Eines Tages kam ich abends wieder in das Zimmer des Johannes und dort war
ein Junge, den ich nicht kannte. Er drehte sich zu mir um, bezog mich
beiläufig in seine Verbindung zum Johannes mit ein und fragte:
*Ist er das?*
*Ja.* antwortete der Johannes.
Der Junge musterte mich fast eine Stunde lang wortlos. Es war eine ruhige,
freundliche Aufmerksamkeit. Da ich keine Lust hatte, so lange sinnlos in der
Gegend herumzustehen, setzte ich mich neben den Johannes öffnete dem
Jungen meinen Geist und wartete ruhig auf das Ergebnis der Musterung. Er
teilte es mir nicht mit.
Dann half er dem Johannes wortlos hinaus zu dem Platz, von dem aus wir immer
den Sonnenuntergang beobachteten. Wieder saßen wir lange schweigend
zusammen. Schließlich ging ich zu Bett, ohne ein Wort mit ihm
gewechselt zu haben. Am nächsten Morgen beim Frühstück sah
ich ihn wieder. Er erkannte mich sofort, lächelte mir strahlend zu und
sagte zu dem alten Mann, der neben ihm am Frühstückstisch
saß:
"Das ist der Schüler des Johannes. Eine alte Seele. Komm, setz dich zu
uns, Simon."
Ich ging hin und setzte sich auf seinen Schoß. Bei ihm fühlte ich
mich wirklich geborgen. Wie bei dem Johannes. Der Begleiter des Jungen
sprach mich in der Gedankensprache an:
*Du beherrscht die Gedankensprache?*
*Ja.*
*Wie geht es dem Johannes?*
Ich frage mich, was ich darauf antworten sollte. Ich dachte an die vielen
Stunden, die ich mit dem Johannes verbrachte, an die Gespräche wie
zwischen Erwachsenen. Nur an seinen Schmerzen ließ er mich nicht
teilhaben, weil mir das geschadet hätte. Aber ich wußte,
daß er Schmerzen hatte, pausenlos. Ich dachte an die Albernheiten und
Scherze, die er immer wieder machte, an sein Lachen, das so oft von einem
schmerzerfüllten Zusammenzucken unterbrochen wurde, daran, wie er mich
mit immer neuen Tricks dazu brachte, seinem ständigen Unterricht
weiterhin aufmerksam zu folgen, obwohl mir vor Müdigkeit die Augen
zufallen wollten. Ich dachte an die Augenblicke der Ruhe, daran, daß
ich ihn immer wieder hatte weinen sehen und als ich ihm etwas von meiner
Energie(VA180. Definition Eso) hatte schenken wollen, sein bissiger Kommentar, daß das seine
Schmerzen seien, die dürfe ihm niemand wegnehmen. Ich wußte, das
sollte ein Scherz sein. Es klang nur nicht lustig. Und dann die ernste
Erklärung, daß ein Kind NIEMALS, NIEMALS einem Erwachsenen
Energie schenken darf. Sonst kann es nicht richtig erwachsen werden.
Die beiden bekamen meine Gedanken mit.
*Vater trägt sein Schicksal tapfer, auch wenn es fast über seine
Kräfte geht.* stellte der Junge fest.
Jetzt wußte ich wer er war. Das war der Sohn, von dem mir der Johannes
immer so gerne und liebevoll erzählt hatte.
*Als wir das letzte mal hier waren, haben sich die Männer fast pausenlos
über ihn beschwert. Sie sagen, der Johannes sei viel vernünftiger
geworden, seit der Junge sich abends um ihn kümmert.* meinte der ältere Mann.
*Wenn sie so leben müßten, dann wären sie auch nicht vernünftig!* meinte ich.
*Stimmt. Es hat sich einfach niemand die Mühe gemacht, meinen Vater
lange genug zu beobachten, um zu wissen was er braucht oder will. Also
mußte er sich selber darum kümmern, wenn Arid wieder einmal in seinem
Auftrag unterwegs war, um irgendetwas Wichtiges zu erledigen oder mich
über die Vorgänge auf dieser Burg zu informieren.
*Daß mein Vater jetzt weniger Ärger mit ihnen hat, zeigt, daß du dich gut um ihn kümmerst - und das, obwohl du gleichzeitig so viel lernst, daß es für drei reicht. Das habe ich nie geschafft.* erklärte der Junge.
*Wenn ich das nicht mache, macht es niemand richtig. Sie behandeln ihn
wie einen Schrank, den man in die Ecke stellt und sie wundern sich, daß
er dann nicht sinnlos in der Ecke stehenbleibt, wie man das von
Schränken erwartet.* sagte ich, zornig darüber, wie wenig es diese Männer
interessierte, wie sich der Johannes in dieser Situation fühlen mochte.
*Du mußt bedenken, daß sie seine Gefühle nicht wahrnehmen können. Sie
sehen nicht, wer er eigentlich ist.* antwortete mir der Sohn des Johannes
besänftigend.
*Aber das kann ich mir doch nicht einfach mitansehen...* sagte ich und
erzählte dem Sohn des Johannes, wie die Jungen am ersten Tag mit dem
Johannes umgegangen waren.
*Ich weiß. Ich weiß. Ich habe das auch schon gesehen. Die Kinder sind mit
der Aufgabe, sich um einen Mann zu kümmern, der nicht einmal mit ihnen
reden kann, einfach maßlos überfordert. Ich habe versucht die
Verantwortlichen dazu zu überreden, daß sie ältere Kinder dafür einsetzen.
Arid hat es auch versucht. Aber niemand hat sich für unsere Worte
interessiert. Da muß sich der Johannes einfach damit abfinden. Und er ist
innerlich stark genug, um damit fertig zu werden. Manchmal hat man
einfach nicht die Macht, die Dinge in Ordnung zu bringen.*
Ich dachte an meine Erfahrungen mit Engeln und nickte. Mit manchem muß man sich einfach abfinden. Wenn es
doch nur nicht so viele solche Dinge gäbe.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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