Dann mußte er gehen und ein großer schlaksiger Junge führte mich in ein kleines Zimmer, gerade groß
genug, um einem Bett, einem Bücherbrett, einem Schreibtisch und einem Stuhl Platz zu bieten. Ein Hochbett war
unter der Decke, so daß sie gesamte Einrichtung auf einer Fläche von zwei mal zwei Metern Platz fand. Es war
ein Zimmer für einen Erwachsenen.
"Das ist jetzt dein Zimmer." sagte der Junge und ging.
Ich blieb zurück und fragte mich, was zu tun sei. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß es vermutlich das Klügste sei, zu warten, bis jemand kommt, um mich zu holen. Ich wartete zwei Tage. Dabei wurde mir so nach und nach klar, daß sie mich wohl vergessen haben mußten. Schließlich kam ich zu dem Ergebnis, daß ich besser selber nachschauen sollte. In dem Augenblick erklang eine Glocke. Ich lief hinunter in den Hof, und schaute, was das sei. Der erste, dem ich begegnete, war ein weishaariger Mann ohne Bart, der aber gar nicht so alt aussah.
Ich erzählte, wer ich war und fragte, ob sie mich vergessen hätten. Er lächelte:
"Du warst schnell. Die meisten brauchen länger, um zu merken, daß niemand sie holen kommt."
Er hatte eine recht hohe Stimme.
"Wie? Macht ihr das immer so? fragte ich empört."
"Ja. Eines mußt du dir merken. Hier wird niemand dir sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Das ist allein deine
Entscheidung."
"Warum hast du keinen Bart?"
In seinem Gesicht zuckte es. Ich wußte: ich hatte ihn an etwas erinnert, das ihm sehr weh tat.
"Das ist eine lange Geschichte. Komm, setz dich auf meinen Schoß, dann erzähle ich sie dir:
Als ich so alt war wie du, kam ich hierher und wurde zum Heiler ausgebildet, wie auch du hier ausgebildet werden
wirst.
Doch als ich etwa zwölf war, machten wir mit drei von uns Jungen einen
Ausflug und dabei wurden wir von Römern entdeckt, wegen unserer
Kleidung als Bewohner dieser Burg erkannt, gefangengenommen,
verschnitten und in die Sklaverei verkauft."
"Was heißt verschnitten?"
"Sie haben mir die Eier abgeschnitten."
Mir wurde klar, was das bedeutet und ich war entsetzt.
"Aber tut das denn nicht schrecklich weh?"
"Allerdings." sein Gesicht war hart.
"Und warum hast du dann keinen Bart?"
"Wer keine Eier hat, dem wächst kein Bart und die Stimme bleibt so hoch
wie bei einem Kind oder einer Frau. Und ich kann natürlich keine Kinder
kriegen."
"Das war mir klar." sagte ich.
"Sklaverei ist Unrecht. Deshalb nimmt der Orden jeden entflohenen Sklaven
in Schutz, der darum bittet. Du weißt vielleicht, daß der Orden uns bittet,
wegen der politischen Probleme, die daraus entstehen würden, würde diese
Haltung bekannt, Sklaverei zu akzeptieren, wenn wir in diese Lage
kommen sollten.
Dazu wäre ich auch bereit gewesen, wenn ich einen einigermaßen
anständigen Herrn gehabt hätte. Verschneiden läßt sich ja nicht mehr
rückgängig machen. Doch der Mann, der mich kaufte, war jemand, der
Vergnügen daran hat, Menschen zu foltern und zu vertümmeln.
Ich bin geflohen und heute noch werde ich von vielen Essenern dafür
verachtet, weil sie es für Feigheit halten. Das ist auch der Grund, warum
mich niemand in einem wirklich hohen Amt akzeptieren würde.
Aber ich glaube, wer so behandelt wird wie ich damals und nicht flieht,
dem mangelt es einfach an Selbstachtung.
Da ich keine Kinder kriegen kann, habe ich mich entschieden, euch hier
auszubilden, damit ich wenigstens etwas mit Kindern zu tun habe."
Mit der Geschichte stimmte etwas nicht. Vor meinem inneren Auge sah ich Engel. Der Schmerz war echt aber anders, als die
Geschichte erklären würde. Sie enthielt ein Gefühl, zutiefst ungerecht behandelt zu werden und nichts dagegen
tun zu können. Ich nickte nachdenklich und entschied, ein Experiment zu machen.
*Hallo?* dachte ich ihm zu.
*Du kannst die Gedankensprache?* fragte er.
*Ja. Ich will dir etwas erzählen.*
In der Gedankensprache erzählte ich, von Mutter Maria, dem kleinen
Josef und meinen Erlebnissen mit den Engeln. Er hörte mir nachdenklich
zu, nickte von Zeit zu Zeit. Schließlich sagte er in der
Gedankensprache:
*Dazu kann ich dir einiges erzählen:
Der König im Himmel kam eines Tages zum Hochgeweihten Rat und bat
darum, daß du als Gefolgsmann des Königs-Jesus, der da kommen soll,
eingeteilt wirst. Wir teilten ihm mit, daß nach dem augenblicklichen Stand
der Dinge nichts dagegen einzuwenden sei. Allerdings müsse man sehen,
wie du dich entwickelst. Wenn es dir an den nötigen Fähigkeiten mangele,
könnte diese Zustimmung noch zurückgezogen werden. Deshalb wurdest du
auch zur Ausbildung hierhergeschickt. Jesus Tios durfte das nur nicht
vorm Rat des Dorfes erwähnen.
Etwas später kam der König im Himmel mit dem Vorschlag zu uns, daß
er dir ein Gerät einpflanzen wolle, mit dem er über dich wachen und dir
möglicherweise helfen könne. Das wurde ihm erlaubt, da außer dem
Johannes alle Männer des Rates ihm vertrauten.
Simon, wenn du darauf bestehst, werden wir zu ihm hingehen und die
Erlaubnis dazu zurücknehmen. Aber ich würde dir aus verschiedenen
Gründen davon abraten. Ich gehe davon aus, daß er nicht über dich
wachen, sondern vor allen Dingen dich überwachen will. Wenn du nun
zeigst, daß du das durchschaust - und so und nicht anders wird er deine
Ablehnung deuten - gehe ich davon aus, daß er dir die jetzigen Geräte
herausoperieren und heimlich andere einpflanzen wird. Sie haben Mittel
und Wege, dich solche Dinge vergessen zu machen. Dann wird er dich
eher noch gründlicher überwachen und dir zusätzlich genug mißtrauen, um
dich eventuell umzubringen, wenn du das Falsche sagst oder tust. Die
ganze Situation gleitet dir damit nur noch mehr aus den Händen. Und
was noch schlimmer ist: niemand wird dir glauben oder dich verstehen.
Außer Johannes vielleicht und ich.
Nimm dir für die Entscheidung einige Tage Zeit und sag mir dann, was du willst.* sagte er.
*Wie heißt du?* fragte ich ihn, da mir plötzlich bewußt wurde, daß ich ihn
das noch nicht gefragt hatte.
*Ich bin Jesus Arid.*
Ich erkundigte mich, wie das mit dem Essen geregelt war und zog mich dann in mein Zimmer zurück.
Ich stürzte mich auf ihn und trommelte mit meinen kleinen Fäusten auf ihn ein. Ich versuchte verzweifelt,
ihn umzustimmen. Doch erfolglos. Jesus Arid ließ meinen Wutausbruch ruhig über sich ergehen, strich mir
tröstend übers Haar und blieb bei seinem Nein . Ich habe in den Jahren der Ausbildung dort gegen nichts so
rebelliert, wie dagegen, daß sie mir die Sandalen abgenommen haben. Dabei wollte ich sie gar nicht anziehen. Ich
wollte sie nur in meinem Zimmer liegen haben und sie jeden Abend ansehen, als Erinnerung daran, daß
mein Vater mich liebt. Und doch spürte ich irgendwo, daß Arid mich auch in dieser Situation verstand.
Schließlich kehrte ich in mein Zimmer zurück. Dort kauerte ich mich in einer Ecke zusammen und dachte an Maria,
die gesagt hatte:
"Du wirst dich damit abfinden müssen." und dann "Es ist Unrecht."
Ich weinte still vor mich hin. Das mit den Sandalen war Unrecht und das mit den Engeln und mit beidem mußte ich
mich abfinden, weil ich nicht die Macht hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Den Engeln konnte ich
verzeihen, denn ich habe nie etwas gutes von ihnen erwartet. Aber Arid, von dem ich gehofft hatte, daß er
mich unterstützen würde - dem habe ich es übel genommen. Erst nach Jahren habe ich ihm das verziehen.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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