Bevor ich meine Arbeit ganz abgeschlossen hatte, hörte ich Kampfeslärm. Essener griffen die Römer an, besiegten sie und wollten meinen Patienten erstechen. Ich verbot ihnen das strengstens mit einem Hinweis auf die Gesetze unseres Volkes, die einen solchen Umgang mit Verletzten verboten.
Dann stürmten erneut Römer das Haus und erschlugen die Essener, mit denen ich diesen Streit gehabt hatte. Mich packten sie und wollten meinen Patienten ebenfalls erstechen. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß das ein Römer sei, den Essener gefoltert hätten, bis er den Verstand verlor. Ich wäre von Römern gefangengenommen worden, damit ich das heilen sollte. Daraufhin blieb mein Patient am Leben.
Zwei der Römer packten mich, verbanden mir die Augen und brachten mich
und meinen Patienten weg.
Danach wurde ich von ihnen tagelang gefoltert und mein Patient mußte
zusehen. Irgendwann sagten sie mir, daß sie mir die Augen ausstechen
würden und taten etwas, das sich auch tatsächlich so
anfühlte. Ich aber erkannte es wieder. Es war ein Trick, mit dem man
durch das setzen von drei bestimmten Akupunkturnadeln dem Opfer den
Eindruck vermitteln konnte, ihm würden die Augen ausgestochen. Da
entspannte ich mich, denn von der Sekunde an war ich mir sicher, daß
es nur eine Einweihung war. Schließlich führte mein Patient
mich mehrere Stunden durch die Wüste. Bei dieser Wanderung ließ
langsam die Wirkung der Folter nach und meine Augen begannen wieder,
richtig zu arbeiten. Schließlich begegneten wir in einer einsam
gelegenen Hütte Johannes. Die beiden begrüßten sich mit
einem Lächeln und es war klar, daß sie sich sehr gut kannten.
Johannes nahm telepatischen Kontakt mit uns auf und dachte:
*Na, Gerd, was hältst du von dem Arzt, den ich dir habe schicken
lassen?*
*Irgendwie machte er selbst einen ziemlich verwirrten Eindruck, als er
mich von dem Wahnsinn heilte, in den ich vor den Foltern der Engel
geflohen bin.*
*Haben dich deine Einweihungen etwa nicht verwirrt?* fragte Johannes
lachend.
*Doch. Du hast meine Krankheit für eine Einweihung benutzt? Kann es
sein, daß du irgendwie skrupellos bist, Johannes?* fragte der
Römer scharf.
*Wieso? Hat es dir geschadet?* gab Johannes zurück.
*Nein. Welche Einweihung?* fragte der Mann.
*Die Königseinweihung.*
*Bei so einem jungen Mann?*
*Ja.*
*Ihn kann ich mir als König vorstellen.* sagte der Römer und sah
mich mit ganz neuer Hochachtung an.
*Seit wann zählen Römer zu unseren Eingeweihten?* fragte ich
Johannes.
*Jede anständige Seele darf zum Eingeweihten ausgebildet werden,
unabhängig von Volkszugehörigkeit und davon ob sie in einem
menschlichen oder nichtmenschlichem Körper lebt.* antwortete
Johannes mit einem alten Grundsatz der Essener, den ich aber in dieser
Form noch nicht angewendet gesehen hatte.
Ich fand das vernünftig. Doch mein Bild davon, was die Essener
wirklich sind, war damit ins Wanken geraten.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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