst, doch bald war ich so müde, daß ich nicht einmal mehr den Löffel halten konnte. Und am Ende fütterte Kores mich doch und ich schlief wieder ein, bevor ich die Suppe auf hatte.

Später sagten sie mir, daß ich drei Tage geschlafen hatte und als ich aufwachte, hing ich wieder am Tropf. Einer der Anderen war gerade dabei, den Beutel am künstlichen Darmausgang zu wechseln. Also wartete ich ab, bis er fertig war. Danach fragte ich nach etwas zu essen und zog die Nadel wieder heraus. Ein Mädchen antwortete mir und brache nach einer kurzen Verzögerung Suppe ans Bett. Diesmal funktionierte es mit dem Hinsetzen schon besser und es gelang mir, die Suppe ohne Hilfe zu essen. Doch danach war ich wieder so totmüde, daß ich sofort einschlief.

Als ich das nächste mal aufwachte hatten sie es nicht für nötig gehalten, mich erneut an den Tropf zu hängen. Zwei Tage später bleibe ich endlich lange genug wach, um mein Vorhaben, Darith zu besuchen, tatsächlich umzusetzen. Odin stützte mich, während ich mit mehreren Pausen auf einem Bein dorthinhüpfe, dann lasse ich mich erschöpft auf das Bett sinken, in dem er liegt.
"Torey, du bist wirklich gekommen?" fragte Darith erstaunt.
"Ja. Warum hätte ich nicht kommen sollen?" fragte ich.
"Niemand steht so schnell auf, wenn ihm so viel abgeschnitten wurde." sagte Darith.
Ich brauchte nur in mich hineinzuhorchen, um ganz genau zu wissen, warum niemand so schnell wieder auf die Beine kam. Aber das hieße, mir all der Schmerzen und all der Hoffnungslosigkeit wieder bewußt zu werden - genau das war ja der Grund, warum ich so schnell wie möglich hatte aufstehen wollen. Wenn ich mich um die Probleme der anderen kümmere, habe ich keine Zeit, an meinen eigenen Problemen zu verzweifeln.
"Das stimmt nicht. Ich bin aufgestanden." widersprach ich.

Ich kam wieder einigermaßen auf die Beine - na ja, ich hatte ja nur noch eins, aber auf dem hüpfte ich kreuz und quer durch den Lebensraum und kümmerte mich um andere.

Kores nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, daß Torey sich durch die Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren, überhaupt nicht verändert zu haben schien. Er legte eine bewundernswerte Energie an den Tag, um ins Leben zurückzukehren. Kores hatte gefürchtet, daß auch Torey sich selbst aufgeben könnte, wie so viele der Reserven es nach der zweiten bis dritten Operation taten. Danach mußten sie dann oft selbst zum Essen gezwungen werden.

Aus den Unterlagen wußte Kores, das solche Fälle in den letzten zwanzig Jahren seltener geworden waren und er hegte den Verdacht, daß es auf Toreys Fürsorgekreis zurückzuführen war.

Kores wußte, daß manche Menschen glaubten, daß Menschen immer wieder in unterschiedlichen Körpern zur Welt kommen. Er fragte sich jetzt langsam, ob es das wirklich gab, ob Torey extra hier zur Welt gekommen war, weil er die Situation hier ändern wollte. Und wenn, hatte er bewundernswert viel geschafft - wenn man bedachte, daß er eigentlich gar keine Macht hatte.

Kersti


FD12. Kersti: Fortsetzung: Der kleine Torey
FD10. Kersti: Voriges: Danach...
FDI. Kersti: Inhaltsübersicht: Ersatzteil...
FD1. Kersti: Zum Anfang: Torey komm zum Ausgang
Thema: Atlantis

V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben

Sonstiges
Kersti: Hauptseite
Kersti: Suche und Links
Kersti: Über Philosophie und Autorin dieser Seite

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/     E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.