erste Version: 3/2004
letzte Bearbeitung: 2/2011
Er hatte gelernt, daß es die vornehmste Aufgabe eines Schutzengels ist, Sünder wieder auf den rechten Weg zu führen - und als er gesehen hatte, daß keiner seiner Freunde sich dafür hergeben wollte, hatte ihn das geärgert - Wie konnten sie irgendwen so im Stich lassen? Es waren doch alles Kinder Gottes! Also hatte er sich freiwillig gemeldet.
Er wurde daraufhin zu einem Engel geschickt, der so hoch in der Hierarchie stand, daß er nie geglaubt hätte mit so einem je in direkten Kontakt zu kommen.
Schließlich war es so weit. Er tauchte an dem Ort auf, wo er seine Arbeit beginnen sollte und stellte fest, daß schon sehr viele Schutzengel dort versammelt waren.
Die anderen waren ein wenig älter und erfahrener als er. Durchweg hatten sie schon eine Seele geführt, bis sie keinen Schutzengel mehr brauchte, weil sie in die höheren Welten aufstieg. Sie hatten die Schützlinge schon untereinander aufgeteilt.
"Nur an den wagt sich keiner heran. Der ist uns zu stark, niemand
von uns traut sich zu, ihn zu führen."
Der von dem sie redeten war der Führer der kleinen Gemeinschaft an
gefallenen Engeln, die gerade ihr erstes Leben als Menschen gelebt
hatten. Er hatte eine deutlich klarere Aura als die anderen, die als
einzige keinerlei Anzeichen für sadistische Neigungen trug. Er war
doch in Ordnung. Was hatten die anderen gegen ihn?
Also übernahm der Jüngste der Schutzengel mich, den Führer der kleinen Gemeinschaft.
Einen Augenblick verharrte ich zögernd bei meinem toten Körper, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf eine der höheren Welten.
Dort war ein junges leuchtendes Wesen, das ich nicht kannte. Es kam auch mich zu, als wollte es etwas von mir.
"Wer bist du?" fragte ich überrascht.
"Ich bin dein Schutzengel."
"Was ist ein Schutzengel und was willst du von mir?"
"Jeder Mensch hat einen Schutzengel."
"Und warum hatte ich dann die ganze Zeit keinen?"
"Du warst kein Mensch. Du warst ein Verdammter und es war ein Teil
deiner Strafe, daß du keine Hilfe bei der Planung deiner
Zukunft erhalten solltest. Deine Schulden hast du noch längst nicht
abgetragen. Du mußt noch sehr viel Unrecht wieder gut
machen."
"Welches Unrecht? Wofür könnte man SO eine Strafe verdient
haben?" fragte ich zurück und dachte an die grausame Zeit als
Untoter.
"Du hast es verdient. Du hast viele hundert bewohnte Planeten ins
Unglück gerissen. Du bist an allem Unrecht schuld, was hier
geschieht. Keine Strafe könnte dem gerecht werden."
(Tatsächlich hat hier eine von Tiuval verdrängte Gerichtsverhandlung stattgefunden siehe
)
Bittere Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hatte Jahrtausende gearbeitet, um so weit wieder freizukommen, daß ich als Mensch zur Welt kommen konnte. Ich hatte gehofft, daß ich jetzt endlich ganz normal leben könnte wie ein Mensch, daß ich endlich nicht mehr von jedem wie der letzte Dreck behandelt würde - und jetzt das!
Nach Stunden raffte ich mich endlich wieder auf und fragte:
"Ich habe das Gefühl an allem Schuld zu haben - nur habe ich
das auch bei Dingen, die ich eindeutig nicht gemacht habe. Und ich habe
keine Erinnerungen an das, was ich getan haben soll. Woher weiß,
ich , daß ich es tatsächlich getan habe? Woher weiß
ich, daß nicht deine Herren mir die Schuld an Dingen geben, die
sie selber verursacht haben?"
"Jeder weiß es!"
"Ich weiß es nicht."
"Dir mangelt es an Vertrauen." tadelte der Engel mich.
"Das tut mir leid - aber ich kann nicht vertrauen. So weit ich dich
verstanden habe, wart ihr diejenigen, die mir all das Schlimme
angetan haben, an das ich mich erinnern kann. Die Menschen haben nur aus
Unwissenheit und Angst gehandelt, ihnen kann ich das nicht vorwerfen,
was sie getan haben.
Und ich habe keinerlei Beweis - oder Erinnerung, was ich Böses
getan haben soll. Was genau wird mir denn vorgeworfen?"
"Eure Taten sind so schlimm, daß man schon daran sterben
könnte, wenn man sie nacherlebt, deshalb stehen sie unter
Quarantäne."
"Das klingt mir als wollten sie mir weismachen, ich hätte etwas
getan, was ich nicht getan habe."
"Dir mangelt es an Vertrauen."
Diesmal war der Tadel weitaus schärfer.
"Ja. Tut mir leid. Doch wer nichts zu verbergen hat, verbirgt nicht
meine eigenen Erinnerungen vor mir." widersprach ich.
"Dir mangelt es an Vertrauen."
Ich zögerte - diesmal enthielten die Worte eine so scharfen Tadel,
daß ich nicht wagte, weiterzufragen - nach kurzer Überlegung,
sagte ich:
"Tut mir leid. Ich bringe es einfach nicht fertig, vorbehaltslos zu
vertrauen. Ich habe zu viel Schlimmes erlebt."
Und ich hatte den dringenden Verdacht, daß der junge Engel es vor
lauter Ehrfurcht nie wagen würde, Vorgesetzte in Frage zu stellen,
die so hoch über ihm standen, wie die, die mich so bestraft
hatten.
Ich besann mich kurz und fragte dann:
"Du sagtest, du würdest mir bei der Lebensplanung
helfen?"
"Genauer gesagt, wirst du dieses Leben leben, um deine Schulden ein
klein wenig abzutragen."
Ich betrachtete den Gedankenkristall mit den Szenen, die für jenes
Leben als mögliche Varianten geplant waren, und erstarrte entsetzt.
Warum verlangten sie von mir, daß ich ein ganzes Leben lebte, das
nur aus Foltern bestand? Mußte ich das wirklich hinnehmen?
Prüfend musterte ich den Schutzengel - er sah so jung aus, so schutzlos, unsicher. Er fühlte sich im Unrecht, daß er mir das aufbrummen mußte und er hatte Angst, daß ich das Leben nicht annehmen könnte. Richtige Angst. Warum? Er hatte etwas Freundliches an sich, schien ich aufrichtig zu mögen. Nein, ich wollte es mir nicht mit ihm verderben. Außerdem würde mich das nicht davon abhalten können, weiter an meiner Befreiung zu arbeiten. Wenn seine Vorgesetzten aber wieder tun würden, was sie mir schon einmal angetan hatten, dann stände ich wieder ganz am Anfang - und das wollte ich nicht riskieren.
"Also gut, ich tue was du sagst." beschloß ich.
Der Engel war verblüfft und wirkte, als hätte
er die Forderung, daß ich dieses Leben leben
solle, am liebsten zurückgenommen. Er tat es
aber nicht. Oh verdammt - offensichtlich war
da etwas noch häßlicheres im Gange, als ich
schon von vorneherein befürchtet hatte.
Ich wollte, daß der Engel mir vertraut - und vertrauen würde
er mir nur, wenn er mich verstand.
"Also gut. Ich mache dir eine vollständige Kopie der
Erinnerungen, die ich noch habe, damit du sie dir in Ruhe anschauen
kannst." sagte ich ihm.
Er wirkte verblüfft, als ich das tat.
"Ich verstehe nicht - wie ist es möglich - er soll doch einer
der Bösesten der Bösen sein - warum ist er dann so nachgiebig
und freundlich. Warum kümmert er sich so sorgfältig um seine
Gefährten? Warum nimmt er jedes Unrecht friedlich hin, tut aber
selber kein Unrecht? Ich habe ihn Jahre beobachtet und er hat nichts
Schlimmes getan - als einziger von allen Menschen, die ich beobachtet
habe."
"Das muß dich nicht wundern. Er war einer der
Größten unter den Engeln, er ist von allen am tiefsten
gefallen - und dennoch zählt er zu den ersten, die es wieder bis
zur menschlichen Stufe geschafft haben. Wenn er schlecht gehandelt
hätte, hätte er das niemals schaffen können."
"Aber wenn er so ist - wie kann er dann etwas getan haben, für
das er diese Strafe verdient?"
"Das mußt du mich nicht fragen. Ich habe ihn nie
verstanden."
"Aber - du hast über ihn geurteilt! Wie kannst du über
jemanden urteilen, den du nicht verstanden hast?"
"Das endgültige Urteil habe nicht ich gesprochen, sondern die
Höheren. Und sie werden ihre Gründe haben."
Der junge Schutzengel starrte sie verwirrt an. Er
wagte nicht weiterzufragen, denn die letzte Antwort
hatte zu scharf geklungen, zu tadelnd.
Selbst wenn jemand anders das endgültige Urteil gesprochen hatte, hätte Arahya diesem Urteil zustimmen müssen, und das durfte sie nur, wenn sie den Angeklagten verstanden hatte. Konnte es sein, daß der Gefallene Engel recht hatte, wenn er meinte, ihm sei Unrecht getan worden, überlegte der Schutzengel.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/,
Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal
im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von
Lesern immer bekomme.
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