Ich zog mich in die Felder zurück und weinte. Der kleine Josef, der später Jesus werden sollte fand mich dort und fragte mich, warum ich so weine. Ich schüttete ihm mein Herz aus. Josef sah mich an, lächelte eigenartig und erzählte, daß er bald nur Ausbildung in die Fremde geschickt werden sollte.
Da riß ich mich zusammen. Er hatte zweifellos ebensolche Angst davor,
aus denselben Gründen. Ich lächelte ihm traurig zu und meinte
sanft:
"Ich fürchte, das gehört auch zu den Dingen, mit denen wir uns abfinden müssen."
"Ja." sagte Jesus nur.
Ich legte den Arm um ihn.
"Wer hat die Verantwortung? Deine Mutter oder dein Vater?" fragte ich leise.
Da begann er still zu weinen.
"Vater. Nicht Papa."
Ich nickte. Damit war alles gesagt. Dem Mann war nicht zu trauen. Sanft
strich über die Haare meines Freundes. Mit Papa war der alte Zimmermann
Josef gemeint, in dessen Familie Jesus und Maria aufgenommen worden waren.
Vor Maria hatte ich dagegen Hochachtung, vor dieser Frau, die ihr Kind gegen Gott und die Welt verteidigen würde, wenn sie nur könnte. So legte sie sich nur meist erfolglos für Josef mit ihnen an. Und sie steckte manches dafür ein.
Mein Vater brachte mich mit einem der drei Esel des Dorfes selbst nach Karmel. Er versuchte mich zu trösten und zu beruhigen, erzählte mir von der großen Bedeutung Karmels. Doch da er mich nicht wirklich verstand, traute ich seinem Urteilsvermögen nicht. Nur eines merkte ich mir: er hatte gesagt, daß der Johannes dort wohnte.
Unterwegs schliefen wir in einem der unterirdischen Essenerhäuser, die
die Engel gebaut hatten. Ich lief Abends zu den Kindern des Hauses und
schaute ihnen beim Spielen zu dabei entdeckte ich - Gerita. Ich war mir
nicht sicher, das Engelmädchen trug dieselben Kleider wie die
Essenerkinder. Aber sonst sah sie genauso aus. Ich freute mich.
"Gerita?" fragte ich leise.
Sie fuhr herum sah mich fragend an - erkannte mich nach einigem
Überlegen und fragte ungläubig:
"Simon?"
"Ja."
Wir umarmten uns.
"Mutti sagt, du bist tot"
"Komm, wir zeigen ihr, daß ich nicht tot bin."
Gerita führte mich hoch in einen mit technischen Geräten
vollgestopften Raum. Der Engel dort war ebenfalls gekleidet wie ein Essener.
Er drehte sich zu mir um, sah mich an - ja - es war Karaha, Geritas Mutter.
Ihre Augen wurden groß vor Unglauben, als sie mich sah. Fassungslos
starrte sie mich an und traute ihren Augen nicht.
"Bist du wirklich der kleine Simon?" fragte sie immer noch staunend.
"Ja." antwortete ich und dachte: *Ramajan lügt immer.*
"Sie haben gesagt, daß sie dich zu tode
gefoltert haben." erklärte die Engelfrau und streichelte mir
übers Haar. Sie freute sich wirklich, mich wiederzusehen.
"Vielleicht tun sie das noch." antwortete ich.
Die bisherigen Foltern hatten mich zumindest eines gelehrt - auch wenn ich
weder gefoltert werden noch sterben wollte, war ich stark genug, um
innerlich alles zu verkraften, was sie mir antun würden.
"Du bist so tapfer." sagte sie.
Ich hob den Blick und lächelte der Frau zu, um sie zu trösten und
zu beruhigen.
"Wie du dabei noch lächeln kannst!"
Da mußte ich lachen. Das wäre ja noch schöner, wenn andere darüber entscheiden könnten, was ich fühle! Ich umarmte sie noch einmal. Wenn doch mehr Engel so wären, wie Karaha!
Ich schlief - müde wie ich von dem langen Tag war - in ihren Armen ein. Als ich aufwachte lag ich neben Gerita in deren Kinderbettchen. Kaum hatten wir uns angezogen, holte mein Vater mich ab, zum Weiterritt nach Karmel.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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