vor 15.2.00

Fantasy, Darkover: Zwillingsbande

G9.

Frau mit Kihar

Toal erzählt:

Da ich oft unabsichtlich die Gedanken meiner Zwillingsschwester las, bekam ich immer wieder mit, wie Tianna von den anderen Frauen Geschichten erzählt bekam, die ich gar nicht glauben mochte. Sie redeten, als wäre meine Mutter ein Mann gewesen. Das machte mich neugierig. Dennoch dauerte es Monate, bis ich eine Gelegenheit fand, meinen Vater, den Herrn des großen Hauses zu fragen:

"Vater, wie war meine Mutter eigentlich?"
Ein versonnener, trauriger Ausdruck trat auf das Gesicht meines Vaters. Seine Stimme wurde weich, wie ich das sonst nicht von ihm kannte, als er zu sprechen begann:
"Deine Mutter, Toal? Sie war wild und stolz, wie die freien Falken, rotgolden, schnell und schlank, wie die wilden Gohol der Wüste. Sie hatte sehr viel Dohar und noch mehr Kihar. Bevor ich sie kennenlernte, war sie eine Leronis des Turmes von Arilinn. Doch wurde sie von Räubern entführt. Ich sah sie das erste mal, wie sie mit dem Schwert gegen diese Räuber kämpfte. Drei hat sie verwundet und einen getötet, bevor sie von der Übermacht überwältigt und in die Berge verschleppt wurde. Eine Frau mit Kihar. Ich hatte geglaubt, daß es so etwas nur in alten Sagen gibt."
"Mehrere Männer?" fragte ich erstaunt.
"Ja mehrere. Domänenräuber haben kein Kihar. Deshalb ziehen sie zu mehreren aus, um Frauen zu gewinnen. Vorsichtig folgte ich ihnen auf den felsigen Wegen zu ihrem Versteck, schlich mich ganz nah heran und beobachtete, wie über zwanzig Männer die halbe Nacht damit verbrachten, die Frau der Reihe nach zu vergewaltigen. Immer wieder versuchte sie sich zu wehren und jedesmal wurde sie brutal zusammengeschlagen, solange bis die Männer zu besoffen waren, um weiterzumachen und das Mädchen vollkommen erschöpft liegenblieb. Ich weiß heute, daß es auch bei uns Männer gibt, die Frauen gegenüber grausam sind. Damals jedoch war ich der Meinung, daß die Männer der Domänen keine richtigen Menschen sein konnten, wenn sie so etwas taten. Als alles ruhig war, schlich ich mich ins Lager, holte die Leronis heraus, befreite sie von ihren Fesseln und trug sie zu meinen Pferden. Sie war so erschöpft, daß ich sie im Sattel festbinden mußte, bevor wir losritten. Als ich in meinem Lager ankam, legte ich ihr die Ketten an. Sie schlief zu diesem Zeitpunkt schon, so daß ihr das erst am nächsten Tag bewußt wurde. Du hättest sehen sollen, wie sie tobte! Sie war aus den Domänen und wußte nicht, was sich gehört. Deshalb wartete ich ab, bis sie sich beruhigte und erzählte ihr dann, daß ich sie als meine Frau mit in die Trockenstädte nehmen wollte. Da wurde sie erst recht wütend:
"Ich bin doch kein Stück Gepäck, das jeder aufs Pferd laden und mitnehmen kann!" schimpfte sie und griff mich in Ketten, verletzt und unbewaffnet, wie sie war, an. Ich brauchte fast eine Stunde, um sie zu bändigen. Ich hätte sie bewußtlos schlagen können, aber das wollte ich nicht. Du weißt ja:

Man kann ein Pferd zähmen, indem man es bricht, aber dann verliert es sein Kihar.

Ich wollte sie, weil sie Kihar hatte, wie ein wilder, nie gerittener Hengst, also mußte ich ihr Zeit lassen, mich kennenzulernen. Außerdem hatte sie so stark geblutet, daß ich fürchtete, sie könnte sterben. Ich wußte nicht, wo ich in den Domänen eine Heilerin hätte finden können, und mußte mich so auf meine geringen Fähigkeiten in der Versorgung von Wunden verlassen. Nach den ersten Tagen hörte Tora auf, wie wild zu toben und wurde beinahe umgänglich. Doch ich blieb auf der Hut und behielt meine Waffen Tag und Nacht um. Zu Recht. Wochen später weckte sie mich, indem sie mir meinen Dolch, den sie mir unbemerkt aus der Scheide gezogen hatte, an die Kehle hielt und den Kopf zurückzog.
"Wo sind die Schlüssel?"
"Bei den Pferden," antwortete ich wahrheitsgemäß und überlegte, wie ich sie abschütteln könnte, ohne mir bei dem Versuch selber die Kehle aufzuschneiden. Mir fiel nichts ein.
"Versprichst du, mir die Schlüssel zu bringen und mich freizulassen, wenn ich dich loslasse?"

Ihre Stimme klang beiläufig, als erkundige sie sich nach dem Wetter.
"Nein." antwortete ich. Ich glaube, meine Stimme verriet nicht, wieviel Angst ich hatte.
"Ich könnte dir jetzt die Kehle durchschneiden."

Versuchsweise drückte sie den Dolch etwas fester gegen meine Haut. Ich wußte, sie überlegte, ob sie mich töten wollte. Dennoch entspannte ich mich. Ich war wehrlos. Hätte ich die Nerven verloren, wäre das mein Tod gewesen.
"Mädchen habe ich dich beleidigt, daß du so böse auf mich bist?" fragte ich sie, hauptsächlich um Zeit zu gewinnen.
"Sind die Ketten nicht Beleidigung genug?"
Eine unglaubliche Verbitterung klang in ihrer Stimme mit. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mich überraschte das zuerst, dann dachte ich daran, daß sie unsere Sitten nicht kannte. Also sagte ich:
"Es wäre eine Beleidigung, wenn ich dich mitgenommen hätte, ohne dir meine Ketten anzulegen. Damit hätte ich angedeutet, daß du eine Hure bist."

Einen Augenblick sah deine Mutter mich nachdenklich an. Schließlich fragte sie:
"Die Ketten sind Fesseln, wer wollte sich das freiwillig gefallen lassen?"
"Wie viele Frauen in den Domänen ziehen zum reiten Röcke an, mit denen sie nur im Damensitz sitzen können?"

Toal, du mußt bedenken, daß Frauen in den Domänen wenig reiten und es sich deshalb leisten können, unterwegs langsam zu reiten.
"Wer wollte schon Hosen tragen wie eine Amazone?" fragte Torana.
"Wer wollte schon ohne Ketten gehen wie eine Hure?" konterte ich.
"Aber bei euch ist es doch auch üblich, daß Frauen Röcke tragen."
"Aber nicht wenn sie durch das halbe Trokkenland reiten. Ketten werden genausowenig als Fesseln betrachtet wie Röcke. Sie sind ein Zeichen, daß man eine anständige Frau vor sich hat. Weißt du, ich liebe dich, deshalb wollte ich dich zur Frau. Ich wollte dich nicht beleidigen."

Ihr Blick fiel wieder auf das Messer an meiner Kehle, dann betrachtete sie die zweite Kette, mit der ich sie jede Nacht an einen Baum fesselte. Wenn sie mich tötete, würde sie sich nicht befreien können. Sie musterte nachdenklich mein Gesicht.
"Nein, ich will dich nicht töten."
sagte sie, nahm den Dolch weg und richtete sich auf. Auch ich stand auf und befühlte meine Kehle. Sie war nicht ganz unverletzt.
"Du merkst doch, daß du keine Chance hast, gib auf." forderte ich.
"Nein."
Vor mir stand aufrecht und stolz diese Frau und wartete, was ich jetzt tun würde. Ich wußte, sie rechnete mit nichts Gutem. Ich überlegte und traf einen Entschluß. Ich holte den Schlüssel aus dem Gepäck und kehrte damit zu ihr zurück. In feierlichem Tonfall fragte ich:
"Wie heißt du?"
"Torana" antwortete sie und ihre Stimme klang kalt und hart.
"So höre Torana: Seit dir klar wurde, daß ich dich in Ketten gelegt habe, haben wir einen Kampf geführt. Du hast nicht aufgegeben, obwohl du kaum Chancen hattest. Ich hätte dich töten sollen, aber ich tat es nicht, denn ich liebe dich. So ist es dir gelungen, mir das Messer an die Kehle zu halten. Auch ich gab nicht auf, und du hast mich nicht getötet. Ich frage dich Torana, willst du jetzt aufgeben und mich als den Herrn deines Hauses anerkennen?"
"Nein." sagte sie hart.

Ich hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet.
"Dann gebe ich auf und erkenne dich als meine Herrin an, denn ich will nicht mein ganzes Leben mit dir im Streit liegen. Damit hast du dir das Recht auf die Schlüssel erworben."

Feierlich überreichte ich sie. Dann erklärte ich:
"Du kannst die Ketten öffnen und sie mir zusammen mit dem Schlüssel zurückgeben. Damit lehnst du jede Verbindung zu mir ab. Oder du trägst die Kette weiterhin und behältst die Schlüssel als Zeichen, daß du die Herrin bist."

Lange stand Tora mir mit dem Schlüssel in der Hand unbeweglich gegenüber. Ein Ausdruck voll Erstaunen und Achtung lag auf ihrem Gesicht. Dann befreite sie sich von den Ketten.
"Wie heißt du?"
"Darion."
"So höre Darion: du hast gesagt, daß du mich liebst. Wenn du mich wirklich zur Frau willst, beweise mir, daß du mich als das anerkennen kannst, was ich bin. Eine Frau aus den Domänen, die keine Ketten trägt, aber keine Hure ist."
"Ich weiß das, Torana. Du bist eine Frau mit Kihar, wie man sie nur aus alten Sagen kennt. Aber ich glaube nicht, daß viele andere Männer aus den Trockenstädten das verstehen werden, wenn sie dich ohne Ketten sehen ... "

Ich überlegte, denn mir wurde klar, daß Tora Worte nicht reichen würden. Sie hatte einen Beweis verlangt.
"Doch nach Sitte unseres Landes muß ich noch fast ein Jahr mit dir allein verbringen, und beweisen, daß ich mein Recht auf dich ohne fremde Hilfe verteidigen kann. Das Erringen einer Frau ist eine der sieben Taten, mit der ein junger Mann Kihar gewinnen kann. Als Beweis, daß ich dich anerkenne, wie du bist, werde ich wie ein Mann aus den Domänen dich als meine Frau betrachten, ohne daß du die Ketten meines Hauses trägst. Nachher aber, sobald wir in die Trockenstädte zurückkehren, ist das so nicht möglich, wenn wir mehr als die Hütte eines Hirten erringen wollen. Deshalb möchte ich dich bitten dort vor Männern und Frauen, denen wir nicht trauen können Ketten zu tragen." versuchte ich zu erklären.
"Wer sagt, daß ich in die Trockenstädte will?" fragte Torana scharf.
"Welche Möglichkleiten hätten wir sonst?" fragte ich erstaunt - mir wurde bewußt, daß Torana dazu Ansichten haben könnte, die mir überhaupt nicht gefallen. Dann hätten die Gesetze des Kihar von mir verlangt, daß ich ihr dennoch gehorche. Mir wurde mulmig.
"Bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe, will ich dich besser kennenlernen und mehr über die Trockenstädte erfahren. Vorerst behalte ich Kette und Schlüssel."
Torana lächelte.

Nach den Sitten der Domänen verliert eine Frau durch eine Vergewaltigung sehr viel Ehre. Du weißt doch, daß die Leute in den Domänen den Unterschied zwischen Kihar und Dohar nicht kennen. Also war es meine erste Aufgabe in ihrem Dienst, ihr bei der Rache an der Räuberbande zu helfen. Sie holte ihre Ausrüstung aus dem Turm. Dazu gehörten auch ein Schwert und einige Messer, wie sie die Männer der Domänen tragen. Dann haben wir die Bande verfolgt, bis die meisten ihrer Mitglieder tot waren und der Rest sich in alle Winde verstreut hatte. Dabei trug Torana Hosen. Ihren eigenen Worten zum Trotz. Auch in der Zeit, als ich im Trockenland meine Bande aufbaute, verkleidete sie sich als Mann und neue Bandenmitglieder erfuhren erst als sie ihr Kihar bewundern gelernt hatten, daß sie mit einer Frau durchs Trockenland ritten. Später haben wir gemeinsam dieses Haus erobert."
beendete mein Vater seine Geschichte.

"Lernen in den Domänen alle Frauen kämpfen?" stellte ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte.
"Nein, das ist dort so eine Ausnahme wie hier. Es gibt eben sehr wenig Frauen mit Kihar." erklärte mein Vater.

Für mich war durch diese Geschichte eine Welt zusammengebrochen. Mein Vater, den ich für den Inbegriff des Kriegers gehalten hatte, war zu feige, um mit einer Frau fertigzuwerden! Ich wäre am liebsten im Boden versunken.

Jahre später habe ich ähnlich entschieden, als es um meine Schwester ging. Erst da wurde mir klar, daß es machmal kiharvoll ist, zu tun, was als feige gilt. Kihar wohnt nicht in den Augen der anderen, sondern tief in unserem Inneren.

Kersti


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