Ich starrte Johannes fassungslos erstaunt an. So eine krasse Kritik an diesem grundlegenden Plan der Führung hatte in meiner Gegenwart noch niemand geäußert. Selbst ich hatte es nie ausgesprochen, obwohl mir die Pläne unsinnig erschienen, gerade weil die Engel so darauf drängten. Ich konnte nicht den Finger auf die Stelle legen, wo es nicht stimmte, es ergab nur in meinen Augen alles keinen Sinn. Arid, der Vater des jungen Johannes und Johannes deren politische Ansichten mich interessiert hätten, hatten mit mir nie über die aktuelle Politik geredet. - Das heißt, sie hörten sich meine Meinung an, und ließen mich Bücher über Geschichte lesen, aber ihre Meinungen teilten sie mir nicht mit.
Zu Erklärung nannte mir der Johannes die Zahl der in Israel
ständig ansässigen römischen Legionen. Das waren mehr als
die waffenfähige Bevölkerung Israels. Die Essenerkrieger waren
nur ein zehntel so viele. Dann nannte er die geschätzte Zahl der
Zeloten - der anderen Freiheitskämpfer.
"Die Römer sind gut ausgebildete Kämpfer, aber schlechter als
Essener. Die Zeloten sind sehr schlecht bis gar nicht ausgebildet. Alles
in allem reicht auch unser Können nicht, um einen
zehn-zu-eins-Nachteil auszugleichen. Wenn wir einen Krieg beginnen,
werden die Römer siegen. Und dann vernichten sie uns endgültig."
erklärte er.
Damit hatte er mein gefühlsmäßiges
Urteil mit Zahlen belegt.
*Warum wollen die Engel dann, daß wir kämpfen?* fragte ich.
*Ich weiß nicht. Aber sie haben sicher keine guten Gründe. Sie
verachten uns genug, um uns für ihre Pläne wie Vieh abschlachten
zu lassen.* dachte Johannes mir zu.
Ich nickte. Auch damit bestätigete er meinen eigenen Eindruck.
Zuhause angekommen, wurde uns mitgeteilt, daß Jesus Tios während der Abwesenheit meines Vaters gestorben sei. Ich wußte das schon, denn Tios Geist hatte mich nach seinem Tod besucht und mich gebeten, mich gut um seine Leute zu kümmern.
Der Krieger-Jesus war empört, als Johannes darauf bestand, daß
ich und die zwölfjährige Maria, die bei Tios gelernt hatte, ab
jetzt die für das Dorf zuständigen Heiler seien.
"Zwei Kinder!" schimpfte er.
"Simon hat alles gelernt, was Karmel ihm lehren konnte. Und er ist weder
in seinem Denken noch in seinem Verhalten ein Kind. Maria hat dafür
eine erhebliche praktische Erfahrung im Umgang mit Kranken. Außerdem
sind beide in meiner Ausbildung. Ihr seid besser versorgt, als die meisten
anderen Dörfer." entgegnete Johannes.
Das Dorf mußte sich damit abfinden, daß wir zwei Kinder, die wir in ihren Augen noch waren, uns um die Kranken kümmerten.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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