Ich sagte, daß ich zu der Weberin Maria ginge, um mich mit ihr ein wenig zu unterhalten. Johannes nickte nur und winkte mich beiläufig fort. Ich fragte mich, was mit ihm los war. Oder mochte er mich nicht so gerne, wie es mir erschienen war? Ich fühlte mich zurückgesetzt und riß mich dann zusammen. Ich bin kein kleines Kind mehr, das ohne die Liebe seiner Eltern nicht überleben kann, oder? Außerdem war es Johannes gutes Recht, sich selbst auszusuchen, mit wem er zuerst reden wollte, sagte ich mir. Dennoch war ich enttäuscht. Ich hatte mich so auf Johannes gefreut.
Bei Maria war ich nicht gesprächig. Das ist oft so - sie ist ein
Mensch mit dem man gut schweigen und sich wohlfühlen kann. Doch sie
merkte sofort, daß es diesmal einen anderen Grund hatte und
fragte, bis ich ihr erklärt hatte, was los war.
"Ich habe eigentlich gar nichts erwartet. Nichts Bestimmtes. Aber ich
wünschte, ich könnte jetzt bei ihm sein. Und ich komme nicht
gegen meine Enttäuschung an, obwohl ich weiß, daß sie
albern ist." sagte ich.
"Du solltest ihn einfach fragen, warum er zuerst mit ihr geredet hat.
Vielleicht klärt das einiges für dich." sagte sie.
Ich nickte. Eine gute Idee.
"Wo hast du dich mit ihn verabredet?"
"Hier."
"Habe ich ihn zu mir eingeladen?" fragte sie ärgerlich.
"Nein. Ihr solltet euch kennenlernen." sagte ich.
"Und deshalb zwingst du mir jetzt eine Begegnung auf." stellte sie fest.
"Ja." sagte ich.
"Bin ich deine Schülerin, daß du solche Entscheidungen
über mich triffst?"
"Nein. Eher umgekehrt. Aber ich kenne Johannes. Du nicht."
"Weißt du, daß du unverschämt bist?"
"Ja. Das ist ein Charakterzug von mir." antwortete ich und grinste sie
jetzt so richtig unverschämt an.
Sie sah mir kurz in die Augen, stellte fest, daß ich nicht bereit
war, mich zu entschuldigen und schwieg verärgert. Ich schwieg
ebenfalls und blieb im Raum, obwohl ich mir sicher war, daß das
ein Rausschmiß sein sollte.
Nach einer Zeit, die mir ewig erschien, kam Johannes herein und fragte
sofort:
"Was ist denn hier los? Stiller Streit?"
"Ich war unverschämt." antwortete ich sofort, "Ich als
Heiler habe ihr ein Gespräch mit dir
verordnet."
"Wie?" fragte Johannes und lachte, "Simon mit dir erlebt man
Überraschungen. Bist du nicht der höfliche junge Mann, der
mich vorne und hinten bedient hat?"
"Die Rolle des Dieners war ein gutes Versteck."
erklärte ich.
"Das habe ich gemerkt. Sonst hätte ich mir das auch gar nicht
gefallen lassen." antwortete Johannes immer noch lachend, dann wurde er
plötzlich ernst und fragte "Was ist an Maria so Besonderes,
daß ich sie unbedingt kennenlernen muß?".
*Sie schätzt die Engel realistisch ein.*
erklärte ich in Gedankensprache.
*Ach so. Nun. Vielleicht ist es nicht verwunderlich. Sie war
längere Zeit im Himmel und ist dann auch noch die Mutter des
zukünftigen Königs-Jesus. Aber das
Mädchen Maria betet die Engel ja auch immer noch an, obwohl sie
von ihnen überwacht wird.* meinte Johannes.
*Was die Engel angeht, habe ich einen Fehler gemacht. Lies. Beim Test
warst du dabei.*
Ich gab dem Johannes die Auswertung des Intelligenztests. Er las und
reichte es an Maria weiter:
"Ich würde gerne wissen, wie du diesen Text verstehen würdest."
Maria las und schlug die Hände vors Gesicht.
"Mein Gott. Womit hat er das verdient?"
"Du hast recht Simon. Eine ungewöhnliche Frau." sagte Johannes,
"Maria, du hast doch im Helios-Tempel eine Einweihung gemacht."
"Zwei." antwortete Maria.
"Dann sind unsere Listen unvollständig. Bist du bereit, eine dritte
zu machen?"
"Warum ich?" fragte Maria.
*Ich bin es leid, nur Idioten im Rat zu haben.* wechselte Johannes in
die Gedankensprache.
*Wie, nur Idioten?* fragte Maria fassungslos.
*Die Engel betreiben eine Politik, bei der jedem klarsichtigen Menschen
auffallen muß, daß sie unser Volk in den Untergang
führt. Die Mitglieder des Hochgeweihten Rates kann man
schütteln, sie sind nicht bereit, diese Wahrheit zu sehen. Lieber
glauben sie daran, daß die Engel schon mit ihren Raumschiffen
kommen werden, um uns vor unserer eigenen Dummheit zu retten.*
erklärte Johannes.
Maria konnte es nicht fassen.
"Johannes. Maria hat mir eine Frage verordnet: Warum wolltest du
zuerst mit Maria sprechen?"
"Bist du jetzt beleidigt?"
"Nein. Ich fühlte mich zurückgesetzt. Ich habe mich deshalb
über mich selbst gewundert."
"Maria fühlt sich zu Recht mißachtet. Sie ist hier die
erfahrene Heilerin. Besser als Jesus Tios es je war. Dennoch
erhältst du alle Bewunderung."
"Wie sieht sie mich?"
"Du bist ein unerfahrener Junge, der auf Karmel
jeden Klimperkram gelernt hat und jetzt mit diesem Wissen um sich
wirft, aber nichts Vernünftiges zustandebringt." antwortete
Johannes.
"Sie hat recht. Ich verliere den Überblick. Wenn ich will,
daß meine Arbeit von Nutzen ist, muß ich mich ihr
unterordnen." antwortete ich.
Johannes nickte.
"Tust du das auch?" fragte er.
"Beim ersten mal, als wir zu Zeloten gerufen wurden, hatte ich es noch
nicht begriffen. Beim zweiten mal habe ich mich bemüht. Es ist
schwierig. Statt Befehle zu geben, hackt Maria auf mir herum."
erklärte ich.
"Sie hat zu wenig Selbstbewußtsein, um deine Unterordnung als
selbstverständlich hinzunehmen. Deshalb ziehe ich sie so
offensichtlich vor. Du kannst damit umgehen, wenn man dich ungerecht
behandelt und zurücksetzt. Du hast ein beinahe unangreifbares
Selbstbewußtsein."
"Johannes, dir gegenüber bin ich da verletzlich." sagte ich.
"Warum? Die Meinung des versammelten Lehrerkollegiums hat dich nicht
interessiert, wenn du von etwas überzeugt warst."
"Tja, Johannes. Du bist halt etwas Besonderes. Warum weiß ich auch
nicht. Aber dir vertraue ich bedingungslos."
Johannes betrachtete mich lange nachdenklich. Ich erwiderte ruhig seinen
Blick und wartete entspannt, auf das Ergebnis seiner Überlegungen.
Er teilte sie mir nicht mit, verließ nur nach einer Stunde des
friedlichen Schweigens das Zimmer.
"Er ist ein seltsamer Mensch." sagte Maria, sobald er den Raum verlassen
hatte.
"Bist du mir immer noch böse, daß ich ihn hierhergeholt habe?"
"Nein. Du hattest recht."
Ich nickte und sagte:
"Du hast die Auswertung genauso verstanden wie ich. Die Heilerin Maria
hat etwas ganz anderes hineininterpretiert."
"Das kann ich mir denken. Aber was wirst du nun machen?"
"Es durchstehen, Maria. Nicht umsonst haben wir in Karmel für
solche Gelegenheiten das richtige Unterrichtsfach: Geistiger Kampf,
die Fähigkeit, mit Folter fertigzuwerden.
Wenn sie mich foltern wollen, muß ich mich damit abfinden. Sie
haben die Macht dazu."
"Der Johannes hält viel von dir. Du hast mit deinen Worten den
Grund für meinen Ärger genau auf den Punkt gebracht. Er hat
keinen Augenblick angenommen, daß es um meine geistige Gesundheit
gehen könnte. Er ist davon ausgegangen, daß du ihm einen
wichtigen Menschen vorstellen willst und er hat sich auf dein Urteil
verlassen. Wie lange kennt ihr euch?" sagte Maria.
"Ich habe ihn bisher vier mal gesehen, bevor wir von Jerusalem nach hier
aufgebrochen sind."
"Ihr redet miteinander, als würdet ihr euch ein ganzes Leben kennen.
Ihr sprecht nur in Andeutungen." stellte Maria fest.
"Ich fühle mich auch, als würde ich ihn schon seit Ewigkeiten
kennen." antwortete ich.
Bevor Johannes am nächsten Tag das Dorf verließ, sagte er mir
noch:
"Ach übrigends Simon, bring der kleinen Maria so viel wie irgend
möglich von diesem Klimperkram, den du in Karmel gelernt hast,
bei. Maria hat das Zeug dazu, die beste Heilerin
der Essener zu werden. Deshalb sollte sie die Möglichkeit dazu
geboten bekommen, auch wenn ich eine Frau nicht nach
Karmel schicken kann."
Ich nickte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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