Ich hatte einfach Angst. Ich wußte, es würde unangenehm werden. Und ich wollte ganz gewiß nicht dahin, wohin sie mich brachten. Und ich wußte, sie hatten häßliche Dinge mit mir vor, und sie würden mich ganz bestimmt nicht fragen, ob ich das wollte. Ich überlegte, was sie tun könnten, versuchte im Geiste auf jede Möglichkeit eine passende Antwort zu finden. Ich bin ein fantasievoller Mensch. Ich wußte viele Möglichkeiten, auf die selbst sie in jenem Leben nie gekommen sind. Sehr schnell merkte ich, daß ich mich nur selbst verrückt machte. Schlimmer als meine Fantasien konnte die Wahrheit nicht sein. Ich mußte herausfinden, was sie mit mir vorhatten, um den ein Ende zu machen.
Ich sah mich nach einem Engel um, der etwas netter aussah, als die anderen. In Wirklichkeit sind sie nämlich einfach nur Menschen. Mit manchen kann man ganz normal reden, hatte mir Maria erzählt. Ich sah ein Mädchen, kaum älter als ich. Ihre Ausstrahlung war in Ordnung.
"Hallo." sprach ich sie an und lächelte ihr zu. Schüchtern kam sie näher. Es war sinnlos, ihr Fragen
stellen zu wollen, bevor sie ein wenig Vertrauen zu mir gefaßt hatte. Also verwickelte ich sie zuerst einmal in ein
Gespräch über ihr Leben. Es tat mir auch einfach gut, mal mit einem netten Menschen reden zu können.
Schließlich fragte ich sie, ob sie wüßte, was die Erwachsenen mit mir vorhätten. Sie nannte mir ein
langes kompliziertes Wort, von dem sie auch nicht wußte, was es hieß. Ich versuchte es nachzuprechen und
ließ sie es mir noch ein paar mal vorsagen, bis ich glaubte, es mir gemerkt zu haben. Dann näherten sich Schritte
einer Erwachsenen und sie versteckte sich. Eigentlich durfte sie nämlich nicht hiersein.
"Was ist Nervenfunktionsprüfung?" fragte ich die Engelfrau, die hereinkam.
"Eine WAS?" fragte sie.
"Eine Nervenfunktionsprüfung."
Ich vermutete, daß es mir doch nicht gelungen sei, mir das Wort richtig zu merken.
"Wo hast du denn so ein häßliches Wort her?" fragte sie entsetzt.
"Das wollt ihr mir machen." erklärte ich.
"Aber nein Kind. Ganz bestimmt nicht. So etwas macht man doch nicht mit
kleinen Kindern." meinte sie beruhigend.
An ihrer Stimmung merkte ich, daß es etwas sehr Häßliches sein mußte. Dann hatte ich es mir doch
richtig gemerkt. Sie legte mich auf eine von diesen Behandlungsliegen und schnallte mich dort fest.
"Aber was ist es denn?" fragte ich und bekam es langsam richtig mit der Angst.
"Nein, das kann nicht sein. Du hast da irgendetwas falsch verstanden. Sie
sagten du brauchst keine Betäubung. Das wäre ja Folter."
Mit diesen Worten ging sie hinaus. Was Folter ist, hatte ich einmal gesehen. Würde ich nachher genauso
verstümmelt sein wie der Johannes?
Sie hatte recht. Es war Folter. Es unterschied sich kaum von der anderen Folter, nur daß es stärker im Körper verteilt war, nicht immer vom rechten Schulterblatt ausging, wie die über Funk übertragenen Foltern. Aber meine schlimmste Befürchtung bestätigte sich nicht: Nachher war ich immer noch körperlich gesund.
Als die Engel, die die Nervenfunktionsprüfung gemacht hatten, gingen, kam sie herein. Mit niedergeschlagenen, matten
Bewegungen löste sie die Riemen, die mich an der Liege festgehalten hatten, als mein Körper sich vor Schmerzen
aufbäumen wollte. Ich richtete mich im Sitzen auf. Mein Körper zitterte jämmerlich. Sie weinte. Ich sah ihr
in die Augen.
"Warum weinst du?" fragte ich.
"Jetzt foltern sie schon Kinder."
"Ja. Und du hilfst." ergänzte ich hart.
Sie schlug zitternd die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Ich berührte sanft ihre Hand.
"Du bist nicht böse."
Sie sah mich an und weinte noch mehr.
"Du mußt weg sonst machen sie dich böse."
"Aber ich muß doch meine Tochter ernähren!" protestierte sie.
"Mit Nervenfunktionsprüfung? Gerita will das nicht. Komm." widersprach ich.
Mir fiel plötzlich siedendheiß ein, daß das Mädchen ja direkt im Nebenraum unter einem Tisch versteckt
saß. Sie hatte alles mitbekommen. Ich nahm die Mutter an die Hand und führte sie dorthin. Ich hörte das
gleichaltrige Engelmädchen leise und verzweifelt weinen.
"Komm, Gerita."
Sie kroch noch weiter in die Ecke und sah ihre Mutter anklagend an.
"Gerita, sie wußte es nicht." sagte ich.
Sie antwortete nicht.
"Du mußt hier weg. Sie machen dich böse." ermahnte ich die Mutter noch einmal ernst.
Dann krabbelte ich unter den Tisch und nahm das Kind in den Arm. Ich redete lange mit Gerita, versuchte sie
zum Verzeihen zu überreden.
Als wir gemeinsam unter dem Tisch hervorkamen, fragte ich die Engelfrau, ob sie mich jetzt nach Hause bringen würde.
"Nein. Du mußt hierbleiben." antwortete sie und ich spürte, wie sehr sie sich wünschte, mir helfen
zu können.
Ich sah sie nur schweigend an, und versuchte irgendwie mit meiner Angst vor der Zukunft fertigzuwerden. Ich war
überzeugt, wenn sie mich hierbehielten, dann hatte das häßliche Gründe. Die Engelfrau sah mich an,
hatte Mitleid, und überlegte, ob sie irgendetwas für mich tun könnte. Ihr fiel etwas ein:
"Weißt Du was, du kommst einfach mit zu uns. Dann könnt ihr miteinander spielen."
Ich nickte. Das war ein guter Gedanke. Dann hätte ich zumindest keine Zeit mir über eine Zukunft Sorgen zu
machen, an der ich sowieso nichts ändern konnte.
Sie ließ uns in Geritas Zimmer allein, weil sie, wie sie sagte, etwas erledigen wollte.
Am Ende habe ich die kleine Gerita mehr ausgefragt, als mit ihr zu spielen. Denn sie wußte viele Dinge über die Technik der Engel, die mir kein erwachsener Engel hatte erklären wollen. Man weiß nie, wozu solches Wissen später noch einmal gut sein wird. Später schaute die Engelfrau mal kurz bei uns herein, lächelte, als sie uns leise miteinander reden und lachen sah. - Sie glaubte, ich hätte für kurze Zeit vergessen, in was für einer Situation ich steckte. Aber das lag nur daran, daß sie nicht wußte, daß man immer lachen kann - und über alles.
Etwas später holte mich ein anderer Engel ab. Während der folgenden Tage wurden noch mehrere Operationen und Nervenfunktionsprüfungen durchgeführt. Ich sah Gerita und ihre Mutter Karaha nicht wieder, bevor sie mich zurück auf die Erde brachten. Sie setzten mich in einem kleinen Tal nicht weit von unserem Dorf entfernt ab, von wo aus selbst ich mühelos alleine nachhausegehen konnte und schärften mir ein, daß ich über meine Erlebnisse im Himmel mit niemanden reden durfte, sonst würden sie dafür sorgen, daß ich gar nicht mehr reden konnte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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