Die Handwebstühle der Frauen außerhalb der Essenerdörfer waren nicht breiter als eine halbe Armlänge und bestanden nur aus einem rechteckigen Rahmen, den man problemlos in jedem Zimmer an die Wand stellen konnte. Die Webstühle der Essener dagegen waren so breit, daß man damit ein Tuch mit einer Breite von 1,50m weben konnte, aus dem man die Kleider ohne Mittelnaht an Brust und Rücken nähen kann und hatten eine Mechanik, die die Arbeit erheblich beschleunigte, aber den Webstuhl auch zu einem sehr großen Möbelstück machten. Erst im Mittelalter wurden vergleichbare Webstühle in ganz Europa üblich.
Maria, Jesu Mutter, hatte ein eigenes Zimmer zum Weben. Als ich
hereinkam, flog das Webschiffchen gleichmäßig hin und her,
während die mit dem Fuß zu bedienende Mechanik leise vor sich
hin klapperte. Fast eine Stunde beobachtete ich sie nur schweigend beim
Weben. Ihre Aura war so klar und rein, wie ich das noch nie zuvor bei
einem anderen Menschen gesehen hatte. Und ich war immerhin vom Johannes
selber ausgebildet worden. Ich fühlte mich wohl und geborgen in dem
Zimmer, in dem sie arbeitete. Schließlich hielt sie bei der Arbeit
inne und sah mich fragend an.
"Maria, ich wollte fragen, ob ich mit dir reden darf."
"Findest du etwa auch, daß ich mich zu sehr abkapsele?"
"Dazu kenne ich dich nicht gut genug."
Jetzt erst sah sie auf. Ich erschrak, als ich die tiefe Narbe sah, die
quer über ihr Gesicht lief.
"Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?" fragte ich entsetzt.
"Du glaubst es mir doch nicht." sagte sie leise, ruhig, resigniert.
"Wieso, waren es etwa die Engel?" fragte ich scharf zurück.
"Ja."
"Das dachte ich mir. Wo sonst wird einem die Wahrheit nicht geglaubt?"
Sie sah mir überrascht gerade in die Augen.
*Maria, ich habe meine eigenen Erfahrungen mit Engeln.* sagte ich.
*Die hat die kleine Maria auch und sie glaubt den Engeln trotzdem
alles.* entgegnete Maria.
Ich erzählte ihr in der Gedankensprache die Ereignisse des
Vorabends.
*Du hast recht. Tojinia ist eine Sklavin. Aber sie ist zu stolz, das
zuzugeben. Sie wurde bei einem Sternenkrieg gegen die Engel
gefangengenommen. Jetzt untersteht sie direkt dem Herrn im Himmel.*
antwortete Maria.
Ich erzählte ihr meine Vermutungen, daß die Engel uns Essener
vernichten wollten.
*So genau habe ich das nie ausgearbeitet. Aber die Absichten der Engel
mit uns sind durch und durch schlecht. Ich meine nicht alle Engel. Ich
kenne da einige sehr anständige. Aber die Führung ist sehr
böse. Ich habe immer wieder einmal ein paar Bemerkungen zu dem
Thema aufgeschnappt, die eigentlich nicht für mich bestimmt
waren. Und die Essener sind zu naiv. Sie lachen mich nur aus, wenn ich
sie warne. Ich kann es mir einfach nicht mitansehen, wie sorglos und
glücklich sie sind, während oben schon ihre Vernichtung
geplant wird.* jetzt war ihre Stimme voller Schmerz.
*Es wäre noch schlimmer, wenn sie in der wenigen Zeit, die ihnen
noch bleibt, auch noch unglücklich wären, Maria.
Ich habe beschlossen, daß ich so viel wie möglich lerne, um
ganz oben vielleicht eine Veränderung bewirken zu können.*
sagte ich.
*Was ist mit dem Johannes?* fragte sie mißtrauisch, weil sie
beobachtet hatte, wie vertraut ich mit dem höchsten der Essener
umgegangen bin.
*Mit ihm kannst du offen reden.*
*Wie?*
*Er teilt unsere Meinung.*
*Aber er ist doch der Johannes!*
*Das verpflichtet ihn nicht zu absoluter Naivität. Obwohl die Engel
daran zu glauben scheinen.* entgegnete ich lachend.
*Warum haben wir dann keine andere Politik?*
*Du weißt doch, was die Engel dann tun würden. Ich werde
pausenlos überwacht.* sagte ich.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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