An all diese Regeln hielt ich mich gewissenhaft, denn obgleich ich eigentlich der Ansicht war, daß ich genausogut für solche Aufgaben geeignet wäre wie sie - und daß ich eine solche Aufgabe wollte - lebte ich doch nicht das Leben einer Linuartina und es wäre gefährlich gewesen, ihr in die Arbeit hineinzupfuschen. Nicht nur für sie, sondern für das ganze Land. Nach diesen Zeiten war ich immer sehr traurig, weil es mich so daran erinnerte, was ich eigentlich in meinem Leben hatte machen wollen.
Eines Tages - am Ende der drei Tage, wo die
Linuartina arbeiten sollte - kam sie zu mir
heraus.
"Was tust du hier? Du weißt doch, daß du nach einem Kontakt
zu Außenstehenden wie mir erst ein halbes Jahr der Reinigung
einlegen mußt, ehe du wieder arbeiten kannst." tadelte ich
sie.
"Die Arbeit hier ist erledigt und ich mache danach sowieso ein paar
Jahre Urlaub bei meiner Familie und will Kinder bekommen. Meine Schwester
wird sie aufziehen, wenn ich zu meiner Arbeit zurückkehre."
"Ach so." sagte ich besänftigt.
"Aber warum ich eigentlich komme: Ich wollte fragen, warum hier alles
so anders ist als an den anderen Außenposten."
"Wie anders?"
"Sauber, ordentlich, die Sicherheitsvorschriften werden beachtet. Die
Räume sind mit reiner Energie gefüllt. Wenn auch längst
nicht alle Arbeit getan ist."
"Ich kann dir zumindest sagen, warum es anderswo nicht so ist: Die
Arbeit ist nicht einmal in der doppelten vorgesehenen Arbeitszeit zu
schaffen. Ich beschwere mich seit zwei Jahren bei jedem, der mir lange
genug zuhört, um die Beschwerde anzuhören." erklärte
ich.
"Das glaubst du doch selber nicht!" widersprach sie.
"Schau in meinen Erinnerungen nach. Aber laß uns dazu hoch ins
Haus gehen. Dort sind die Bedingungen dazu besser." sagte ich.
"Was soll ich mit deinen Erinnerungen - ich gehöre nicht zu deiner
Familie und bin nicht deine Geliebte." sagte sie.
"Irgendjemanden muß ich überzeugen. Mein Vater hört mir
nicht zu und mein Bruder ist in Hochheiligen Bezirk des Tempels in
Ausbildung. Du hörst mir wenigstens so weit zu." antwortete
ich.
Sie sah mich zuerst fassungslos an - niemand
setzt sich freiwillig einer Geistlesung durch
einen Fremden aus. Dann wurde ihr Blick
nachdenklich und prüfend, sie erspürte mein
Energiefeld und die ruhige und sichere Entschlossenheit dahinter.
"Wie du meinst." sagte sie.
Wir gingen gemeinsam hoch zu der Hütte und traten dort ins Krankenzimmer ein. Ich legte mich auf die Liege und sie schnallte meine Arme und Beine so fest, daß ich mich nicht rühren konnte. Das war eine Sicherheitsmaßnahme. Wir waren eben keine Liebenden und es ist nie ganz auszuschließen, daß eine solche Lesung des Geistes zu Krämpfen führt, oder dazu, daß jemand in Panik so um sich schlägt, daß er den Untersucher verletzt. In beiden Fällen ist es auch für den Untersuchten besser angeschnallt zu sein, so daß er sich nicht verletzen kann.
Vorsichtig berührte sie meinen Geist und ich holte sie herein. Dann
führte ich sie durch meine Erinnerungen an die Ankunft hier und an
all die Monate bis zum heutigen Tag. Als sie fertig geschaut hatte, fragte
sie mich verwirrt:
*Aber eines verstehe ich nicht. Warum wurdest du überhaupt hierher
verbannt? Ich habe selten einen innerlich so stabilen Menschen
geschaut.*
*Ich will dir auch das zeigen.* antwortete ich.
Zuerst zeigte ich ihr, daß ich solange das
Universum bestand, nichts Böses getan hatte.
Das steigerte ihre Verwirrung erheblich.
*Bedenke, daß die meisten sich nicht weiter zurückerinnern.*
erklärte ich ihr.
Dann zeigte ich ihr wie ich noch einmal halb
so lange, wie das Universum bestand stets
mein Bestes getan hatte, um Gutes zu tun.
Das steigerte ihre Verwirrung noch mehr.
*Bedenke, daß ich bis hierhin nichts getan hatte, wofür ich
verbannt worden wäre.* gab ich ihr zu bedenken.
Dann zeigte ich ihr das Leben, in dem ich mich dem Guten verschworen hatte.
Es war das erste Leben, in dem ich mich daran erinnerte andere gefoltert zu
haben.
*Damals habe ich geschworen nur Gutes zu tun - und diesen Schwur habe ich
bis zum heutigen Tag gehalten, so gut ich es vermochte.*
Dann zeigte ich ihr all die üblen Dinge, die ich
davor getan hatte.
*Das hat die Herren im Tempel so erschreckt. Aber aus meiner Sicht ist es
unlogisch zu vermuten, daß ich nach so vielen Millionen Jahren, in
denen ich den Schwur nach besten Kräften gehalten habe, ihn
plötzlich brechen sollte, nur weil ich beginne, mich zu erinnern, was
vorher war.* erklärte ich.
Und so - nachdem ich die Überlegungen für mich selbst in den vergangenen zwei Jahren geordnet hatte, schien es auch ihr einsehbar.
*Ich werde sehen, was ich tun kann, damit du eine Hilfe bekommst.* sagte
sie mir.
*Ich bin nicht derjenige, der dieser Hilfe am Dringendsten bedarf. Jedem
Außenposten geht es ähnlich wie mir - und ich bin einer von den
stärksten, die Ungerechtigkeit und Überforderung ab besten
verkraften.* gab ich zu bedenken.
*Es ist aber schwieriger für die anderen eine Lösung zu finden.
Dir kann man einen Helfer anvertrauen, ohne um ihn fürchten zu
müssen.* sagte sie.
Ich nickte.
*Denk trotzdem über eine Lösung nach. Eine unerfüllbare
Aufgabe haben auch Verbannte nicht verdient. Auch ich werde nach einer
Lösung suchen.* sagte ich ihr.
Im alten Mu war es undenkbar einen Angehörigen der niederen Rasse in die Hände eines Menschen zu geben, der ihn mißhandeln oder ungerecht zu ihm sein könnte. Das Volk war heilig - und die Herrscher waren verpflichtet ihnen zu dienen und für ihr Wohlergehen zu sorgen.
Das einfache Volk war ebenso wohlhabend in Mu wie seine Herren, hatte jedoch weitaus mehr Freiheiten. Und so harte Strafen wie die Verbannung gab es für das einfache Volk nicht.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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