"Dir ist vielleicht schon aufgefallen, daß es uns in den letzen Jahren immer
schwerer gefallen ist, noch angemessenen Lehrstoff für dich zu finden.
Letzte Woche habe ich mich mit dem Johannes besprochen und uns ist
nichts mehr eingefallen, das dir noch beizubringen, sich lohnen würde.
Es ist Zeit, daß du außerhalb Karmels auf eigene Verantwortung arbeitest.
Deshalb solltest du jetzt die Einweihung machen. Die anderen fanden dich
zu jung, aber ich bin überzeugt, daß du bestehen wirst.
Ich werde den Johannes bitten, daß er deine weitere Ausbildung
übernimmt. Er ist ein Schüler von mir und wird mir den Gefallen sicher
tun." erklärte mir Jesus Arid.
"Aber die anderen sind doch mindestens 23 oder 24 wenn sie eingeweiht werden!" sagte ich erstaunt.
"So ist es. Sie brauchen diese Zeit, um so weit zu kommen. Die meisten brauchen noch zehn oder zwanzig Jahre länger.
Du bist mit 14 fertig."
"Jesus, warum machen deine Schüler eigentlich alle die Einweihung und die Schüler der anderen Lehrmeister gehen
fast alle weg und werden einfache Essener oder verlassen sogar den Orden?" stellte ich eine Frage, die mich
schon lange beschäftigt hatte.
"Ich bin ein unbequemer Mensch, Simon. Ich stelle an meine Schüler harte Anforderungen, konfrontiere sie mit
unbequemen Wahrheiten, schimpfe mit ihnen. So lernen sie zwar am meisten - vor allem sich gegen unbequeme Menschen zu
behaupten," bei diesen Worten lächelte Arid verwchmitzt "aber es ist nicht gerade einfach, mit mir
auszukommen.
Auch Kinder stellen sich schon die Frage, was sie mit ihrem Leben
anfangen wollen. Die meisten wünschen sich einfach ein schönes Leben
mit angenehmen Kameraden. Die kommen nicht zu mir. Ich bin nicht
angenehm. Andere wollen Ansehen erringen. Die kommen auch nicht zu
mir, denn ich habe einen eher zweifelhaften Ruf. Doch ein paar wollen
wirklich lernen und zu ehrenhaften Menschen heranwachsen. Die kommen
zu mir. Das kann man bei mir lernen.
Nach Abschluß der Lehre wird den Schülern die Frage gestellt, was sie
mit ihrem Leben anfangen wollen. Wieder haben sie die Freiheit zwischen
diesen drei Möglichkeiten zu wählen. Ein schönes Leben mit angenehmen
Kameraden kann sich jeder einfache Essener aufbauen - und mit unserer
erstklassigen Ausbildung bekommt jeder, der sich die notwendige Arbeit
macht, in der normalen Gesellschaft so viel Ansehen, wie er sich wünscht.
Doch die dritte Möglichkeit besteht darin, für den Rest des Lebens auf
Besitz zu verzichten, der über das für Arbeit und Leben notwendige
hinausgeht. Du darfst für den Rest des Lebens keinen Schmuck tragen.
Dein Haus darf nur einen Raum haben und du mußt dem einfachen Volk
mit deiner Arbeit dienen. Du bekommst überall die schwierigste oder
gefährlichste Aufgabe zugeteilt. Dir wird immer das Schwerste zugemutet.
Dafür wirst du auch jederzeit ausreichend von der Gemeinschaft versorgt.
Wir Heilige der Essener werden zwar hoch geachtet. Aber Belohnungen
bekommen wir nicht." Arid wechselte in die Gedankensprache
*Für dich persönlich heißt das außerdem, daß du zum Gefolgsmann des
Königs-Jesus wirst. Das heißt, die Engel werden dich dein ganzes Leben
überwachen und eventuell sogar foltern, wenn deine Entscheidungen ihnen nicht genehm sind.* dann fuhr er wieder laut
fort: "Nimm dir ein paar Tage Zeit für deine Entscheidung."
"Das ist nicht notwendig. Ich mache die Einweihung." auch ich wechselte in die Gedankensprache *Ich überlasse die
Politik nicht den Schwachen und Naiven.* antwortete ich entschieden.
Arid warf mir einen erstaunten Blick zu. Diese Worte erfüllten ihn mit ganz neuer Hochachtung vor mir. Arid kannte mich gut. Doch auch ihm war nicht klar gewesen, worüber ich mir alles Gedanken gemacht hatte. Als Gefolgsmann des Königs-Jesus hatte ich vielleicht die Möglichkeit, den Hochgeweihten Rat, der den Orden regierte, von den Schwächen der Engel zu überzeugen. Oder den Königs-Jesus.
"Gut. Dann bereite ich alles vor. Warte hier."
*Das geht aber schnell.* dachte ich erstaunt.
Jesus Arid verließ den Raum und verriegelte die Tür hinter sich, so daß ich gefangen war. Mir war bisher
noch nicht aufgefallen, daß sie zu verriegeln ging. Ich sah zum Fenster und mir wurde zum ersten mal so richtig
bewußt, daß es vergittert war. Ein Gefängnis. Ich rief mir meine eigene Zelle ins Gedächtnis und mir
wurde bewußt, daß sie sich ebenso dazu eignete, mich darin einzusperren. Es gab auch dort einen Riegel. Ich
hatte ihn nur für eine Verzierung gehalten. Und es war, nebenbei gesagt, keine sehr schön eingerichtete Zelle.
Mir fiel auf, daß es unten in der Tür eine Klappe gab, durch die man dem Gefangenen das Essen reichen konnte.
Auch eine eigene Latrine war vorhanden. Und es gab einen in die Wand eingelassenen Ring, den man verwenden könnte, um
Gefangene daran festzuketten. Die vier Löcher in der Wand des Bettes waren dazu geeignet die Arme und Beine des
Gefangenen darin festzuklemmen, so daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Ich betrachtete die Scharniere der
Tür. Im verriegelten Zustand ließ sie sich nicht aus den Angeln heben.
Ich staunte, daß ich Jahre in einem Zimmer gelebt hatte, ohne daß mir all diese Dinge je aufgefallen waren. Was dachten sich die Essenerführer dabei, uns symbolisch in ein Gefängnis zu sperren? Denn benutzt wurden diese obskuren Einrichtungsgegenstände meines Wissens nicht. - Außer, wie ich gerade festzustellen im Begriff war, bei der Einweihung.
Vor der Tür näherten sich Schritte. Es wurde entriegelt und der Lehrmeister des Folterns öffnete, der uns im
Fach Geistiger Kampf unterrichtet hatte. Er hatte Ketten dabei und zwei Männer, die ich nicht kannte. Ich sah ihn
erstaunt an und stand dann zögernd auf, um ihn entgegen zu gehen. Da packte er mich hart am Oberarm und
warf mich über seine Beine zu Boden. Dort wurde ich mit ein paar schnellen Griffen in Ketten gelegt und grob
wieder auf die Beine gestellt.
"Du kannst natürlich jederzeit aufgeben, wenn dir das Brot eines Eingeweihten zu hart ist." sagte er schroff.
"Ich habe nicht die Absicht dazu." entgegnete ich und eine seltsame Ruhe erfüllte meinen Geist.
Er führte mich in die Folterkammer, die ich schon vom Unterricht her kannte und schnallte mich an der Folterbank
fest.
Jetzt wurde ich zwei Stunden ohne Unterlaß gefoltert. In regelmäßigen Abständen wurde ich gefragt, ob
ich nicht doch lieber ein einfacher Essener werden wolle. Ich lehnte jedesmal ab. Nach und nach wurde ich wütend und
brüllte den Lehrmeister am Ende an, er könne von mir aus machen, was er wolle, aber ich würde bestimmt nicht
von meinem Plan ablassen, ein Eingeweihter zu werden. Er lachte und machte noch eine halbe Stunde weiter. Mir wurde
bewußt, daß ich die Kontrolle über mich verloren hatte und ich zwang mich, innerlich wieder ruhig und
entspannt zu sein, bis er mich schließlich von der Folterbank aufstehen ließ.
"Morgen geht es weiter." sagte er, brachte mich in mein eigenes Zimmer und kettete mich am Ring fest. Es gab nichts zu
essen, nur Wasser. Nachdem ich getrunken hatte, legte ich mich auf mein Bett und versuchte meinen zitternden und
schmerzenden Körper zu entspannen. Es gab keine sichtbaren Verletzungen. Nur das Nervensystem war überreitzt.
Ein Jesus, Mitglied der Führungsschicht der Essener, erfährt auch Geheimnisse, von denen das Leben vieler Menschen abhängt. Deshalb wird in den Einweihungen überprüft ob der zukünftige Jesus die Standhaftigkeit besitzt, auch unter Folterqualen ein Geheimnis zu wahren.
Als er am nächsten Tag wiederkam, begann mein Körper ohne mein Zutun zu zittern. Doch die zweistündige Folter hielt ich diesmal besser durch. Am dritten Tag lief es ähnlich.
Nach der dritten Folter wurde ich in den Keller geführt. In einem abgelegenen Gang wurde eine Falltür geöffnet, man befreite mich von den Ketten und ließ mich dort hinunter. Mir wurde gesagt, daß ich den Weg in die Freiheit finden müsse und daß ich, falls es mir nicht gelänge, spätestens in drei Tagen befreit würde. Dann verschlossen sie die Falltür hoch über mir und ließen mich allein. Ich setzte mich auf den Boden und dachte nach.
Tatsächlich war diese Prüfung einfach zu bestehen, denn jeder Schüler Karmels hatte die nötigen Fähigkeiten gründlich erlernt. Dennoch gab es viele, die an diesem Teil der Prüfungen scheiterten, weil sie nach den Foltern im Dunklen alleingelassen einfach in Panik gerieten und den Kopf verloren. Sie blieben vor Angst erstarrt im ersten Raum des Irrgartens sitzen oder irrten von Raum zu Raum - es waren nur 17 - prügelten auf die Wände ein, aber wagten es nicht, durch den langen, engen Gang zu kriechen, der sich als der Ausweg erwiesen hätte, wenn sie es nur versucht hätten.
Ich ging mit traumwandlerischer Sicherheit den geraden Weg und erfuhr erst nachher von den Problemen, die viele damit hatten. Etwas unterhalb der Burg gelangte ich ins Freie. Es herrschte heller Sonnenschein.
"Immerhin weiß ich jetzt, warum sich so viele Menschen während der Prüfung überlegen, daß sie
doch lieber kein Jesus werden wollen." kommentierte ich.
Jesus Arid lachte und sagte:
"Übrigends, du schweigst über den Inhalt der Einweihung."
Ich nickte. Das war mir klar gewesen. Es hatte mir ja auch niemand meine Fragen zur Einweihung beantworten wollen.
"Solltest du jemals meinen, daß es Zeit ist, eine Einweihung zu erhalten, so brauchst du nur drei mal diese
Einweihung zu fordern. Ich bin sicher, du würdest jede Einweihung bestehen. Grundsätzlich ist aber von solchen
Forderungen abzuraten. Außer der ersten Einweihung, in der die Schüler lernen, was es heißt, eine
Einweihung zu machen, ist jede Einweihung so angelegt, daß die Schüler sie entweder bestehen oder nachher tot
sind. Und die Prüfer können es dir schwer oder leicht machen. Wenn du ihnen eine Einweihung abforderst, die sie
dir nicht geben wollen, machen sie es dir lebensgefährlich schwer."
Ich nickte.
"Ich werde dich vermissen, Arid." sagte ich.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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