Gefallene Engel


Der Untote

FF8.

Retias Heirat

Eines Tages entdeckte ich sie. Sie war allein in den Wald gegangen und saß dort unter einem großen Baum und weinte. Ich trat aus dem Gebüsch und sprach sie an:
"Retia?"
Sie schaute auf und sah mich an. Zuerst überraschte es mich, daß sie mich nicht sofort erkannte, dann wurde mir klar, daß es ja daran lag, daß ich einen neuen Körper hatte.
"Ich bin es. Elken." sagte ich.
"Aber du siehst doch gar nicht wie Elken aus."
"Das ist kein Wunder. Sie haben doch meinen alten Körper kaputtgemacht und ich habe mir einen neuen genommen. Ich habe dir doch erzählt, wie ich das immer mache." sagte ich.
"Ja. Und jetzt siehst du so aus? Aber warum hast du nur einen Arm?"
"Ich habe halt keinen besseren Körper gefunden. Aber warum weinst du?" sagte ich.
"Ich soll heiraten."
"Das ist doch schön. Die meisten Mädchen freuen sich, wenn sie heiraten dürfen." antwortete ich.
"Aber ich will dich!" rief sie leidenschaftlich und brach dann in Tränen aus.

Ich sah sie an, und überlegte, wie es wäre, sie zu heiraten. Ich stellte es mir sehr genau vor und merkte, daß sie dann als Ausgestoßene leben müßte - das würde sie nicht überleben. Sie war nicht so unsterblich wie ich und selbst für mich war es ein sehr hartes Leben, was ich nur überlebte, weil ich nicht sterben konnte, ehe mein Körper zu Staub zerfallen ist.
"Retia, ich weiß, wie sehr du mich liebst und das ist das schönste, was ich in meinem Leben kenne. Aber wenn du mich heiratetest, würde daraus kein Glück entstehen, weder für mich noch für dich. Wenn du mit mir schlafen würdest, könnte das dich nicht erfreuen - und es würde etwas in deinem Körper zerstören, so daß du keine Kinder mehr bekommen kannst. Du würdest mit mir gejagt und verfolgt - und bald wäre ich dann Witwer und würde lange, lange um dich trauern, denn ich kann nicht einfach sterben. Retia. Heirate den Mann, den deine Eltern für dich erwählt haben, wenn er ein guter Mann ist. Teile dein Leben mit ihm. Ich werde in der Nähe bleiben, mich an deinem Glück freuen und dich regelmäßig besuchen. Davon haben wir beide mehr."
Es dauerte lange, bis ich sie überzeugt hatte - aber sie heiratete - und mich erfüllte bitterster Neid, wenn ich ihren Ehemann beobachtete. Neid um sein friedliches, normales Leben. Neid, keine Eifersucht, denn Retias Liebe, konnte er mir nicht nehmen. Genausowenig wie ich ihm ihre Liebe nehmen konnte, die nach und nach in ihr keimte.

Jahre später - der Mann hatte sich längst daran gewöhnt, daß das Brennholz von alleine, fertig zerkleinert und sorgfältig gestapelt an der Hüttenwand auftauchte und daran, daß der Acker morgends gepflügt war und nur noch eingesät werden zu brauchte. Er hatte sich daran gewöhnt, daß seine Frau dem Geist des Waldes regelmäßig Brot brachte. Aber er hatte mich noch nicht gesehen. Sie bekam zwei Kinder, von denen ich mir immer gewünscht habe, sie könnten meine Kinder sein. Liebe Wesen, die mich kennen und lieben lernten.

Dann entdeckte ihr Mann mich, als ich gerade mit Retia sprach. Er stieß zuerst einen Ensetzensschrei aus, als er meine durch Narben verunstaltete leichenblasse Gestalt sah, dann griff er an, weil er glaubte, seine Frau sei in Gefahr. Retia warf sich im letzten Augenblick mit einen "Nein!" dazwischen. Entsetzt sah ich, daß der Schlag, der mir zugedacht war, sie traf. Sprang den Mann an, entwand ihm die Waffe und befahl ihm, mich wenigstens, wenn er sonst nichts vernünftiges zu tun wisse, jetzt ungestört heilen zu lassen. Dann heilte ich ihre Wunde. Er schaute ungläubig zu wie der tiefe Schnitt, an dem sie nur zu leicht hätte verbluten können, innerhalb von Sekundenbruchteilen zu einer scheinbar lang verheilten Narbe wurde. Es war sehr viel besser verheilt, als mir das bei meinen Leichenkörpern je gelungen war, denn sie lebte richtig.

"Bist du verletzt?" fragte ich den Mann.
"Nein. Nur ein blauer Fleck."
"Zeig her."
Ich erspürte die geplatzte Ader und verschloß sie. Ich hatte wieder einmal viel zu hart zugefaßt. Mein Gefühl für meinen Leichenkörper war einfach nicht differenziert genug, um feine Handarbeiten tun zu können. Den Pflug ziehen konnte ich - oder Holz hacken. Aber wenn ich jemandem nur sanft in die Hand nehmen wollte, tat ich ihm immer weh. - Also lernte ich, Menschen niemals richtig festzuhalten, wenn ich sie trug, nur den Arm so zu halten, daß sie ausreichend Stütze hatten und ansonsten sie selbst sich festhalten zu lassen.

"So, du Narr - du hättest sie beinahe umgebracht, weil du so versessen darauf warst, mich umzubringen. Und ich wäre wieder schuld gewesen... Ich hoffe, du hast daraus gelernt. Jetzt sei zumindest so klug, diese Geschichte nicht im Dorf herumzuerzählen. Sonst wird sich die Angst der Menschen vor mir nämlich gegen eure ganze Familie richten." sagte ich.
Dann sah ich Retia wieder an und stellte zu meiner Verwunderung fest, daß sie schlief. Es war ein ganz normaler Schlaf - und würde ihr sicher guttun.
"Bring sie in ihr Bett, damit sie sich ausschlafen kann." befahl ich und ging.
Er hob sie hoch und trug sie ins Haus. Ich wünschte, ich könnte auch schlafen. Auch wenn ich mich selbst nicht erinnern konnte, jemals geschlafen zu haben.

Zum Schweigen war er nicht klug genug. Er erzählte es im ganzen Dorf herum.

Zwei Tage später kamen die Erwachsenen des Dorfes zur Hütte, umzingelten sie und holten Retia und ihren Mann heraus. Ich war mit den Kindern im nahen Wald, befahl ihnen, sich zu verstecken und rannte dann zum Haus hinüber. Doch ich war nicht schnell genug. Sie waren längst tot, als ich ankam und die Menschen schreiend vor mir davonrannten. Zwei zerfetzte Leichname, deren Besitzern ich gewiß keinen Gefallen getan hätte, wenn ich das wieder zusammengeflickt und sie zurückgerufen hätte. Es hätte zuviele Schmerzen für den Rest ihres Lebens bedeutet. Ich brach zusammen und weinte, weinte bis die Kinder mich schüttelten. Einfach nur berühren hatte nichts gebracht, weil meine Wahrnehmungen dieses Körpers nicht fein genug waren, daß ich es bemerkt hätte. Dann sah ich sie an.
"Ich bin Schuld. Wegen mir sind sie jetzt tot." sage ich.
Die Kinder versichterten mir, daß ich nicht schuld bin.
"Du hast ja die bösen Leute vertrieben."

Irgendjemand mußte sich um sie kümmern. Also brachte ich sie zu ihren Großeltern in dem Dorf, in dem Retia aufgewachsen war. Ich achtete darauf, daß mich niemand sah und brachte ihnen nach und nach alle Vorräte aus der Hütte ihrer Eltern in das Dorf der Großeltern. Dort konnte ich aber nicht bleiben, weil sie mitten in einem Dorf lebten in dem ich nicht willkommen war. Also ging ich, nachdem ich den Kindern die Vorräte aus der Hütte ihrer Eltern gebracht hatte, wieder hinaus in die Wildnis.

Da ich mich immer noch am Tod der Retia schuldig fühlte, wagte ich nicht, wieder Kontakt mit Menschen aufzunehmen. Es könnte ja sein, daß ich jeden Menschen, den ich liebte mit ins Unglück reißen würde. Doch jedesmal, wenn ich Menschen sah, beneidete ich sie darum, daß jeder von ihnen eine Familie hatte, die ihn liebte und ich war ganz allein.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


FF9. Kersti: Folgendes: Golem
FF7. Kersti: Voriges: Retias Heirat
FFI. Kersti: Inhalt: Gefallene Engel
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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