vor 15.2.00

Fantasy, Darkover: Dokiharjon

G16.

Der letzte Befehl meines Königs

"Ihr beiden, Beander und Joeth werdet meine Schwester auf der Reise in ihr neues Haus begleiten." befahl uns mein König.
Wütend widersprach ich ihm:
"Nein, ich lasse dich in dieser gefährlichen Zeit keine fünf Minuten allein!"
Mein König lächelte nur über diese zornigen Gesten. Er war selbst für einen Trockenstädter groß, hatte graue Augen und hellblondes Haar. Kein Mann im großen Haus des Trockenlandes hätte sich ihm in dieser Form widersetzen dürfen. Doch ich bin einer seiner vier persönlichen Dokiharjoni ("do" heißt groß, "kihar" heißt Ehre, Ansehen, oder Stolz eines Kämpfers, "jon" ist die männliche Endung, das "i" steht für Mehrzahl) Als Baby wurde ich für die Aufgabe ausgewählt, als stummer Wächter meinen König zu schützen, und ihm mein Leben lang als Freund und Gefährte zur Seite zu stehen. Nur der König versteht die Sprache der Stummen und wenn wir Streit haben, bleibt das unser Geheimnis. Die einfachen Leute wissen über uns Dokiharjoni nur, daß wir mit unseren schwarzen Gewändern stets bei unserem König sind um ihn vor jedem Feind zu schützen. Der kleinere dunkelblonde Dokiharjon Joeth machte mit einem Fingerschnippen darauf aufmerksam, daß auch er etwas sagen wollte:
"Mein König, zu fünft kommen wir gegen die versammelten Männer eines jeden der großen Häuser an. Aber wenn Beander und ich deine Schwester begleiten, gibt es durchaus Häuser, die sich mit euch restlichen dreien messen können."
Jetzt war auch der König wütend.
"Ich bin kein Baby, das Tag und Nacht von einer Amme behütet werden muß!"
"Wärst du ein Baby, bräuchten wir uns keine Sorgen um dich zu machen." gab ich ärgerlich zurück.
"Du weißt, wie heikel die politische Lage ist", versuchte Joeth zu vermitteln, "und bei der abergläubischen Angst, die manche Leute vor uns haben, könnten sie einen feigen Überfall auf uns als eine kiharvolle Tat darstellen."
"Man könnte meinen, ihr wäret feige Rabbithorns!" höhnten des Königs Hände.
"Du hirnloses Banchee", schimpfte ich, "wenn du angegriffen wirst, will ich bei dir sein und nicht hinterher erfahren: Der König ist tot, aber wenn ihr ihm zur Seite gestanden hättet, wie es eure Aufgabe ist, könnte er noch am Leben sein."
Der König wechselte in die Lautsprache und sagte mit seiner ruhigen tiefen Stimme:
"Ich befehle euch, meine Schwester zu begleiten."
Ich ballte meine Fäuste und sah meinen König voll stummer Wut an, als Joeth das Zeichen für "ich höre und gehorche" machte.
"Beander." mahnte der König.
"Das ist fies." sagte ich.
Keiner der anderen drei Dokiharjoni beteiligte sich am Streit.
"Beander." wiederholte der König meinen Namen. Ich senkte den Kopf und gab nach. Niemand, auch nicht ich, darf sich einem laut ausgesprochenen Befehl meines Königs widersetzen. Ich hätte große Lust gehabt, es dennoch zu tun. Aber wie?

Die Reise verlief so ereignislos, wie ich es angenommen hatte. Auf dem Rückweg, einen Tag, nachdem wir das Haus verlassen hatten, in dem die Schwester meines Königs von da ab leben würde, kam der Bote. Er hatte sein Pferd fast zuschanden geritten und überbrachte mir die Botschaft direkt, ohne den offizielle Führer der Karawane eines Blickes zu würdigen.
*Das kann nur eines bedeuten*, dachte ich alarmiert, riß den Umschlag auf und las:
"Der König wurde angegriffen und ist schwer verletzt. Kommt sofort zurück." Unterschrieben hatte der Sohn meines Königs.
Ich reichte Joeth den Brief. Er las, sah mich erschüttert an und sagte:
"Genau wie du es gesagt hast."
"Ich wünschte, ich hätte mit meinen Warnungen nicht immer so recht!" gab ich mürrisch zurück.
"Wir nehmen Larithjon mit." schlug Joeth vor.
Ich nickte. Larithjon der kleine, zierliche, blonde, verkrüppelte Sänger hatte zwar keine Ahnung vom Kampf, war aber ein guter Reiter und konnte schnell lesen. Im Vorbeireiten warf ich dem Führer unseres Trupps den Brief zu, dann ritt ich zu Joeth, der dem Sänger gerade das drittschnellste Pferd der Karawane verschafft hatte. Wir waren schon außer Sichtweite, bevor der alte Krieger den Brief entziffert hatte.

In der nächsten Stadt klopften wir an das Tor des großen Hauses und Larithjon forderte die drei schnellsten Pferde zum Wechseln, wie wir es ihm aufgeschrieben hatten. Die Männer lachten den kleinen, verkrüppelten Mann zuerst aus, doch als wir unsere Dokir, das sind blau leuchtende Zauberschwerter, aus der Scheide zogen und sie ihnen mit einer geruhsamen Bewegung an die Brust setzten, starrten sie uns voll abergläubischer Furcht an.
"Friede, Dokiharjoni", brachte einer der Männer mit zitternder Stimme die Grußformel heraus, "Verzeiht, daß wir euch nicht erkannten."
Ich nickte knapp, unsere Reisekleidung ist schließlich nicht sehr auffällig und trieb sie mit einer Handbewegung zur Eile an. Bald darauf ritten wir auf frischen Pferden im Galopp davon. Noch zweimal wechselten wir die Pferde, bevor wir mitten in der Nacht am Haus meines Königs ankamen, von dem wir zwei Wochen vorher zu einer geruhsamen Reise aufgebrochen waren.

Wir warfen einigen der Krieger des Hauses die Zügel zu und liefen direkt zum Zimmer meines Königs. Ich riß die Türe auf und erstarrte mitten in der Bewegung. Ein Schwall verräucherter Luft schlug uns entgegen, verschiedene Musikinstrumente gaben jämmerliche Geräusche von sich, einige Frauen stammelten wirres Zeug, ganz berauscht von ihren Zaubertränken. Insgesamt waren über fünfzig Personen im Raum und mitten darin, direkt neben dem Bett meines Königs saß unsere gute alte Heilerin Dohara Jaelle (Dohar = Ehre und Ansehen einer Heilerin oder Handwerkerin; Dohara = Heilerin/ Handwerkerin, ein Titel) und kümmerte sich mit mürrischem Gesicht um meinen verletzten König. Auf der anderen Seite des Bettes saß Doan, der dritte von uns vier stummen Wächtern. Ragion, der vierte war nirgends zu sehen. Ich ahnte weshalb.

Ich ging zu der alten, weißhaarigen Dohara Jaelle hinüber, zog Papier, Federhalter und Tinte aus der Tasche und schrieb wütend:
"Du hast uns immer gepredigt, daß Kranke vor allem Ruhe und frische Luft brauchen. Was soll dieser Zirkus?"
Die Heilerin sah mich erstaunt an und meinte:
"Ich wußte gar nicht, daß du schreiben kannst."
Nachdrücklich wies ich mit der Hand auf meine Frage.
"Der junge König hat es so befohlen." erklärte die Heilerin.
Ich runzelte die Stirn. Das war der falsche Titel.
"Ist in diesem Raum jemand, der dir bei deiner Arbeit eine Hilfe ist?" erkundigte ich mich.
Dohara Jaelle verneinte.
"Gut. Dann sag diesen Leuten, daß sie entweder freiwillig gehen können, oder wir werden sie verjagen." schrieb ich ihr meine Anweisung auf.
"Aber der junge König ... " wollte die Heilerin widersprechen.
Ich setzte ihr voll kalter Wut mein Dokir an die Kehle. Die Heilerin warf mir einen eher fassungslos erstaunten als ängstlichen Blick zu, dann sagte sie mit zitternder Stimme:
"Bitte Beander, du weißt, daß das nicht meine Entscheidung war."
Ich steckte die Klinge wieder weg und wies nachdrücklich auf meinen letzten geschriebenen Satz. Mit ruhiger, klarer Stimme schickte die Heilerin die Fremden aus dem Zimmer und drehte sich erst wieder zu uns um, als wir die letzten dieses Gesindels mit gezogenen Dokir aus dem Raum getrieben hatten. Mir fiel auf, wie alt sie inzwischen aussah. So lange ich mich zurückerrinnern konnte, war sie immer voller Lebensfreude und Energie gewesen. Liebevoll hatte sie sich um unsere kleinen Kratzer gekümmert, als wäre sie unser aller Mutter. Verletzt und traurig fragte sie mich:
"Beander, Kind warum hast du mich mit der Waffe beroht?"
Bewußt übertrieben machte ich die Geste der Ratlosigkeit und schrieb:
"Verzeih mir."
Die alte Heilerin umarmte mich und sagte sanft und traurig:
"Ich bin dir nicht böse, Beander. Aber ich hätte nie gedacht, daß eines von euch Kindern mich mit der Waffe bedrohen könnte."
Ich wünschte mir sehnlichst, ich könnte das ungeschehen machen. Joeth schob mich energisch zur Seite und schrieb:
"Jaelle, kümmere dich bitte zuerst um den König und Doan. Reden können wir nachher."
Dohara Jaelle blickte auf, nickte und sagte streng:
"Doan, wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du ins Bett gehen sollst? Du bist verletzt." Doan rührte sich nicht.
Zum ersten Mal sah ich ihn richtig an. Doans schmales Gesicht war totenblaß, und trug einen Ausdruck tiefer Erschöpfung. Seine blauen Augen waren ohne jeden Glanz und wie erloschen. Sein weißblondes Haar hing in wirren Stähnen um seinen Kopf. Er war an mehreren Stellen verbunden und sein rechter Arm endete am Ellenbogen in einem blutigen Verband.
*Verkrüppelt, das wird hart für ihn sein.* dachte ich.
Doch eines mußte ich wissen:
"Doan, wo ist Ragion?" fragt ich.
"Tot." bedeutete mir Doan mit einer matten Bewegung des linken Armes. Ich nickte ruhig. Das hatte ich erwartet. Ich hätte mir keinen anderen Grund vorstellen können, warum er nicht am Bett des Königs war. Ich wechselte einen Blick mit Joeth. Dann gingen wir in stummen Einverständnis hinaus, trugen ein Bett für Doan herein und halfen ihm, sich hinzulegen. Wir Dokiharjoni schlafen nie in einem anderen Zimmer als unser König, außer wenn der König selbst es befiehlt. ... und selbst dann ist es manchmal besser, nicht zu gehorchen. Voll Kummer betrachtete ich den verletzten Doan und fragte mich, ob wir wohl noch lange genug leben würden, daß sein verlorener Arm überhaupt von Bedeutung war.

Schweigend machte ich Jaelle Platz, als sie zu Doans Bett kam und sah zu, wie sie seine Verbände wechselte. Ich hörte Schritte vor der Tür und begab mich mit zwei geruhsamen Schritten auf den Platz zwischen Tür und Bett. Der kleine, hellblonde, zwölfjährige Prinz Rauon betrat den Raum.
"Was fällt dir eigentlich ein ... " begann er laut zu schimpfen.
"Sprich leise." mahnte ich.
"Was fällt dir eigentlich ein ... " wurde er noch lauter.
Ich wiederholte die mahnende Geste. Als er das dritte mal ansetzte, ohne die Lautstärke vermindert zu haben, setzte es bei mir aus. Wütend sprang ich vor, warf den Prinzen nieder, drückte ihn mit meinem Knie so fest zu Boden, daß er verzweifelt nach Luft schnappte und setzte ihm mein Dokir so an die Kehle, daß er sich aus diesem Griff nicht herauswinden konnte. Seine sieben gleichaltrigen Dokiharjoni waren schnell, jedoch nicht schnell genug, um mich aufhalten zu können, bevor ich den Jungen in meiner Gewalt hatte. Drohend schwebten ihre noch neuen, eisblau schimmernden Dokir über mir, aber sie wagten es nicht, zuzustoßen. Als ich dem Prinzen in die Augen sah, wurde mir klar, daß ich einen Fehler gemacht hatte. An die Stelle seiner anfänglichen Fassungslosigkeit darüber, daß ich es wahrhaftig gewagt hatte, ihn ernsthaft mit der Waffe zu bedrohen, war eine eiskalte Wut getreten. Mit ruhigen bedächtigen Bewegungen ließ ich ihn los, stand auf und trat zwei Schritte zurück. Dann steckte ich mein Dokir wieder in die seidenumhüllte Scheide und sagte ruhig:
"Nur damit du weißt, was ich tue, wenn Du meinen König belästigst."

Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung war auch der Prinz wieder auf den Beinen und setzte mir mit zornig blitzenden Augen sein Dokir auf die Brust. Als er wieder zu Atem gekommen war, befahl er mir:
"Geh zu deinem König, Beander. Deiner Strafe wirst du nicht entgehen."
Ich erwiderte ruhig seinen Blick, nickte und ging. Mein Angriff hatte zumindest so viel Wirkung gezeigt, daß er leise sprach. Langsam trat er an das Bett meines Königs. Schweigend sah ich zu, wie der Prinz die Hand seines bewußtlosen Vaters ergriff. Einer der jungen Dokiharjoni berührte mich an der Schulter. Ich drehte mich um und fragte:
"Was ist, Dian?"
"Das hättest du nicht tun sollen, Beander." sagte er vorwurfsvoll.
Er war der größte der sieben Dokiharjoni des Prinzen, schlanker als die anderen gebaut und hatte rotblondes lockiges Haar.
"Nein. Das hätte ich nicht tun sollen. Aber ich habe die Beherrschung verloren und jetzt muß ich mit den Folgen zurechtkommen." bestätigte ich ruhig.
"Sag mal, Beander, warum bist du eigentlich immer so ungehorsam?" fragte er und es schien mir, als hätte er sich diese Frage schon lange immer wieder gestellt. Ich brauchte einige Sekunden, um mir die richtigen Worte zurechtzulegen. Dann begann ich ernst zu erklären:
"Ich war schon immer derjenige von uns vieren, der als erster widersprochen und gegen Ungerechtigkeiten aufbegehrt hat. Das wäre unter normalen Umständen sicher nicht weiter aufgefallen, doch unser König ist dumm. Nicht nur ein bißchen, sondern richtig. Er schätzt nie eine politische Situation richtig ein, kann Freunde nicht von Feinden unterscheiden. Er hat keine Ahnung von Mathematik, Geschichte, Politik, von überhaupt nichts außer vom Kämpfen. Und das schlimmste ist, daß er nicht einmal bereit ist, auf unsere Ratschläge zu hören, weil er nicht weiß, wie dumm er ist. Solange der alte König noch lebte, war das kein großes Problem. Mein König war ja noch Prinz und konnte wenigstens keine politischen Fehler machen, weil er nicht die Macht dazu hatte. Es reichte aus, daß er ein freundlicher junger Mann war, der gut kämpfen konnte. Doch dann ist der alte König gestorben. Ich habe alles getan, was ich konnte, um meinen König von den dümmsten seiner Ideen abzubringen. Irgendwann kam dann doch der Punkt, wo mein König mir einem klaren, laut ausgesprochenen Befehl gegeben hat, dem ich nicht gehorchen konnte, weil wir sonst innerhalb von kürzester Zeit tot und besiegt gewesen wären. Ich habe geglaubt, daß das sicher nicht noch einmal vorkommen würde. Doch mein König brachte uns immer wieder in solche Situationen, in denen ich eingreifen mußte. Jetzt siehst du, was dabei herausgekommen ist, als ich einmal zu oft gehorcht habe." für einige Minuten versank ich in grüblerisches Schweigen, bevor ich weiterspach: "Vor zwei Jahren, als der alte König gestorben ist, hattet ihr noch keine Dokir, vor einem Jahr konntet ihr mit den Dokir noch nicht richtig umgehen. Ich hoffe, wir haben lange genug gelebt, daß ihr eine Chance habt, erwachsen zu werden, Dokiharjoni."

Der Junge sah mich mit großen Augen an, dann fragte er leise:
"Du meinst, du hast gegen Gesetze verstoßen, damit mein Prinz erwachsen werden kann?"
"Nein, Dian. Nicht dein Prinz. Du und seine anderen sechs Dokiharjoni. An euren Betten habe ich Wache gehalten, als ihr krank wart von der Operation, mit der ihr zu stummen Emmaska gemacht wurdet." sagte ich leidenschaftlich.
"Aber das kann man doch nicht trennen... " widersprach der Junge verwirrt.
"Nicht ganz", stimmte ich zu, "Dennoch hielt es euer Prinz nicht für nötig, uns zu schreiben, daß Ragion tot und Doan schwer verletzt ist."

Ich sah förmlich, wie das leuchtende Bild zerbrach, das sich Dian von seiner Bedeutung gemacht hatte, wie ihm klar wurde, daß sich sein Stellung von der eines Sklaven nur dadurch unterschied, daß er nicht ersetzbar war und die Sicherheit seines Königs davon abhing, daß er genug Dokiharjoni hatte.
"Aber mein Prinz ist doch mein Freund." suchte er nach einem Gegenargument.
"Ja", bestätigte ich, "Der Prinz ist dein Freund. Doch meinem König ist es egal, was aus dir wird, wenn es nur seinem Sohn gut geht. Jeder Sklave hat mehr Freunde."
Der Junge senkte resigniert den Kopf. Er wußte, daß ich Recht hatte. Plötzlich wurde ihm etwas klar:
"Mein Prinz hat nicht mehr Freunde als ich."
"Ja", bestätigte ich, "deshalb gibt es uns. So hat jeder Prinz ein paar Freunde, auf die er sich voll und ganz verlassen kann."
Dian war nachdenklich. Nicht mehr so erschüttert wie noch vor wenigen Sekunden. Ich hatte ihm klar machen müssen, wo er wirklich stand. Kinder können sich Illusionen leisten - doch die jungen Dokiharjoni würden sich schon bald in der grausamen, kriegerischen Welt der Trockenstädte gegen Erwachsene durchsetzen müssen. Dabei können Fehleinschätzungen tödlich enden. Als der Prinz das Zimmer verließ, setzte ich mich niedergeschlagen auf eine der Bänke in der Fensternische und ließ den Kopf in die Hände sinken. Sanft berührte die Heilerin mich an der Schulter.

"Was ist bloß los mit dir, Beander? Erst bedrohst du mich mit deinem Dokir und dann auch noch den Prinzen." fragte sie sanft.
"Ich weiß es selbst nicht. Ich habe einfach die Beherrschung verloren." schrieb ich, ohne den Blick zu heben.
"Beander, du bist übermüdet. Leg dich schlafen, bevor noch etwas Schlimmeres passiert." mahnte die Heilerin.
Ich schüttelte nur den Kopf und schrieb ihr die Frage auf, die ich mir schon überlegt hatte, bevor der Prinz kam:
"Steht es wirklich so schlimm um meinen König?"
Die Heilerin war erstaunt:
"Wie kommst du darauf?"
"Du hast den falschen Titel benutzt - Prinz Rauon ist noch nicht König." erklärte ich.
"Ja, euer König wird in den nächsten zehn Tagen sterben." bestätigte die Heilerin meine schlimmsten Befürchtungen. Joeths Gesichtsausdruck zeigte mir, daß er erst jetzt zu begreifen begann, wie schlimm es wirklich stand.
"Jaelle, gibt es wirklich keine Chance, daß mein König wieder gesund wird?" schrieb Joeth.
"Nein", antwortete Jaelle, blickte auf und zögerte, als sie die bodenlose Verzweiflung in Joeths Gesicht sah. Mir wurde klar, daß Joeth sich mit dieser Realität nicht so schnell abfinden konnte. Er brauchte einen Strohhalm, an den er sich klammern konnte.
"Jaelle, wir haben als Kinder von allen Kriegern gelernt, die es im königlichen Haus gab, nicht nur von den Besten. Denn jeder Krieger, auch der schlechteste, hat seine eigenen Tricks", schrieb ich, "Kann es nicht sein, daß es irgendwo eine Heilerin gibt, die eine Methode weiß, meinem König zu helfen?"
Als sie mich ansah wies ich mit einer Bewegung meiner Augen auf Joeth und zwinkerte. Dohara Jaelle sah erstaunt aus. Offensichtlich hatte auch sie uns Dokiharjoni für verhärtete Krieger gehalten, die sich über die Gefühle anderer Leute wenig Gedanken machen. Nach kurzem Überlegen antwortete sie:
"Vor etwa einem Jahr ist Dohara Lerana el Halaïn, eine fremde junge Frau ins Land gekommen. Sie hat sich in der kurzen Zeit einen so hervorragenden Ruf als Heilerin erworben, daß niemand etwas gegen die drei Männer ihres Hauses zu sagen wagt. Leider weigert sie sich, mit mir zu reden. Sie neidet mir wohl meine Stellung."
"Ich werde sie holen." schrieb ich.
"Warte bis morgen früh.", widersprach Dohara Jaelle, "Die kurze Zeit wird kaum Einfluß auf die Gesundheit deines Königs haben."
Ich nickte. Kurz darauf trennten wir uns. Joeth und ich trugen für uns noch zwei zusätzliche Betten herein.

"Joeth, laß mich die erste Wache übernehmen - ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen, weil ich über einiges nachdenken muß. Nachher, wenn ich müde bin, werde ich froh sein, daß du dich schon ausgeruht hast." bat ich.
Joeth nickte und legte sich ins Bett auf der anderen Seite des Königs. Schweigend betrachtete ich meinen König. Ich grübelte, warum er nie bereit gewesen war, auf meine Ratschläge zu hören.
*Er weiß doch, daß ich mit meinen Warnungen immer Recht behalten habe. Gut, es war für ihn sicher nicht angenehm, ständig zu sehen, daß wir anderen in allem besser waren als er. Aber ist verletzter Stolz etwa ein angemessener Grund mit unserem Leben zu spielen? Oder hatte mein König nicht einmal begriffen, in wie große Gefahr er uns alle durch seine unvernünftigen Entscheidungen gebracht hat?*
In mir erwachte eine unbändige Wut.
*Wie konnte er nur von seinem Geburtsrecht, Befehle zu geben, so rücksichtslos Gebrauch machen? Er wußte doch, daß wir die Folgen seiner Entscheidungen genauso tragen müssen, wie er selber. Nein, schlimmer noch. Wenn einer von uns Stummen stirbt, hat der König einen Dokiharjon weniger, stirbt der König, werden wir ihm aufs Totenfeuer folgen.*
Ich grübelte die ganze Nacht. Hätte ich meinen König retten können? Mir fiel keine Möglichkeit ein. Außerdem hätte er sich sicher bald die nächste lebensgefährliche Dummheit einfallen lassen. Eigentlich habe ich immer gewußt, daß wir wegen seiner Fehler nicht lange leben würden. Widersinnigerweise habe ich dennoch fest daran geglaubt, daß es mir gelingen würde, ihn vor den größten Gefahren zu bewahren. Nie habe ich mir vorstellen können, daß wir schon so bald würden sterben müssen. Das zeigt, daß ein Mensch glauben kann, was er will, selbst wenn er mit hundertprozentiger Sicherheit weiß, daß er Unrecht hat.

Die Sonne ging vor dem Fenster auf und beleuchtete das Gesicht meines schlafenden Königs. Mit einer zärtlichen Bewegung strich ich ein paar Strähnen zur Seite, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Seine blonden Haare breiteten sich fächerförmig über das Kissen aus. Die Haut seines Gesichts war totenblaß, seine Züge entspannt und friedlich. Mein König. Ich war von einer tiefen Traurigkeit erfüllt, so tief, daß ich wohl nie passende Worte finden werde, sie auszudrücken. Im Schlaf machte er Anstalten sich auf die Seite zu drehen, zuckte zusammen, dann wurde sein Atem flacher, schneller und unregelmäßiger. Er schlug die Augen auf, entdeckte mich, wendete sich mir zu und sah mich so direkt, so intensiv an, wie ich das noch nie bei ihm gesehen habe. Ich erwiderte seinen Blick ernst. Ein strahlendes Lächeln verbreitete sich über sein Gesicht und verlieh ihm einen wundersamen, unirdischen Glanz.
"Beander", sagte er leise, voll tiefer Freude, "Jetzt wird alles wieder gut!"
Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich entgegnete:
"Nein, mein König, den Fehler, den du diesmal gemacht hast, kann ich nicht wieder ausbügeln."
Seine Augen verloren ihren strahlenden Glanz, als er begriff:
"Ich muß sterben, nicht wahr?"
Ich nickte nur. Noch nie habe ich meinen König belogen.
"Ich hätte auf dich hören sollen. Du hast mich gewarnt."
Einen Augenblick schloß mein König seine Augen. Das Sprechen hatte ihn wohl sehr angestrengt. Schuldgefühl zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er weitersprach:
"Du sollst fliehen, Beander. Es ist nicht richtig, daß du für meine Fehler verbrannt wirst."
Da fing ich an zu weinen und fragte:
"Was ist mein Leben ohne dich schon wert, mein König?"
"Du sollst fliehen, Beander." wiederholte er fast unhörbar.
Dann schloß er die Augen und schlief ein. Ich blieb verwirrt und unglücklich zurück. Wie kam mein König auf so eine merkwürdige Idee? Wozu sollte ich fliehen? Warum schickte er mich schon wieder fort? Ich weiß nicht wieviel Zeit verging, bis ich eine sanfte Berührung an der Schulter spürte. Ich sah mich um. Joeth stand hinter mir.

"Beander, warum weinst du so?" fragte er.
"Unser König hat mit mir geredet." antwortete ich.
"Aber das ist doch kein Grund zu weinen." wunderte sich Joeth.
"Er hat gesagt, ich soll fliehen, wenn er stirbt." erklärte ich.
Joeth runzelte die Stirn und sagte:
"Das begreife ich nicht. Du hast doch nichts Böses getan. Warum schickt er dich fort?"
"Woher soll ich das wissen?" fragte ich zurück.

Ich versuchte mir ein Leben ohne meinen König vorzustellen. Doch das war mir nicht möglich.

Nach einer Weile des Schweigens verabschiedete ich mich von Joeth und ging hinaus in die Stadt, um die junge, fremde Heilerin zu holen. Ich hatte schon von Dohara Lerana el Halaïn gehört. Sie soll aus einem der fast hundert Königreiche im Lande der Laranzi stammen. Vor etwa einem halben Jahr war sie zusammen mit drei kleinen, dunkelhaarigen Männern in die Königsstadt gekommen und hatte sich in einer ärmlichen, leerstehenden Hütte niedergelassen. Bald darauf machten in der Stadt Geschichten die Runde, daß sie angeblich die Fähigkeit hätte, Wunden wegzuzaubern. Nach wenigen Sekunden bliebe nur noch eine Narbe zurück, die aussähe, als sei die Wunde schon seit Wochen verheilt. Die junge Frau nahm mit ihrer Arbeit einiges an Reichtümern ein und kaufte sich davon ein großes, leerstehendes Gebäude, in dem sie ihr Haus der Heilung einrichtete und bald darauf einige Mädchen als Lehrlinge einstellte. Gedankenverloren wanderte ich durch die Straßen meiner Heimatstadt. Sie waren verlassen, denn die Menschen verschwanden in den Häusern und Nebenstraßen, sobald sie bemerkten, daß ich kam. Sie hatten Angst, sie könnten mir irgendwie in die Quere kommen. Vor einem Tor blieb ich stehen und klopfte an. Eine junge, schlanke, blonde, weißgekleidete Schülerin der Heilkunst öffnete, erstarrte als sie mich sah, wurde schneeweiß vor Angst, doch im Gegensatz zu vielen Kriegern der Großen Häuser blieb sie stehen, versperrte mir den Weg und sagte leise, aber entschieden:
"Verzeiht, Dokiharjon, das ist ein Haus der Heilung. Es ist gegen Sitte und Brauch, Rache und Krieg hier hereinzutragen."
*Also haben sie hier mindestens einen der Männer, die meinen König angegeriffen haben.* schloß ich daraus.
Ruhig zog ich mein Dokir und reichte es ihr mit dem Griff voraus. Mit einer rituellen Berührung, die einen Schauer von Schmerzen durch meinen Körper jagte, erkannte sie meine Geste an und fragte mit einer ruhigen Stimme, die ganz im Gegensatz zum Zittern ihres Körpers stand:
"Habe ich dein Ehrenwort, daß du deine Waffen in diesem Haus nicht verwenden wirst?"
Ich nickte ernst. Die junge Frau entspannte sich etwas und fragte:
"Vermute ich recht, daß du die Hausherrin sprechen willst?"
Wieder nickte ich.
"Dann folge mir." forderte sie mich würdevoll auf.

Sie führte mich in ein Zimmer, in dem mehrere Krankenbetten standen. Eine schlanke, relativ kleine, rothaarige Frau war damit beschäftigt, einen Verband zu wechseln. Erst als sie fertig war, schaute sie auf, sah, was ich bin und sagte angriffslustig:
"Das ist ein Haus der Heilung, hier darfst du nicht kämpfen!"
Ich hielt es nicht für nötig, auf diese dumme Bemerkung zu reagieren. Meine Führerin mischte sich ein und erklärte ehrerbietig:
"Dohara Lerana, ich weiß nicht, was der Dokiharjon will, aber ich habe sein Ehrenwort, daß er seine Waffen in diesem Haus nicht verwenden wird."
*Ich begreife nicht, warum sie augerechnet einen Stummen schicken!* dachte sie voller Ärger.
Ich wurde wütend, verriet das aber mit keiner Miene.
"Bitte verzeih meine unbedachten Worte eben, ich war mit den Gedanken noch bei der Arbeit." entschuldigte die Heilerin sich sofort.
Wußte sie, daß ich ausversehen ihre Gedanken aufgefangen hatte? Dann erkundigte sie sich:
"Hast du einen Kranken, um den ich mich kümmern soll?"
Ich nickte und deutete in Richtung des Palastes.
"Vor der Tür?" fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf und deutete in dieselbe Richtung. Die Heilerin dachte einen Augenblick nach und fragte dann:
"Im Palast?"
Ich nickte.
"Einen Augenblick, ich muß noch meine Medizintasche holen." sagte sie und ging. Mir fiel auf, daß sie für eine Frau ihres Standes sehr einfache und lange Ketten trug. Zwar braucht eine Heilerin mehr Bewegungsfreiheit, als die verhätschelte Geliebte des Herrn eines großen Handelshauses, doch so lange Ketten sind selten. Auf dem Weg durch die Stadt spürte ich, daß Dohara Lerana beunruhigt, ein wenig ängstlich und neugierig war. Sie sagte jedoch kein Wort. Es verwirrte sie, daß ich den Palast durch eine unscheinbare Nebenpforte betrat und den kürzesten Weg zum Krankenzimmerwählte.

Dohara Jaelle war schon da und empfing mich mit der Frage:
"Bist du ganz alleine losgegangen, um Dohara Lerana zu holen?"
Ich nickte. Gedankenlos dahingesprochen und so leise, daß die meisten Menschen nicht angenommen hätten, daß die Worte für mich bestimmt waren, murmelte Jaelle:
"Wenn damals, als ich noch nicht die erwählte Dohara vom Großen Haus des Trockenlandes war, ein einzelner Dokiharjon bei mir an die Tür geklopft hätte, wäre ich sicher vor Schreck tot umgefallen."
Dohara Lerana spürte die harsche Kritik, die hinter den Worten steckte, fühlte, wie ich einsah, daß sie berechtigt war und starrte die ältere Heilerin fassungslos an. Dann nahm sie sich zusammen und tat, als hätte sie nichts gemerkt. Ich wünschte ich könnte Jaelle sagen, daß sie aufpassen soll, was sie denkt. Dann wandte Jaelle sich an Dohara Lerana, begrüßte sie, wie es der Sitte entsprach und erklärte:
"Wie du vermutlich vom Hörensagen weißt, ist der König im Kampf verletzt worden. Da seine Wunden meine Heilkunst übersteigen, wurde ich gebeten eine zweite Heilerin zu Rate zu ziehen. Keine der Heilerinnen, die ich kenne, kann diese Wunden heilen. Da ich deine Fähigkeiten nicht kenne, habe ich dich vorgeschlagen. Wenn du für deine Arbeit etwas brauchst, sag es mir. Heißes Wasser und Tücher stehen bereit."
"Ich werde, wenn ich mit der Arbeit hier fertig bin, eine Malzeit brauchen, die unter normalen Umständen für drei reichen würde. Sonst habe ich alles dabei." antwortete Dohara Lerana el Halaïn.

Zuerst führte sie eine schnelle, aber gründliche Untersuchung durch, erkundigte sich bei Dohara Jaelle, welche Kräuter sie verwendet hatte und sagte dann, daß sie zwar andere, aber keine besseren Heilmittel gewählt hätte. Deshalb sei es das Beste, hier alles beim Alten zu lassen. Sorgfältig packte die junge Heilerin ihre Tasche wieder ein, dann hob sie den Blick und sagte ernst:
"Ich will noch etwas Anderes versuchen, doch dazu brauche ich vollkommene Ruhe und keine andere Person darf im Raum sein."
"Sag mir Bescheid, wenn du fertig bist." bat Jaelle und verließ gehorsam den Raum. Wir Dokiharjoni rührten uns nicht. Die junge Heilerin sah mich an und sagte ärgerlich:
"Ich habe gesagt, ihr müßt den Raum verlassen."
Ich sah sie ruhig an, wartete, bis sie meinen Blick erwiderte und schüttelte dann entschieden den Kopf.
"Aber das ist gefährlich. Es kann sein, daß das Leben des Königs davon abhängt, daß ich Ruhe habe!" versuchte sie mich umzustimmen. Sie hatte eine Angst, die nahezu an Panik grenzte. Ich konnte dieses Gefühl nicht eindeutig einordnen. Hatte sie die Absicht den König zu ermorden und Angst, dabei erwischt zu werden, oder war meine Anwesenheit auch für sie gefährlich? Aber wie könnte das möglich sein? Wieder schüttelte ich entschieden den Kopf. Die Heilerin preßte die Lippen zusammen, dann traf sie eine Entscheidung, die ich nicht ganz erfassen konnte und wurde sofort ruhiger. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das freie Bett neben meinem König und entspannte sich, bis sie innerlich völlig ruhig war. Schließlich holte sie aus einem kleinem Beutel, den sie aus dem Ausschnitt ihres Kleides zog einen Stein von der blauen Farbe eines echten Dokirs. Konnte es sein, daß dieser Stein aus demselben Material war, wie der hauchfeine Kristallüberzug, der unseren Dokir ihre Macht verleiht? Zumindest ist sie fähig ein Dokir zu tragen, wie ihre Reaktionen auf meine Gedanken bewiesen. Außerdem würde das die Angst der Heilerin erklären. Zur Sicherheit tippte ich Joeth auf die Schulter, machte ihn auf den Stein aufmerksam und sagte:
"Verhalte dich wie bei einem Kampf zwischen Freunden."
Joeth unterbrach das Gestengespräch, das er gerade mit Doan führte und wurde innerlich ruhig, um die Gedanken der Heilerin nicht zu stören. Ich übernahm die Aufgabe des Kampfwächters. Das heißt, ich zog mein Dokir, legte es quer über die Knie und wachte, innerlich ruhig und entspannt darüber, daß weder mein König noch die junge Heilerin durch äußere Feinde oder eigene Unachtsamkeit zu Schaden kamen. Ich habe die Arbeit der Heilerin nicht ganz erfassen können. Offensichtlich versuchte sie, mit der Macht ihrer Gedanken die Heilung zu beschleunigen. Bei den kleineren Wunden schien das auch zu ihrer Zufriedenheit zu funktionieren, es blieben nur unauffällige Narben zurück. Dann kam sie jedoch an die große Wunde im Unterleib meines Königs, die Dohara Jaelle solche Sorgen bereitete. Sie fing bei den einfacheren, harmloseren Stellen an zu heilen, wo die Schnitte dicht aufeinander lagen und arbeitete sich langsam zu den schwierigeren Stellen vor. Immer langsamer und schleppender kam sie voran, immer schwerer fiel es ihr, die zerrissenen Teile der inneren Organe wieder zusammenzufügen. Ich spürte, wie sie hilfesuchend nach meiner Stärke griff, Kraft von mir und Joeth abzog, um sie für ihre Arbeit zu verwenden. Doch schließlich brach sie dennoch zu Tode erschöpft und frustriert ab. In dem Augenblick begriff Joeth, daß auch sie nicht die Fähigkeiten hatte, die Wunden meines Königs zu heilen. Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Der Sturm seiner Verzweiflung brachte auch die Selbstbeherrschung der jungen Heilerin zum Zusammenbruch. Ich nahm sie in meine Arme, um ihr ein wenig von meiner inneren Ruhe zu geben, die ich gefunden hatte, indem ich mich mit den Tatsachen abfand. Doan versuchte, Joeth zu trösten.

Nachdem wir zu dritt das Frühstück verzehrt hatten, das Dohara Jaelle uns hatte kommen lassen, bat ich Dohara Lerana el Halaïn mir einmal kurz ihren Stein zu geben. Voller Entsetzen wich sie bis an die Wand zurück, umklammerte ihren Stein und schüttelte den Kopf. Ich trat einen Schritt zurück, um ihr deutlich zu machen, daß ich ihr den Stein nicht mit Gewalt rauben würde. Damit hätte ich sie umbringen können. Ich forderte sie mit einer Geste auf, mir zu dem Tisch in der Fensternische zu folgen und sich mir dort gegenüberzusetzen. Langsam, um sie nicht zu erschrecken zog ich mein Dokir hervor und stimmte mich langsam, zu langsam für einen Kampf, auf sie ein. Als sie begriff, was ich tat, entspannte die junge Heilerin sich merklich, packte, wie ich ihr mit Gesten zu verstehen gab, vorsichtig ihren Stein aus und hielt ihn mißtrauisch und ängstlich in der Hand. Ich nickte und lächelte aufmunternd, dann vereinigte ich mich mit ihr, wie ich im Kampf mit meinen Gegnern eins werde. Da mein Denken nun vor ihr offenlag, wußte sie, daß ich ihr keinen Schaden zufügen wollte. Auf eine gedachte Bitte hin, reichte sie mir ihren blauen Stein. Es war dasselbe Gefühl, als würde ich im Kampf das Dokir meines Gegners mit meinem eigenen Dokir berühren.
*Der Stein ist also tatsächlich aus demselben Material, wie der Kristallüberzug eines Dokirs.* dachte ich.
Lerana war neugierig über das Dokir. Also reichte ich ihr die Waffe.
*Wie wird das hergestellt?* fragte sie sich. Ich wunderte mich.
Ich war es gewohnt, im Kampf die Gefühle und Absichten meines Gegners wahrzunehmen und darauf zu reagieren, noch bevor er sie in die Tat umgesetzt hatte. Doch mir war nicht bewußt gewesen, daß ein Dokir auch bei der Übertragung von in Worte gefaßten Gedanken hilft. Ich erinnerte mich an das Aussehen der Schmiedinnenwerkstatt und dachte in der Hoffnung, sie würde es ebenfalls hören:
*Das ist ein Geheimnis der Schmiedinnengilde.*
*Ich könnte mir nicht vorstellen mit einer Matrix zu fechten.*
*Aha, ihr nennt die blauen Kristalle also "Matrix"*, dachte ich, und erklärte dann, *Man muß auch einige Jahre üben, bis man gelernt hat, für den Kampf schnell genug mit dem Gegner eins zu werden. Solange man das noch nicht kann, ist man bei echten Feinden halt tapfer.*

Ich schmunzelte über das Entsetzen, das die Heilerin bei diesem Gedanken befiel und überlegte, was sie wohl zu den Spielen gesagt hätte, die wir in einem gewissen Jahr fast jede Nacht gespielt haben. Die Heilerin, die immer noch meine Gedanken las, erkannte, woran ich dachte, sah das Bild von der Folterkammer, in der wir "Shegri-Folter" gespielt haben. Entsetzt, empört und voller Abscheu dachte sie:
*Aber so etwas kann man doch nicht als Spiel bezeichnen!* *Es war ein Spiel. Wir haben es nicht viel ernster genommen als jedes andere Spiel auch, das uns Kindern so eingefallen ist. Aber es war auch eine echte Folter. Die echte Shegri-Wette, wie sie von Erwachsenen ausgetragen wird, gilt auch als Spiel. Ein Spiel, bei dem der Einsatz oft das Leben ist. Es läuft folgendermaßen ab: Ein Mann schließt mit einem anderen eine Wette ab, daß er einen ganzen Tag Folter durchhalten wird, ohne zusammenzubrechen. Wenn sein Gegner der Wette zustimmt, darf er den ganzen darauffolgenden Tag damit zubringen, den anderen zu foltern. Er darf dabei jedes Mittel verwenden, das keine Wunden verursacht, die über zwei Tage zur Heilung brauchen. Hält der Gefolterte den Tag durch, ohne ein Wort von sich zu geben, so kann er von seinem Folterer den vorher verabredeten Gewinn einfordern. Hält er nicht durch, so kann der andere nachher mit ihm tun, was immer er will. Wir Kinder hatten tagsüber zu viel zu tun, um noch Zeit für unsere Shegri-Spiele zu finden. So fand dieses Spiel nachts statt. Außerdem hatten uns die Erwachsenen ausdrücklich verboten, Shegri-Wette zu spielen. Also durfte von den nächtlichen Foltern am nächsten Morgen kein noch so geringer Kratzer zu sehen sein. Wir erfanden Foltermethoden, die wirkungsvoller waren, als der Versuch, Menschen nach und nach in ihre Einzelteile zu zerlegen. Man kann einen Menschen so behutsam schlagen, daß er den einzelnen Hieb eher für ein Streicheln gehalten hätte, wenn es bei einem geblieben wäre. Hält man das fünf Minuten durch, so beginnt das Opfer dieser Prügel sich zu wundern, wie so etwas lächerliches nur so wehtun kann. Hält man es nur eine halbe Stunde durch, so möchte der Verprügelte am liebsten bei jedem dieser sanften Kläpse vor Schmerzen schreien. Wir haben es gelernt, diese Art von Foltern die ganze Nacht auszuhalten, ohne einfach aufzugeben. Dabei ging es bei unseren Shegri-Spielen um nichts als den Stolz, der uns das Aufgeben verbot und eine oder zwei kleine Gefälligkeiten.* erinnerte ich mich.
Für Jaelle war das ein Blick in eine fremde, ihr grausam, kalt umd vollkommen lieblos erscheinende Welt. Erstarrt vor Entsetzen über diese Art von Spiel, starrte sie mich an. Ich war belustigt.
*Mach dir nichts draus, Lerana. Du bist hier in den Trockenstädten. Körperliche Schmerzen gelten hier nichts.*
Ich versuchte ihr ein Gefühl von Nähe und Liebe zu vermitteln, um diese innere Erstarrung zu lösen. Tatsächlich, sie entspannte sich ein wenig. Nach einer Weile der Ruhe, entstand in Dohara Lerana die Frage:
*Wie kommt es, daß Dohara Jaelle dich kritisieren darf und daß du auch noch darauf hörst?*
*Das war schon immer das Privileg guter Freunde.* erklärte ich und dachte voll tiefer Trauer an meine König der sterben mußte, weil er einmal nicht auf mich gehört hatte.
*Wie lange er wohl noch leben wird?* überlegte ich.
*Zehn oder elf Tage*, antwortete Lerana, dann dachte sie, *Ich begreife nicht, wie dieser Mann den König so lieben kann. Zuerst haben sie ihm seiner Männlichkeit und seiner Sprache beraubt und ihm so jede Möglichkeit zu einem eigenen, unabhängigen Leben genommen und schließlich werden sie ihn bei lebendigem Leibe mit der Leiche dieses Königs verbrennen. Warum läßt er sich das gefallen?*
Sie verband Abscheu und Ekel mit diesem Gedanken. Mir war bewußt, daß sie nicht ganz unrecht hatte.
*Trotzdem war der König mein Spielkamerad. Er ist einer der wenigen Freunde, die ich habe. Was ist mein Leben schon wert ohne meinen König?* überlegte ich verwundert über ihre heftigen Gefühle.
Da wurde die Heilerin richtig wütend.
*Du Narr, fang endlich an, dein eigenes Leben zu leben!* schimpfte sie.
Ich überlegte, ob es ohne meinen König auf dieser Welt etwas geben könnte, für das es sich zu leben lohnte. Mir fiel nichts ein. Denn alles, was ich bisher in meinem Leben getan hatte, hatte ich für meinen König und mit ihm zusammen getan. Es gelang mir einfach nicht, mir eine sinnvolle Tätigkeit vorzustellen, ohne daß sich dabei das Bild meines geliebten Königs mit einschlich.
*Sieh mal, die meisten Menschen haben keinen König, dem sie ihr Leben lang dienen, und trotzdem finden sie Ziele, die ihnen das Leben lebenswert machen.* dachte sie mir aufmunternd zu.
*Verschone mich mit deinen Weisheiten*, entgegnete ich wütend, *und gib mir mein Dokir zurück, ich habe die ganze Nacht Wache gehalten und bin müde. Ich werde Dohara Jaelle bitten, dich als ihre Nachfolgerin auszubilden, wenn du das willst.*
Dohara Lerana el Halaïn, die aus meinen Gedanken genau wußte, daß ich ihr nichts tun würde, gab mir die Waffe zurück und entgegnete:
*Trotzdem, ich würde fliehen.*
Sprachlos vor Zorn wandte ich mich um und ging zu meinem König, ohne sie eines weiteren Gedankens zu würdigen.

Die alte Dohara Jaelle begleitete die junge Heilerin zurück in ihr eigenes Haus. Am nächsten Tag kam Dohara Lerana noch einmal wieder, um die Wunden meines Königs und Doans zu versorgen.

Die Tage bis zum Tod meines Königs vergingen ohne Ereignisse, die zu erzählen sich lohnen würde. Wir Dokiharjoni hielten abwechselnd am Krankenbett Wache. Mein König ist noch einige Male aufgewacht und hat auch mit den anderen Dokiharjoni und seinem Sohn einige Worte gewechselt. Doch das war immer, als ich geschlafen habe. Den Tag nach dem Tod meines Königs verbrachten wir damit, die Leiche für die Verbrennung herzurichten. Spät am Abend betrat der junge König mit seinen Dokiharjoni den Raum.
"Joeth ich habe ein Bitte." wandte sich er mit laut ausgesprochenen Worten an den letzten Gesunden unter meinen Gefährten. Joeth drehte sich widerwillig zu dem neuen Herrn des Hauses um und fragte mürrisch:
"Was willst du?"
"Ich möchte dich bitten, deinem König nicht auf das Totenfeuer zu folgen", bat Prinz Rauon und fuhr dann in der Zeichensprache fort, "Ich weiß, das ist viel verlangt. Aber ich sehe keine Möglichkeit, wie wir ohne die Hilfe eines erfahrenen Dokiharjon das Trockenland regieren sollten. Wir wissen einfach noch nicht genug."
"Nein, ich will nicht!" protestierte Joeth und wandte sich ab, so daß er die weiteren Überredungsversuche des neuen Königs nicht sehen konnte. Der junge König war wütend und verzweifelt. Er war wirklich auf die Hilfe eines erfahrenen Beraters angewiesen und im Gegensatz zu meinem König wußte er auch, daß er ohne solche Rat nicht lange leben würde. Aber er konnte Joeth zu nichts zwingen. Er ging wieder zur Lautsprache über:
"Joeth, sieh mich doch wenigstens an, damit wir reden können." bat er flehentlich. Joeth weigerte sich.
Ich schnippte mit den Fingern, doch nur Dian würdigte mich eines Blickes.
"Sag Rauon, daß ich mit Joeth reden werde." bat ich ihn.
"Er wird dir nicht dafür danken." sagte Dian.
"Ich weiß. Du weißt, daß ich es nicht für den jungen König mache, sondern für euch Dokiharjoni." entgegnete ich ruhig.
"Die anderen Dokiharjoni hassen dich." erklärte Dian.
"Sie haben Grund dazu", antwortete ich mit einem Schulterzucken, "Wenn die Hoffnung bestände, daß ihr dieses Angebot annähmet, hätte ich mich bereiterklärt, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Es wird schwer werden, Joeth dazu zu überreden."
"Das verstehe ich", sagte Dian, "Ich kann mir ein Leben ohne meinen König auch nicht vorstellen."
Ich nickte, war niedergeschlagen, daß ich die Situation durch diesen unbedachten Angriff selber herbeigeführt hatte. Joeth würde ein Leben ohne unseren König noch schwerer fallen als mir. Immerhin habe ich immer schon Dinge getan, die für alle anderen Dokiharjoni undenkbar waren.

Bald darauf verließ der junge König unverrichteter Dinge den Raum.
"Dian ist der einzige, der noch mit mir spricht." sagte ich zu Joeth, sobald wir wieder alleine waren.
"Das hast du dir selbst zuzuschreiben." antwortete Joeth hart.
Hinter diesen Worten steckte Mitgefühl.
"Ich weiß", antwortete ich, "Dian war von den Jungen immer mein Liebling. Es liegt wohl daran, daß wir die beiden sind, die sich von uns Dokiharjoni am meisten für Pferde interressiert haben." "Ja. Dian verehrt dich geradezu. Wenn ich nur daran denke, daß ihr euch vor ein paar Wochen stundenlang über einen der Zuchthengste unterhalten habt... "
Damit hatte ich Joeth bei dem Thema, bei dem ich ihn haben wollte. Er redete über alte Erinnerungen aus der Kindheit der jungen Dokiharjoni. In gewissem Sinne waren sie unsere Kinder. Als sie drei Jahre alt waren, hatten wir ihre Mütter zurück in ihre Heimathäuser gebracht und uns von da ab selber um die Erziehung und Ausbildung der Kinder gekümmert. Wir hatten sie getröstet, wenn sie von den anderen Kindern geärgert wurden und dann brachten wir ihnen bei, wie sie sich gegen größere und stärkere verteidigen konnten. Am Anfang griffen wir ein, wenn Erwachsene oder sehr große Kinder sie schlugen, doch das war bald nicht mehr notwendig. Schon als Vierjährige, noch bevor sie die Ungeschicklichkeit kleiner Kinder abgelegt hatten, beherrschten sie die Grundlagen des waffenlosen Kampfes und als fünfjährige waren die Dokiharjoni und ihr Prinz fähig, sich gemeinsam gegen alle zu verteidigen, die sich mit ihnen anlegen wollten. Da keine Strafe auf Streits stand, die ohne Verletzungen abgingen, gab es einige, die die Kinder in dieser Phase herausforderten. Lange redeten wir über unsere Erlebnisse mit den Kindern, die wir erzogen hatten. Ich beobachtete sorgfältig Joeths Gesicht, um den richtigen Moment abzupassen. Ich sah, wie die Traurigkeit aus seinem Gesicht verschwand. Seine Züge schienen weicher zu werden, als er an eine Zeit dachte, in der es noch keine Rolle spielte, daß unser König schwachsinnig war. Er war damals noch ein Prinz. Ein junger Mann der seinem Sohn das Reiten beibrachte oder mit ihm kämpfen übte, während wir dasselbe mit dessen Dokiharjoni taten. Er erinnerte sich an fröhlich lachende Kindergesichter und war dabei glücklich. Abrupt wechselte ich das Thema und kam darauf zu sprechen, wie hoffnungslos die politische Situation für diese Kinder jetzt war, wenn ihnen kein erfahrener Berater zur Seite stand. Joeth begriff, daß ich dieses ganze Gespräch nur geführt hatte, um ihn dazu zu überreden, daß er für diese Kinder am Leben blieb. Er warf mir einen mörderischen Blick zu, zog sein Dokir und griff an. Meine Reaktion kam zu spät. Er schlug mir die flache Klinge mit Wucht ins Gesicht, noch bevor ich mein Dokir in der Hand hatte. Doan nahm wortlos die Stelle des Kampfwächters ein, während Joeth und ich uns umkreisten. Es war ein wildes, hartes Scheingefecht, das wir beide mit ganzer Kraft führten. Genau das richtige, um Wut abzureagieren. Wir kämpften stundenlang verbissen, bis Doan schließlich dazwischenging, weil unsere Hiebe durch Müdigkeit nicht mehr genau geziehlt waren und deshalb ernsthaft gefährlich wurden. Schweratmend blieben wir stehen und sahen uns an. Joeth steckte sein Dokir weg und sagte:
"Du hast recht. Ich werde mich um die Kinder kümmern."
Ich nickte und steckte meine Waffen ebenfalls in die Scheide. Dann suchte Joeth den jungen König auf, um ihn von seiner Entscheidung in Kenntnis zu setzen.

Solche Kämpfe sind eine gute Übung.

Am nächsten Morgen, kurz nachdem ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, kam der junge König ins Zimmer und baute sich drohend vor mir auf. Wenn man seine kleine, schlanke Gestalt betrachtete, so wirkte diese Geste eher lächerlich. Doch das täuschte. Er war ein gefährlicherer Gegner als alle erwachsenen Kämpfer dieses Hauses, wir Dokiharjoni ausgenommen. Ich war ihm haushoch überlegen. Ich hatte dieselbe Ausbildung genossen wie er und die Kraft eines Erwachsenen.
"Du hast Joeth überredet. Ich hoffe du erwartest nicht von mir, daß ich dir jetzt dafür dankbar bin." sagte er mit leiser haßerfüllter Stimme.
"Nein ich erwartete keinen Dank." erwiderte ich ruhig.

Hinter dem Haß spürte ich tiefe Verzweiflung.
"Du bist schuld, daß mein Vater tot ist." warf er mir vor.
Ich widersprach nicht. Ich hatte mir selbst die Schuld daran gegeben.
"Du hättest ihn besser beraten müssen." fuhr der Prinz fort.
"Ich habe ihn besser beraten", erwiderte ich, "doch dein Vater war schwachsinnig. Er verstand gute Ratschläge nicht."
"Du lügst! Ein Schwachsinniger kann das Trockenland keine zwei Monate regieren!" schleuderte er mir zornig entgegen.
"Stimmt. Dein Vater konnte dieses Land nicht regieren." bestätigte ich und sah ihm gerade in die Augen. Ich konnte richtig sehen, wie er begriff, was er in den vergangenen Jahren nicht hatte sehen wollen. Seine Gefühle wechselten von Wut zu Verblüffung und wieder zu Wut.
"Wie hast du es geschafft, deinen Willen durchzusetzen?" fragte der junge König immer noch voll Zorn.
"Überredungskunst, nächtliche Shegriwetten und wenn das auch nichts half, durfte der König mit seinen sämtlichen Dokiharjoni richtig kämpfen üben." antwortete ich.
Diese Antwort machte den jungen König noch wütender. Auch er hatte mit dieser Art von "kämpfen üben" schon ein oder zwei mal Bekanntschaft geschlossen. Das lief folgendermaßen ab: Zuerst wurde er von einem seiner Dokiharjoni angegriffen. Als beide nach einem Scheingefecht zu müde waren, um gefahrlos weiter gegeneinander kämpfen zu können, griff der nächste den Prinzen an und kämpfte, bis er zu müde war, daß die Sicherheit noch gewährleistet war, dann wieder der nächste. Nach ein paar Kämpfen lief das darauf hinaus, daß der Prinz mit der flachen Klinge verprügelt wurde. Seine Ehre verbot es ihm aufzugeben. So dauerte es so lange, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Das ist eine fiese, gemeine Methode. Irgendwie müssen wir Dokiharjoni uns gegen unzumutbare Befehle zur Wehr setzen. Dieses Mittel wird nur äußerst selten eingesetzt. Es wäre gefährlich, wenn der König oft einen erschöpften Eindruck machen würde. Selbstverständlich war dem jungen König klar, daß ich nur getan hatte, was notwendig war. Trotzdem haßte er mich. Er nahm es mir übel, daß ich ihm eine Wahrheit unter die Nase gerieben hatte, die er nicht wissen wollte. Ich wußte, wenn er eine Gelegenheit dazu fände, würde er sich dafür an mir rächen. Er verließ immer noch voll Wut den Raum.

Hinter dem Haß lag bodenlose Verzweiflung. Er tat mir leid. Nur ein Kind kann sich Illusionen leisten.

Am nächsten Morgen sagte Joeth zu Doan und mir:
"Ich will mir den Scheiterhaufen ansehen."
"Ich komme mit." beschloß ich sofort.

Dokiharjoni sehen den Scheiterhaufen, ihres Königs nicht vor dem Tag der Verbrennung an. Doan warf uns beiden einen erstaunten Blick zu und meinte schulterzuckend:
"Geht nur. Ich halte Wache. Wer hat schon Interresse, eine Leiche zu klauen?"
Ich grinste. Dann gingen wir hinunter in die königlichen Ställe und sattelten. An meinem Pferd hing eine besondere Erinnerung. Als mein König seinen zehnten Geburtstag hatte, durften wir uns Pferde aus der königlichen Zucht auswählen. Mein Prinz überließ mir die Entscheidung, da ich die Tiere am Besten kannte. Ich riet ihm, den Rapphengst Roall zu nehmen, da er das beste und schnellste Pferd des Stalles war. Doch mein Prinz war da anderer Meinung:
"Nein Beander, du nimmst Roall. Ich weiß doch, daß er dein Lieblingspferd ist."
So kommt es, daß ich das schnellste Pferd der königlichen Ställen reite.

Der Platz, auf dem der Scheiterhaufen errichtet wurde, lag weit draußen in der Wüste. Auf drei Seiten war er von hohen, senkrechten Felswänden umgeben. Die vierte Seite war zu einer flachen, steinigen Ebene hin offen, die viel Platz für neugierige Zuschauer aus der Stadt bot. Wir zeigten uns nicht, sondern ritten einen Umweg durch die Berge zu einer Felsterrasse, von der aus man den Scheiterhaufen gut sehen konnte. Wir wollten ungestört sein. Lange saßen wir dort oben in der Sonne und beobachteten die Sklavinnen mit ihren langen Ketten, die dort unten den Scheiterhaufen errichteten. Männer arbeiten nicht. Sie treiben Handel oder kämpfen. Die männlichen Sklaven dort unten hatten nur die Aufgabe, die Frauen zu bewachen. Am späten Nachmittag waren die Arbeiten beendet und sie kehrten zurück zum Königshaus. Wir Dokiharjoni jedoch blieben und genossen die Abendsonne.

Plötzlich hörten wir Hufschlag. Sechs junge Männer betraten den Feuerplatz. Sie ritten Pferde, obwohl sie noch sehr jung waren, um sich schon so wertvolle Reitiere erworben zu haben. Die meisten Männer können sich nur die billigeren genügsamen Oudrakis leisten. Sie mußten einer sehr erfolgreichen Jugendbande angehören. Eine Bande, die gut genug ist, um sich eines der größten Häuser des Trockenlandes erobern zu können. Sie unterhielten sich:
"Mein Vater hat den König besiegt und ich werde seinen Sohn besiegen." sagte einer der Männer.
Ich horchte auf.
"Von besiegt kann ja wohl keine Rede sein", widersprach ein anderer, "Dein Vater hat ihn mit zwanzig Mann angegriffen, als der König nur zwei seiner vier Dokiharjoni bei sich hatte. Dein Vater und seine Männer sind inzwischen alle tot, während einer der am Kampf beteiligten Dokiharjoni noch am Leben sein soll."
"Nicht mehr lange. Morgen wird er zusammen mit den beiden Dokiharjoni, die am Kampf nicht beteiligt waren und seinem König hier verbrannt. Dann haben wir es nur noch mit acht zwölfjährigen Kindern zu tun." lachte der erste.
In den meisten Häusern bekamen zehnjährige Jungen das erste mal ein Schwert in die Hand, so daß sie mit zwölf Jahren noch recht ungeschickt waren. Ich hatte genug gehört.
"Komm, den Burschen schnappen wir uns." bedeutete ich Joeth.

Dann schlichen wir mit den Pferden aus unserem Versteck hinunter zum Eingang des Feuerplatzes. Sobald wir ihr Sichtfeld betraten, fielen wir in Gallopp. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen die Männer uns erschrocken und bewegungslos an, dann galloppierten sie uns mit ihren Pferden entgegen. Fünf der sechs Männer ließen wir ungehindert passieren. Dem letzten schnitt ich den Weg ab. Es war derjenige, der damit geprahlt hatte, daß sein Vater meinen König besiegt hätte. Er bremste und wich zur Seite aus, um in eine andere Richtung zu fliehen. Ich schnitt ihm erneut den Weg ab, während Joeth die anderen fünf angriff, damit sie mir nicht in den Rücken fallen konnten. Der junge Mann zog Dolch und Schwert. Mit drei, vier schnellen präzisen Hieben hatte ich ihn entwaffnet und aus dem Sattel geworfen. Er rollte sich ab und war gleich wieder auf den Beinen. Schnell sprang zu ihm hinunter, entwaffnete ihn erneut und warf ihn über die Schulter zu Boden. Sofort war ich über ihm, hielt ihn mit meinem Gewicht unten und setzte ihm mein Dokir so an die Kehle, daß er sich aus diesem Griff nicht befreien konnte, ohne sich dabei selber die Halschlagadern aufzuschneiden. Er erkannte die Aussichtslosigkeit dieser Lage und entspannte die Muskeln. Sein Geist blieb wachsam, bereit bei der ersten Unaufmerksamkeit, bei jedem Fehler, der mir unterlief, zu fliehen.

Ich machte keine Anstalten, meinen Griff zu lockern. Daraufhin rief der junge Mann seinen Gefährten zu:
"Flieht, ihr Idioten! Es sind Dokiharjoni."
Nach kurzem Zögern gehorchten die fünf und flohen in die Berge. Joeth hob Dolch und Schwert des Gefangenen auf, steckte sie ein und band das fremde Pferd an den Sattelknauf meines Rappen. Ich fesselte ihn nicht. Zwar führte der junge Mann eine der mächtigsten Jugendbanden des Trockenlandes an und hatte damit mehr Kihar als die Herren vieler kleiner Handelshäuser. Wir Dokiharjoni verkörperten die Legende des Kihars. Wir wurden wie Götter verehrt, gefürchtet, bewundert und auch gehaßt. Nur der unser König war uns ebenbürtig. Kein Krieger, wie groß sein Ruhm auch sein mag, konnte sich mit uns messen. So waren wir es unserem Ruf schuldig, den jungen Mann auch ohne Fesseln gefangenhalten zu können. Ich forderte ihn mit einer Geste auf, sein Reittier zu besteigen. Er warf mir daraufhin einen wütenden Blick zu und gehorchte. Der junge Krieger empfand es als Beleidigung, daß ich es nicht für nötig hielt, ihn zu fesseln und sagte:
"Ich bin Jeon, Herr des großen Hauses von Ardcarran."
So wie er es sagte, ohne einen einleitenden Satz oder eine Grußformel, ist das Nennen des vollen Namens im Trockenland eine Herausforderung. Er gab mir damit indirekt zu verstehen, daß er zu fliehen beabsichtigte. Mit einem Nicken zeigte ich, daß ich verstanden hatte und bestieg mein Pferd. Auf dem Ritt spielten wir das bei großen Kiharunterschieden übliche Spiel zwischen Gefangenem und Bewacher: Wir Dokiharjoni taten so, als würden wir unseren Gefangenen keines Blickes würdigen. Tatsächlich beobachteten wir ihn jedoch sorgfältig aus unseren Augenwinkeln und unsere, von mir erstklassig ausgebildeten Reitpferde, hielten sein ebenfalls gutausgebildetes Pferd auf Abstand, so daß der junge Mann nicht an unsere Waffen herankam.
"Beander, was würdest du König Rauon vorschlagen, das er mit diesem Mann machen soll?" fragte mich Joeth.
"Mach du zuerst einen Vorschlag." forderte ich ihn auf.
"Am liebsten hätte ich ihm sofort die Kehle durchgeschnitten..." machte Joeth seinem Ärger Luft und fuhr dann ruhiger fort:
"Kinder des Hauses von Ardcarran haben den Ruf, daß sie im Gegensatz zu anderen Häusern ihr Wort gewöhnlich halten. Von der Bande des jungen Jeon habe ich gehört, daß sie mit ihren Überfällen auf Karawanen großer Häuser sehr erfolgreich sind. Außerdem sollen sie seltener Verletzte oder Tote zu beklagen haben, als jede andere Trockenlandbande. Das deutet auf eine gute Planung der Überfälle hin. Sie wären also wertvolle Verbündete, wenn man sie dazu gewinnen könnte. Ich würde Jeon eine Wette anbieten. Ein Turnier. Der Sieger ist König, der Verlierer übernimmt das Große Haus von Ardcarran und unterstützt den Sieger fortan politisch und im Kampf gegen alle Feinde." überlegte Joeth. Ich nickte und antwortete:
"Eine gute Idee. Nach den Berichten unserer Spione soll Jeon etwa dreißig Mann im Alter zwischen zehn und zwanzig Jahren haben. Verglichen mit anderen Banden, ist es eine sehr gutausgebildete Truppe, doch der hohe Anteil von sehr jungen Mitgliedern gleicht diesen Vorteil etwas aus. Ich denke wir sollten nicht Jeon gegen König Rauon kämpfen lassen, sondern Jeons Bande gegen Rauon und seine Dokiharjoni. Wenn er nicht sehr viel Pech hat, wird Rauon trotzdem siegen und Jeon weiß dann, daß er auf keinen Fall eine Chance gehabt hätte und so das beste Ergebnis erzielt hat, das er hätte erreichen können... "
Ich wurde dadurch unterbrochen daß mein Hengst Roall wütend nach dem Reitpferd meines Gefangenen auskeilte, dann alle Viere in den Boden stemmte rechtwinklig nach links abbog und Jeons Pferd den Weg abschnitt. Schnell griff ich nach dessen langer Mähne. Bandenführer Jeon hatte seinem Pferd das Halfter über die Ohren gestreift, einen Bruchteil einer Sekunde, bevor das Tier abrupt abbremste und sich so endgültig von den Zügeln befreite. Jetzt bäumte es sich auf und riß sich so wieder los. Roall erhob sich ebenfalls auf die Hinterbeine und keilte mit den Vorderhufen nach Jeons Pferd aus, während ich seinen Reiter mit einem sehr harten Hieb der flachen Klinge meines Dokirs aus dem Sattel warf. Dann sprang ich selber zu Boden, da die beiden Hengste nun voller Wut gegeneinander kämpften und ich für Roall nur eine Behinderung dargestellt hätte. Jeon war schon wieder auf den Beinen als ich ihn erneut angriff und diesmal so lange mit ihm kämpfte und ihn mit der flachen Klinge schlug, wann immer es mir möglich war, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach. Es war inzwischen dunkel geworden. Roall stand neben Jeons Hengst, der genauso mitgenommen aussah wie sein Herr und an mehreren Stellen von Roalls Bissen blutete. Das Tier ließ vor Erschöpfung den Kopf hängen und zitterte. Roall war in deutlich besserem Zustand. Seine Fähigkeiten im Kampf gegen andere Hengste waren schon immer einer der Gründe gewesen, wegen denen ich Roall so liebte und bewunderte. Durch eine Verbeugung zeigte ich dem jungen Bandenführer meine Anerkennung und forderte ihn dann auf, sein Pferd wieder zu besteigen. Der Fluchtversuch war ein Meisterstück gewesen. Er hatte es geschafft den kurzen Augenblick zu erkennen, in dem meine Unaufmerksamkeit nicht gespielt sondern echt war. Das Abstreifen des Halfters war zeitlich so genau auf die Bewegungen des Reitpferdes abgestimmt, wie das nur möglich ist, wenn der Reiter einen Gutteil der Ausbildung selbst übernommen hat und täglich lange mit seinem Tier übt, so daß sie sich gegenseitig gut einschätzen können, was Reaktionsschnelligkeit und Beweglichkeit angeht. Mein erschöpfter Gegner verbeugte sich ebenfalls würdevoll und ging dann zu seinem Pferd. Er wußte, daß er die einzige Chance zu einer erfolgreichen Flucht vertan hatte. Aber er wußte nicht, was wir mit ihm vorhatten. Er rechnete wohl damit, daß der junge König ihn zu Tode foltern lassen würde. Ich habe berühmtere Männer in solchen Situationen zusammenbrechen und um Gnade flehen sehen. Andere wahrten nur äußerlich gesehen ihre Fassung. Bei Jeon spürte ich nur Wut und den Stolz, daß er sich vor uns keine Blöße geben wollte. Wir schlugen das schnellste Tempo an, das Jeons erschöpfter Hengst durchhalten konnte. So brauchten wir unserem Gefangenen nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken und hatten Ruhe, um die Einzelheiten unseres Planes für Jeon durchzusprechen, wie wir das in Gegenwart des jungen Königs nicht hätten tun können. Als wir im Palast ankamen, ritten wir direkt zu den Ställen, statt die Pferde am Tor einem der Wächter zu übergeben. Wir hatten das Bedürfnis, für eine Weile mit unseren Gedanken allein zu sein, bevor wir dem König gegenübertraten. Der junge Bandenführer war überrascht, als er sah, wie ich mein Pferd selber absattelte. Ihm war wohl nicht bewußt, daß auch Dokiharjoni gelegentlich Kriegszüge unternehmen, bei denen jeder Stallbursche eine Behinderung darstellen würde und deshalb auch ihr Pferd selbst satteln können müssen. Seit ich erwachsen bin, habe ich die Wahl, diese Arbeiten Bediensteten zu überlassen. Doch mir ist klar geworden, daß man ein Pferd nur richtig kennenlernt, wenn man sich auch selber um seine Pflege kümmert. Außerdem bauen Pferde zu ihren Stallburschen eine Vertrauensbeziehung auf, die man für ihre Ausbildung nutzen kann. Während ich mein Pferd striegelte, tat Jeon dasselbe. Seine geübten Bewegungen zeigten, daß er es ebenfalls selten anderen überließ. Ich schickte mein Pferd mit einem Klaps in seine Box, winkte Rias zu mir. Rias war in meinen Augen der beste Stallbursche des königlichen Stalles, da er nicht nur wußte, wie man mit Pferden umgeht, sondern den Tieren auch die Liebe und Aufmerksamkeit schenkte, die sie sich wünschten. Jeon striegelte sein Pferd länger als nötig. Er war in einer seltsamen, traurigen Stimmung. Ich ahnte daß er sein Pferd ungern in fremden Händen zurückließ. Seine Liebe zu dem Tier war fast greifbar. Vermutlich hatte er es irgendwo als Jährling gestohlen und dann selber zugeritten und ausgebildet. Ich hörte zu, wie er mit sanfter, liebevoller Stimme auf sein Tier einredete. Es schien, als hätte er die ganze Welt vergessen. Wie meist, wenn ich zuhörte, wie Rias mit den Pferden in diesem liebevollen Tonfall sprach, erwachte in mir die tiefe Sehnsucht, mit meinem Pferd auch so sprechen zu können. Ich weiß nicht, warum ich für Menschen nie ähnlich empfunden habe. Für meinen König ist mir die Gestensprache immer ausreichend erschienen, nur Roall hätte ich gerne mit sanfter, liebevoller Stimme zugeredet. Das sind natürlich nur müßige Träume. Ich kann keinen Ton hervorbringen.

Ich beobachtete Jeon und sein Pferd. Ihr Zusammensein erschien mir wie etwas unheimlich Kostbares, wie etwas Heiliges, das man nicht stören darf. Joeth legte mir die Hand auf die Schulter und als ich mich daraufhin zu ihm umdrehte, sagte er:
"Wenn du ihn läßt, wird Jeon sein Pferd die ganze Nacht striegeln. Er ist wie du."
Niedergeschlagen nickte ich. So viel Zeit hatten wir nicht. Ich trat zu unserem Gefangenen hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Augenblicklich war diese verzauberte, liebevolle Stimmung wie weggeblasen. Aufrecht und stolz machte er sich bereit, mir zu folgen, wohin ich ihn auch führen mochte. Jetzt lag hinter diesem Stolz keine Wut mehr sondern eine ungebrochene innere Stärke. Sie gab ihm die Kraft, mit der Angst umzugehen, vor der ihn vorher seine Wut geschützt hatte. Auch ich hatte aus dem Umgang mit meinem Pferd immer Kraft geschöpft. Er ging ruhig zwischen uns. Wir waren kaum drei Schritt weit gekommen, als Rias hinter uns bat:
"Herr, können sie bitte ihrem Pferd sagen, daß es mir ruhig in die Box folgen kann?" Jeons Pferd hatte alle viere in den Boden gestemmt und weigerte sich, auch nur einen Schritt zu tun.
"Woher willst du wissen, daß es einen solchen Befehl kennt?" fragte Jeon.
"Dokiharjon Beander hat dieselbe Art mit Pferden umzugehen und er hat für solche Dinge Befehle." erklärte Rias ehrerbietig.
"Ich dachte Dokiharjoni können nicht sprechen." spöttelte Jeon.
"Das Pferd gehorcht seinen Gesten." erwiderte Rias.
Alle Achtung, er hatte genau beobachtet.
"Aha." sagte Jeon.
"Ich halte nichts davon, ein Pferd für die Treue zu seinem Herrn zu bestrafen." erklärte Rias.
Da gab Jeon nach und befahl seinem Hengst:
"Geh mit, Feris."
Lammfromm folgte der Hengst Rias in die Box und ließ sich von ihm die Bisse behandeln, die Roall ihm zugefügt hatte. Jeon ließ sich von uns beiden durch die Gänge des königlichen Schlosses zu den Räumen König Rauons führen. Der dunkelblonde Dokiharjon Fion hielt an der Tür im dunklen Wache und zog sein Dokir, als er unsere Schritte hörte. Die Waffe verbreitete ein geisterhaftes blaues Licht, in dem Fion erkennen konnte, daß wir mit einem Fremden zu ihm kamen. Mit dem Klopfzeichen für Gefahr weckte er die anderen, dann wandte er sich an Joeth und fragte:
"Weshalb bringst du mitten in der Nacht diesen fremden jungen Mann?"
"Es ist Jeon von Ardcarran und er plante einen Angriff auf das königliche Haus." erwiderte Joeth.
Jeon sah, daß ich, der auf dem ganzen Weg die Entscheidungen getroffen hatte, plötzlich in den Hintergrund trat. Er bemerkte den haßerfüllten Blick, den Fion mir zuwarf und wunderte sich. Ich behielt meine unbewegte Miene bei und lieferte ihm nicht die Auflösung des Rätsels. König Rauon kam mit den anderen sechs Dokiharjoni hinzu und ließ sich von Joeth in allen Einzelheiten erzählen, wie und warum wir Jeon gefangen hatten und unsere Vorschläge, was er mit diesem Gefangenen anfangen solle. Ich hielt mich mit unbewegter Miene im Hintergrund und bewachte Jeon.

Über eine Stunde unterhielt Joeth sich mit dem jungen König und seinen Dokiharjoni. Sie diskutierten jede Einzelheit des Planes und sprachen über Alternativen. Joeth machte seine Sache gut, doch er fühlte sich unsicher und hätte mich gerne um Rat gebeten, wie ein gelegentlicher, fragender Blick in meine Richtung andeutete. Ich reagierte nicht darauf. Erst als die Diskussion zuende war und König Rauon sich dem Gefangenen zuwandte, sagte ich, als Joeth wieder einmal zu mir hersah:
"Gut. Ich hätte es nicht besser machen können."
Joeth glaubte mir nur, weil er wußte, daß ich nicht zu Schmeicheleien neige. Joeth trat nicht so bestimmt auf, wie ich das immer gemacht habe. Er war diplomatischer. Bei meinem König war das immer ein Nachteil gewesen, da er nicht fähig war, unsere Gedanken nachzuvollziehen. Ich hatte mich immer mit Gewalt durchsetzen müssen. König Rauon hörte dagegen nur richtig zu, wenn man höflich blieb und verstand dann auch, welcher Sinn hinter den Ratschlägen lag. Joeth war deshalb für die Aufgabe des Beraters besser geeignet als ich, obwohl ich politische Situationen besser einschätzen kann als er.
"Jeon von Ardcarran, Dokiharjon Joeth hat mir berichtet, daß du plantest, uns einen Hinterhalt zu legen und das Königshaus für dich zu beanspruchen. Stimmt das?" wandte sich der junge König an den Gefangenen.
"Ja." antwortete Jeon. Er wußte, daß eine Lüge ihm nichts gebracht hätte.
"Wenn du an meiner Stelle wärest, was würdest du dann mit jemandem tun, der einen solchen Plan gegen dich auszuführen gedächte?" fragte König Rauon.
Jeon zögerte einen Augenblick. Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, sich mit einer geschickten Antwort aus dieser Klemme herauszuwinden. Im fiel nichts ein, deshalb antwortete er:
"Ich würde ihn zu Tode foltern lassen."
Innerlich fühlte er sich wie erstarrt, in dem Glauben, das er sterben würde.
"Das war auch mein erster Gedanke. Doch in Anbetracht der politischen Situation und deines Kihars habe ich eine bessere Idee. Ich brauche Verbündete. Ein Turnier. Ich und meine sieben Dokiharjoni gegen deine gesamte Bande. Der Sieger ist König, der Verlierer ist Herr des Hauses von Ardcarran. In beiden Fällen unterstützt der Unterlegene den König nachher in allen Angelegenheiten." erklärte der junge König.
Für Jeon kam der Vorschlag so unerwartet, daß er noch nicht einmal fähig war, sich zu freuen. Er konnte es einfach nicht glauben. Der König spürte das und ließ ihm Zeit zu begreifen. Langsam machte sich in Jeons Gedanken Staunen breit, Freude und dann kamen ihm Bedenken. Ich wunderte mich. Laut sagte Jeon:
"Mein Vater hat dem königlichen Haus vor Jahren Rache geschworen." sagte er.
Kein Trockenstädter, der etwas auf sich hält, hätte seine Freude in dieser Situation offen gezeigt. Echte Bedenken hätte ich jedoch nicht erwartet.
"Warum das?" fragte König Rauon.
"Der damalige König hat meine ältere Vollschwester Joette entführen lassen." antwortete Jeon knapp.
"Erstaunlich. Wenige Männer des Trockenlandes interressieren sich für ihre Frauen und Töchter. Andererseits, bei deiner Begabung ist das verständlich. Mit der entsprechenden Ausbildung könntest du ein Dokir tragen." sagte Rauon.
Joeth unterbrach ihn und sagte nachdrücklich:
"Sag ihm, daß ich seine Schwester bin."
"Woher willst du das wissen?" fragte Rauon überrascht in der Gestensprache.
"Meinst du im Ernst, auch nur einer von deinen Dokiharjoni hätte nicht heimlich in den Archiven nachgeschlagen, wer seine Eltern sind?" antwortete Joeth grinsend.
Offiziell war das verboten.
"Aber warum interressiert dich das überhaupt?" wunderte sich Rauon. Joeth warf ihm einen betonten "Ich bin ja so mitleidig, daß du SO dumm bist"-Blick zu. Daraufhin stellte der König seine Fragen ein und erklärte Jeon:
"Dokiharjon Joeth läßt dir sagen, daß er deine Schwester Joette ist."
"Aber Joette war doch ein Mädchen... " widersprach Jeon verwirrt.
"Es hat keine Auswirkungen auf die kämpferischen Fähigkeiten der Dokiharjoni, ob sie Mädchen oder Jungen waren, bevor sie zu Emmaska gemacht wurden." erklärte Rauon in einem scharfen Tonfall. Innerlich amusierte er sich über Jeons Verwirrung. Joeths Wunsch seinen Bruder besser kennenzulernen, war beinahe sichtbar. Nur beinahe. Er zeigte es durch keine Geste und sein Gesicht war ausdruckslos. Jeon wußte es trotzdem und teilte diesen Wunsch. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich heimlich in den Archiven gelesen hatte und feststellen mußte, daß die Dokiharjoni mich in einem Rinnstein gefunden hatten. Sie entdeckten meine noch schlummernde Gabe, ein Dokir tragen zu können und suchten nach einer Amme für mich. Ich war sehr enttäuscht, denn wie wohl alle Dokiharjoni hätte ich gern gewußt, wer meine Eltern sind. Vermutlich ist meine Mutter eine Frau die nicht das Recht hat, die Ketten eines Hauses zu tragen. Solche Frauen sind meist zu arm, um ein Kind aufziehen zu können. Sie leben davon, daß sie mit jedem Mann ins Bett gehen, der ihnen ein paar Kupferringe dafür anbietet. Ich finde nicht, daß die abgrundtiefe Verachtung, die andere Männer und Frauen ihnen entgegenbringen, gerechtfertigt ist. Ragion war ebenfalls das Kind einer Frau ohne Ketten. Als das Gerücht umging, die Dokiharjoni würden wieder nach Säuglingen suchen, kamen über zehn dieser Frauen mit ihren Kindern an das Tor des Königshauses und flehten die Dokiharjoni des damaligen Königs an, ihre Kindern zu nehmen. Nur Ragion hatte die Gabe. Die übrigen sind wohl inzwischen verhungert oder an einer Seuche gestorben. Die Straßen sind kein Platz für Babys.
Ich verscheuchte die Gedanken an die Vergangenheit und hörte weiter zu, wie der Prinz sich mit Jeon über die Regeln des geplanten Kampfes einigte. Er hätte die Regeln natürlich festsetzen können, wie es ihm beliebte, doch indem er Jeon ein Mitspracherecht einräumte, hoffte er späteren Groll zu vermeiden. Dokiharjoni sind anderen Kämpfern in jeder Kampfart und unter allen Bedingungen überlegen. Daher konnte der junge König es seinem Gegner überlassen, die Bedingungen festzusetzen. Von beiden Seiten war Achtung und sogar eine gewisse Sympathie zu spüren. Fael schrieb unaufgefordert die vereinbarten Regeln nieder. Er war der zweitgrößte der jungen Dokiharjoni, hatte weißblondes Haar und bernsteinfarbene Augen.
"Jeon, du bleibst bis zum Kampf als mein Gefangener hier, deine Jungs werden durch einen Brief benachrichtigt." befahl Rauon.
"Woher sollen sie wissen, daß du sie nicht in eine Falle locken willst?" fragte Jeon. Er war beunruhigt.
"Traust du mir nicht?" erkundigte sich der junge König. Jeon schwieg einen Augenblick, versuchte Könog Rauons Gefühle und Absichten zu erspüren und entschied dann:
"Doch, ich vertraue dir."
"Gut. Du formulierst den Brief so, daß sie das wissen. Wenn sie Kihar haben, werden sie kommen." entschied König Rauon, dann ließ er Jeon Papier Tinte und Feder geben. Jeon schrieb, setzte seine Unterschrift darunter und reichte das Blatt an König Rauon weiter, der ebenfalls unterschrieb, einen kurzen Zusatz hinzufügte, unter den er eine zweite Unterschrift setzte. Dann rollte er das Blatt ein, siegelte es und bat:
"Beander, kannst du die Nachricht überbringen?"
Ich nickte. Es hätte mich interressiert, was in dem Papier stand.

Der Ritt durch die nächtliche Wüste behagte mir nicht. Es lag nicht an der Wüste oder der Dunkelheit. Beides hatte ich sonst immer genossen. Ich war zum ersten mal in meinem Leben alleine unterwegs und vermißte die beruhigende Nähe meiner Gefährten. Mein Auftrag führte mich durch unwegsames und unübersichtliches Gelände zu einem Platz, von dem allgemein bekannt war, daß Jeons Bande dort eine ständige Wache unterhielt. Dort angekommen hielt ich Roall an und ließ ihn wiehern. Daraufhin rief ein junger Mann, der sich auf dem Felsen neben mir versteckt hielt:
"Wer ist da?"
Ich zog mein Dokir hervor. Sein blaues Licht war eine ausreichende Antwort.
"Was willst du von uns?" fragte der Wächter.
Ich ließ das Dokir noch heller leuchten und hielt die Botschaft in sein Licht.
"Aha, eine Botschaft. Warte bitte einen Augenblick." sagte er so laut, daß es nur einen Sinn ergab, wenn das Lager in Hörweite war. Ich wartet und innerhalb weniger Minuten war ich durch Angehörige von Jeons Bande umringt, die mir neugierige Blicke zuwarfen. Jeons Stellvertreter, einer der ältesten der Bande nahm die Botschaft in Empfang und las sie im Schein einer Fackel durch. Plötzlich bekam ich von hinten einen Schlag auf den Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir kam, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als vor diesen Schmerzen sofort wieder in die Bewußtlosigkeit fliehen zu können. Leider wollte mir das nicht gelingen. Sie hatten mich gefesselt und mir mein Dokir weggenommen. Um den Schmerzen zu entgehen, stimmete ich mich auf denjenigen ein, der es in der Hand hielt. Als er es weitergab, stimmte ich mich schnell und mühelos auf den nächsten ein. Die Waffe ging von Hand zu Hand und wurde von sämtlichen Mitgliedern der Bande neugierig betrachtet. Eine Weile hielt ich beim Einstimmen mühelos mit, dann bekam ich plötzlich solche Kopfschmerzen, daß ich am liebsten laut losgeschrien hätte. Mir wurde klar, daß ich nicht fähig war, in so kurzer Zeit mit derart vielen unterschiedlichen und nicht zusammenpassenden Gefühlen fertig zu werden. Also zog ich es vor, die Schmerzen zu ertragen, die durch die Berührungen der uneingestimmenten Bandenmitglieder an meinem Schwert entstanden und dachte:
*Mein Gott, das ist ja schlimmer als jede Folter.*
Grimmig nahm ich mich zusammen und suchte nach etwas, auf das ich mich so konzentrieren konnte, daß diese Schmerzen in den Hintergrund des Bewußtseins gedrängt wurden.
"Warum der Dokiharjon wohl nicht aufgewacht ist als sie ihm das Wasser über den Kopf geschüttet haben?" überlegte ein kleiner Junge.
"Ich habe einmal gehört, daß Dokiharjoni sterben, wenn man ihnen das Dokir wegnimmt. Vielleicht stirbt er jetzt." vermutete ein anderer. Ich dachte mir, daß er von der Wahrheit wohl nicht weit entfernt war und zwang mich weiter zuzuhören, als hinge mein Leben davon ab. Ich achtete auf jede Nuance der Betonung, auf die Sprachmelodie und die Unterschiede in der Aussprache, die die unterschiedliche Herkunft der Jungen verrieten. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft, um nur ja nichts anderes wahrnehmen zu müssen als diese Unterhaltung. Bei unseren Shegri-Wette-Spielen hatte das immer recht gut funktioniert. Doch die fremden Hände an meinem Dokir brachen mehrmals meine Konzentration. Ich richtete mich auf, soweit es meine Ketten erlaubten.
"Er ist doch noch wach geworden." sagte einer der Jungen. Der Anführer der Bande trat auf mich zu und schaute mir ins Gesicht. Ich erwiderte seinen Blick und bemühte mich, mich nun ausschließlich darauf zu konzentrieren. Er war neugierig. Es kostete ihm Überwindung, meinem konzentrierten Blick gerade zu begegnen, doch er schaffte es und fragte ruhig:
"Weißt du, was in dem Brief stand?" fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Er hielt mir den Brief vor die Nase, glaubte aber offensichtlich nicht, daß ich lesen könne. Schnell las ich durch und konnte nicht fassen, was in dem Nachsatz unter den ersten beiden Unterschriften stand:
"Was den Dokiharjon angeht, der euch die Nachricht überbracht hat: Mit ihm könnt ihr machen was ihr wollt, ich brauche ihn nicht mehr."
Das war unglaublich. Ein Verrat, wie er schlimmer nicht möglich ist. In mir erwachte eine unbändige Wut und fegte alle anderen Gedanken und Gefühle hinweg. Eine Stimme schrie auf. Mein Dokir war heiß geworden und hatte einem der Männer Jeons die Hand verbrannt. Auch der Vertreter Jeons wich zurück, als hätte er sich an meinem Blick verbrannt. Mühsam nahm ich mich zusammen, denn ich wollte nicht ihn durch meine Wut töten. Er faßte sich wieder und fragte unvermittelt:
"Dokiharjon Beander, willst du Rache?"
Wieder wallte der Zorn in mir auf. Nichts hätte ich mir sehnlicher gewünscht. Doch mir wurde klar, daß er mir die Art von Rache, die ich wollte, nicht würde bieten können. Ich wollte es schließlich nur dem König heimzahlen, nicht seinen Dokiharjoni. Ich beruhigte mich und schüttelte still den Kopf. Der junge Mann wunderte sich und überlegte, was er mit mir anfangen könnte und tat schließlich gar nichts. Als eines der anderen Bandenmitglieder nach dem Dokir fassen wollte, ließ ich es wieder heiß werden.

Ich hatte vorher nicht gewußt, daß so etwas möglich ist.

Die wenigen Stunden, die bis zum Sonnenaufgang noch blieben, schlief ich so gut, wie es möglich ist, wenn das Dokir offen auf dem Boden liegt und die Gefühle aller umgebenden Menschen auffangen kann.

Als Fait, Jeons Stellvertreter mich am nächsten Morgen wachrüttelte, hatte ich rasende Kopfschmerzen und fühlte mich am ganzen Körper wie zerschlagen. Fait hielt die Scheide meines Dokirs in der Hand und sagte:
"Wir werden dich mit in den königlichen Palast nehmen. Wenn du nicht willst, daß wir dein Dokir hier zurücklassen, dann darfst du es nicht heiß werden lassen, wenn ich es jetzt aufhebe."
Ich nickte und stimmte ich auf ihn ein, während er die Waffe in die Scheide steckte und am Sattel seines Pferdes befestigte. Dann hängten sie mich mit den Ketten an den Sattel eines Oudrakis. Auf der anderen Seite befestigten sie verschiedene Ausrüstungsgegenstände. Roall stand mit angelegten Ohren in der Nähe, ließ sich von keinem Menschen anfassen und beobachtete wütend, was diese Menschen mit mir taten. Ich entspannte mich, soweit das in dieser unbequemen Lage überhaupt möglich war und dachte über Fluchtmöglichkeiten nach. Ich fand keine.

Als wir im Palast ankamen, hatte sich die Stimmung unter den Dokiharjoni gewandelt. Unübersehbar zeigten sie dem König die kalte Schulter. Fait befreite mich von den Ketten und sagte:
"Den könnt ihr wiederhaben. Der ist dem König so treu, daß ich nichts mit ihm anfangen kann."
"Du irrst, die Treue gilt uns Dokiharjoni und dem vorhergehenden König. Danke. Es freut mich, daß wir die Herausgabe unseres Freundes nicht mit Gewalt durchsetzen müssen." schrieb Dian mit Kreide an die Wand. Fait war irritiert.
"Ich wußte nicht, daß Dokiharjoni schreiben können."
"Gewöhnlich tun wir das auch nicht in der Öffentlichkeit. Leider hat sich gezeigt, daß unser König nicht immer in unserem Sinne spricht und schreibt." schrieb Fion.
"Wollt ihr Rache?" fragte Fait.
"Nein. Wir tragen unsere Streits ohne Einmischung von außen aus. Nur der König war da offensichtlich anderer Meinung. Der Kampf findet wie verabredet statt. Ihr werdet keinen Vorteil von unserer Uneinigkeit haben." schrieb Fael.
Der junge König stand im Hintergrund und beobachtete mit geballten Fäusten das Geschehen. Er war so klug, zu schweigen und sich nicht dem Spott seiner Dokiharjoni auszusetzen. Eine Sklavin betrat den Raum und sagte mit einer tiefen Verbeugung:
"Ich habe das Essen aufgetragen. Wenn die Krieger mir bitte in den Frühstücksraum folgen wollen?"
"Der Kampf wird sicher einige Stunden dauern", ergänzte der junge König, "deshalb möchte ich euch gerne zu einem zweiten Frühstück einladen, bevor wir beginnen."
"Wir haben einen anstrengenden Kampf vor uns. Eßt süßes Obst und laßt Wein unf fette Speisen stehen. Eßt nicht zu viel. Sonst könnt ihr nicht richtig kämpfen." sagte Jeon an die Addresse seiner jüngsten Bandenmitglieder gewandt. Die jungen Dokiharjoni brauchten solche Anweisungen nicht. Das war ihnen schon seit Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Sie würden kämpfen wie immer, höchstens etwas besser, denn an irgendjemandem mußten sie ja ihre Wut auslassen. Ich beschloß bei dem Spiel, das Rache und Gegenrache heißt nicht weiter mitzumachen. Es lenkt die Gedanken von Wichtigerem ab. Joeth, der neben seinem Bruder saß und mit ihm eine schriftliche Unterhaltung führte, sah, daß ich Anstalten machte, den Raum zu verlassen und fragte, was ich vorhätte.
"Ich gehe zu Doan. Ich will mich noch ein wenig mit ihm unterhalten." antwortete ich. Joeth nickte und wandte sich wieder dem Gespräch zu. Ich freute mich für ihn, daß er etwas gefunden hatte, das ihn von seiner Trauer ein wenig ablenkte. Insbesondere, weil er unserem König nicht in den Tod folgen durfte.
Doan saß niedergeschlagen am Bett meines toten Königs. Als er meine Schritte hörte sagte er:
"Du hast lange gebraucht, um dir den Scheiterhaufen anzuschauen."
"Es ist etwas dazwischengekommen." antwortete ich. Doan begriff, daß dieses "etwas" zu den Problemen des jungen Königs gehörte und interressierte sich nicht dafür.
"Ich habe einen Wunsch." sagte ich.
"Wenn du das meinst, ich finde, die Kinder sollen ihre Probleme alleine lösen." wehrte Doan ab.
"Nein, es geht um mich. Mein König hat mir den Befehl gegeben, ihm nicht in den Tod zu folgen, sondern zu fliehen und ohne ihn weiterzuleben. Ich wollte dich bitten, mich zu begleiten." erklärte ich ihm.
Doan warf mir einen bestürzten Blick zu.
"Du hast doch nichts Böses getan, Beander. Warum schickt er dich schon wieder weg?"
"Das war auch mein erster Gedanke. Inzwischen ist mir aufgefallen, daß, was das angeht, alle Nicht-Dokiharjoni anders denken als wir. Ich glaube mein König wußte nicht, daß ich mir kein Leben ohne ihn wünsche. Andererseits gibt es keinen triftigen Grund, diesem Befehl nicht zu gehorchen. Also werde ich fliehen. Kommst du mit?" fragte ich.
Doan überlegte lange schweigend. Dann sagte er:
"Nein."
Ich wußte daß er seine Meinung nicht mehr ändern würde.
"Dann packe ich jetzt für die Flucht. Grüß Beander schön von mir, aber erzähle nicht sofort, was ich vorhabe. Ich wünsche dir alles Glück, das dir das Jenseits bieten kann, Doan."
Ein letztes mal umarmten wir uns noch, ehe ich den Raum verließ. Wir beide weinten stumme Tränen.

Fremde, die nur irgendwo von mir gehört hatten, hatten in zwei Fragen immer ein vollkommen falsches Bild von der Situation, die für mich durch den Tod meines Königs entstand:

Sie begriffen nie, warum ich bereit gewesen wäre, meinem König auf das Totenfeuer zu folgen. Denn sie alle haben immer ein halbwegs selbstständiges Leben geführt, solange sie lebten. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man sein ganzes bisheriges Leben damit verbracht hat, einem geliebten Menschen zu dienen. Wenn man Tag und Nacht nicht von der Seite seines Herrn und Freundes gewichen ist. Es hatte bis dahin in meinem Leben buchstäblich nichts gegeben, das ich ausschließlich für mich und nicht auch für meinen König getan hatte. Nach dem Tod meines Königs vergingen Monate, in denen ich nicht richtig gelebt habe. Ich nahm nicht den Weg wahr, auf dem ich ritt. Ich kann mich an nichts aus dieser Zeit erinnern, als daran, wie verzweifelt ich meinen König vermißte.

Der zweite Irrtum, dem sie alle verfallen sind, ist, daß sie sich vorstellen, ich hätte kämpfen müssen, um fliehen zu können. Gegen wen denn? Die jungen Dokiharjoni und Joeth hätten zwar den Mut gehabt, gegen mich zu kämpfen - aber selbst wenn sie von meinem Vorhaben gewußt hätten. Sie hatten einen wichtigeren Kampf zu führen. Und keiner der anderen Kämpfer aus dem Trockenland hätte den Mut gehabt, gegen mich anzutreten. Gegen mich, einen der Dokiharjoni, die die besten Kämpfer der Trockenstädte sind.

Also packte ich alles zusammen, von dem ich annahm, daß ich es auf meiner Reise brauchen könnte, ging in die Ställe, sattelte meinen treuen Hengst Roall und ritt davon. Einfach so. Ich schaute nicht zurück, denn ich wußte, dann wäre ich in Versuchung gekommen, meinem König in den Tod zu folgen.

Ich weiß noch, wie ich damals meine Zukunft einschätzte und im Nachhinein muß ich sagen: Ich habe die Probleme, die Gefahren, die Schmerzen und Verzweiflung, die mir begegnen sollten, weit unterschätzt. Doch vor allen Dingen habe ich nicht gewußt, daß ich Freunde finden würde. Liebe und Ziele die meinem Leben neuen Sinn geben würden. Es hat immer wieder Zeiten gegeben, in denen ich mich fragte, ob das Leben es wert ist, daß man dafür so viel Leid auf sich nimmt. Doch wurde mir im Laufe der Jahre immer deutlicher:

Der letzte Befehl meines Königs,
"Du sollst fliehen Beander."
war die weiseste Entscheidung, die mein geliebter König in seinem kurzen Leben gefällt hat.


G17. Kersti: Fortsetzung: Der adoptierte Vater
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