Nach zwei Tagen der Wanderung kam ich schließlich in Karmel an
und fragte die Torwache, ob er wüßte, wo der
Königs-Jesus sei.
"Nein. Es geht das Gerücht um, daß er bald kommen
müßte, aber bisher haben wir noch nichts Konkretes
gehört."
Ich nickte.
"Ist vor zwei Tagen ein neuer Schüler aufgenommen
worden?" fragte ich.
"Zwei. Einer von ihnen ist ein wahrer Riese und hat einen Buckel.
Die beiden hängen immer zusammen."
"Gut. Weißt du, wo ich sie finde?"
"Vermutlich noch in ihren Zimmern - du kennst doch die
Gepflogenheiten!" lachte der Wächter und nannte mir die
Zimmernummer.
Ich ging hin, schaute nach. Die Zimmer waren leer und beide weg. Also
ging ich zu meinem alten Lehrer Arid und fragte ihn, ob er
wüßte, wo die beiden seien.
"Ja. Beim Abendessen."
"Wie lange haben sie gebraucht, um das Zimmer zu verlassen?"
"Drei Stunden."
"Drei Stunden?" von so einer kurzen Zeit hatte ich noch nie
gehört.
"Du weißt doch, daß ich immer neugierig bin und die
Zimmer der neu aufgenommenen Schüler in Augenschein nehme. Als
ich das erste mal dort vorbeiging, öffnete Josef, der Buckelige
die Tür, sagte, er hätte meine Schritte gehört und
fragte, ob er mir einige Fragen stellen dürfte. Er hat mir ganz
zurückhaltend und höflich Löcher in den Bauch gefragt.
Ohne eine Frage je direkt zu formulieren."
"Deine Schritte - die hat er nie durch eine verschlossene Tür
gehört."
Arid geht nahezu unhörbar. Auch wenn die Tür offen ist, wird
man seine Schritte auf einem Gang nicht hören.
"Das habe ich ihm auch gesagt und er fragte nur lächelnd:
'Meinst du? Na dann eben nicht.' und hat die dahinterstehende Frage
ignoriert. Der Mann ist eine ausgebildeter Heiler. Ganz bestimmt. Er
hat es nur nicht erwähnt. Er hat sich erkundigt, wer der Johannes
sei. Vertrau ihm. Er steht auf unserer Seite."
"Und der andere?"
"Der ist wesentlich ungebildeter, offener, direkter und
fröhlicher. Die beiden sind Freunde, enge Freunde. Sie tragen
beide Schwerter und können auch damit umgehen. Gut. Sehr gut.
Besonders der Buckelige ist ein überragender
Schwertkämpfer."
Ich nickte, forderte Arid auf, mir zu folgen und ging in die Kantine.
Unterwegs sagte ich Arid, daß er beiläufig zu den beiden
hingehen und nebenher erwähnen solle, daß ich einer der
fünf höchsten Eingeweihten des Ordens bin. Lachend und
schwatzend saßen dort die Schüler Karmels zusammen. Das
Essen war schon beendet. Arid ging durch die Reihen und wechselte mit
drei Jungen ein paar Worte. Damit war eindeutig klar, wer seine
Schüler waren. Die anderen weigerten sich schon lange vor meiner
Zeit als Schüler Karmels, private
Gespräche mit diesem unbeliebtesten Lehrer Karmels zu führen.
Schließlich sprach er einen buckeligen Mann mit einem
dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Begleiter an und wechselte auch
mit ihnen drei, vier Worte. Das Wort Eingeweihter erwähnte er
nicht einmal. Er deutete meinen Rang nur mit ein paar abfälligen
Bemerkungen an. Dennoch wurde der Buckelige sofort wach, kam auf mich
zu und fragte mich, ob er mit mir unter vier Augen sprechen
könnte.
"Selbstverständlich. In deinem Zimmer." sagte ich.
Unterwegs ging ich in Arids Zimmer und nahm seinen Stuhl mit. Ich
spürte daß Josef, der Buckelige das als einen
ungerechtfertigten Übergriff auf Arids Privatspäre empfand.
Er gab diesen Gedanken mir gegenüber aber nicht zu erkennen. Ich
lächelte in mich hinein.
Der Jesus hatte ein sehr ausgeglichenes Energiefeld, die Aura war
weitgehend klar und er wirkte auf eine zurückhaltende Weise
selbstsicher.
Sobald wir alleine waren, sagte Josef:
"Ich bin der zukünftige Königs-Jesus."
"Ich weiß. Deshalb habe ich dich zu mir rufen lassen. Und
glaub mir, Arid weiß es auch."
"Hast du es ihm etwa verraten?" fragte er empört.
"Nein. Vor Arid kann man nichts geheimhalten. Er ist zu klug. Arid
wählt seine Schüler. Er hat dich schon angenommen."
"Wie bitte? Ich habe das Recht mir meine Lehrer selbst zu
wählen."
"Das hast du. Würdest du einen Anderen wählen, nachdem
du ihn kennengelernt hast?"
Josef sah mich fassungslos an und schwieg minutenlang, dann sagte er:
"Er ist der unbeliebteste Lehrer Karmels."
"Er wählt sich seine Schüler. Alle anderen
stößt er so lange vor den Kopf, bis sie nicht mehr mit ihm
reden."
Jesus lachte. Er hatte das frostige Schweigen im Speisesaal immer noch
lebhaft vor Augen, dann fuhr er mit seinen Argumenten gegen Arid fort:
"Er redet nur in Andeutungen. Er hat mich bis ins Kleinste
ausgefragt, ohne je eine Frage direkt zu formulieren. Und er gibt
nichts über sich preis."
*Oh. Da haben sich zwei gefunden.* dachte ich mir und sagte
schmunzelnd: "Genau das hat er mir über dich erzählt.
Ich würde diesen Lehrer wählen. Die anderen sind dir nicht
gewachsen. Was hast du in deiner Heilerausbildung alles gelernt?"
Jesus stutzte und fragte dann:
"Wer hat dir das gesagt?"
"Arid."
"Ich habe es IHM aber nicht gesagt."
"Er hat es verstanden."
"Du vertraust Arid?" fragte Josef mich.
"Völlig. Aber er ist ein schrecklicher Mensch. Er hält
mir heute noch Moralpredigten, wenn ich Fehler mache." antwortete
ich lächelnd.
Der zukünftige Jesus lachte. Langsam freundete er sich mit dem
Gedanken an, daß Arid der richtige Lehrer für ihn sein
könnte.
"Warum hast du, ohne zu fragen, Arids Stuhl genommen?"
"Das machen wir immer so. Er weiß, welches Zimmer mir
zugewiesen ist und bringt dann meinen Stuhl mit, wenn wir uns heute
Abend unterhalten. Ich werde ihn noch bei einigen Dingen um Rat
fragen. Er ist ein weiser Mann. Selbst der Johannes fragt ihn immer
noch um Rat."
"Ich will wie jeder andere Schüler behandelt werden. Ist es
möglich, geheimzuhalten, wer ich bin?"
"Johannes und Maria solltest du kennenlernen. Sie sind wichtig. Bei
den restlichen Mitgliedern des Hochgeweihten Rates genügt es,
wenn sie es erfahren, wenn dein Vater geruht, es ihnen mitzuteilen.
Sie sind unter deinem Niveau." antwortete ich.
Jesus traute seinen Ohren nicht.
*Beherrscht du die Gedankensprache?* dachte ich
ihm zu.
"Wie?" fragte er laut zurück.
*Idiot.* kommentierte ich diese Antwort.
Er besann sich und wechselte in die Gedankensprache:
*Ja.*
*Dann werden wir uns über Engel und den König im Himmel nur
in Gedankensprache unterhalten. Du mußt bedenken: die Engel
wissen, daß sie mit Folter meinen Willen
gebrochen haben und das so gründlich, daß ich nicht
einmal etwas Schlechtes über sie zu denken wage, geschweige
denn, daß ich schlecht über sie reden würde.*
erklärte ich und lachte ihn an.
*Er hat deinen Willen gebrochen?*
*Er hat mich monatelang gefoltert. Er ist fälschlicherweise der
Ansicht, daß das kein Mensch durchstehen kann, ohne nachher
einen gebrochenen Willen zu haben. Da er nichts von mir verlangt hat,
das ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, ist ihm noch
nicht bewußt geworden, daß er sich da geirrt hat. Ich
verschwende meine Kräfte nicht darauf, mich über das
schlechte Benehmen von Idioten aufzuregen.*
*Warum bist du offen zu mir? Ich bin ich der Sohn des Königs im
Himmel.*
*Und? Wirst du mein Geheimnis verraten?* fragte ich herausfordernd
zurück.
*Nein. Mein Vater ist ein Verbrecher.* antwortete er traurig.
Was immer auch geschehen sein mochte, um den Mann zu dieser Ansicht zu
bringen: Er liebte seinen Vater und war traurig darum. Ein gutes
Zeichen.
*Siehst du. Auf Arids Einschätzung kann man sich verlassen.*
Ich war angetan von unserem zukünftigen Königs-Jesus.
Wirklich. Ich hoffte nur, daß sein Vater nicht allzuschnell
begriff, daß wir uns einig waren, seine Pläne zu
sabotieren.
Wir gingen also in das Zimmer, das auf mich wartete. Johannes, Arid und Jesu Freund warteten dort schon auf uns. Es war also eng.
"Und?" fragte Johannes.
Ich machte nur lachend einen Luftsprung. Jesus sah mich schief
von der Seite an:
"Du benimmst dich wie ein Kind."
"Und? Hast du etwas gegen Kinder?" fragte ich zurück.
"Nein."
"Ich auch nicht."
Jesus dachte darüber nach und eine weiches Lächeln erschien
auf seinem Gesicht.
"Dein Freund Thomas ist aber wesentlich gesprächiger als
du." meinte Arid zu Jesus.
"Wie, hast du ihnen etwa alles erzählt?" fragte Jesus
Thomas empört.
Ich lachte und setzte mich zu meinen Freunden. Jesus starrte Johannes
fassungslos an.
"Was machst du hier?" fragte er.
"Ich bin der Johannes." antwortete Johannes.
"Aber du hast mir davon doch gar nichts gesagt. Ich habe gedacht,
du wärest ein einfacher Essenerheiler, nicht der höchste
Eingeweihte des Ordens!"
"Und? Hast du mir verraten, daß du der zukünftige
Königs-Jesus bist?" fragte Johannes lachend zurück.
"Nein." antwortete Jesus.
"Siehst du. Du paßt zu uns." kommentierte Johannes, und
fuhr zu mir gewandt fort: "Ein halbes Jahr."
Jesu verblüffter Gesichtsausdruck reizte uns alle zum Lachen. Er
wurde deshalb wütend und seine Hand fuhr zum Schwert. Ich sah ihn
an und fragte streng:
"Muß ich dazu noch etwas sagen?"
In dem Augenblick war er den Tränen nahe:
"Ihr sollt mich nicht auslachen!" protestierte er.
"Josef, wir lachen zwar manchmal über eine Geste oder ein
Wort, das auf den ersten Blick lustig erscheint, aber dir will niemand
hier etwas Böses. Wenn du dein Schwert ziehst, hat niemand hier
im Raum eine Chance gegen dich. Wenn du hier Leichen sehen willst,
dann schlag zu. Ansonsten solltest du etwas Selbstbeherrschung lernen.
Wir werden dich jedenfalls nicht mit dummen Scherzen verschonen, nur
weil du uns mit dem Schwert bedrohst."
Jesus steckte das Schwert verlegen wieder weg. Ich lächelte.
"Es war nicht so gemeint." meinte er.
"Doch. Du warst wütend. Und wenn du wütend bist, denkst
du sofort an dein Schwert. Das ist ein Fehler. Die Menschen, auf die
man am häufigsten wütend wird, sind die, die einem am
nächsten stehen. Und die will man unter keinen Umständen
verletzen. Gegen Feinde kämpft man nicht, weil man wütend
auf sie ist, sondern, weil es um das eigene Leben geht." erwiderte
ich streng.
"Das hat mir noch niemand gesagt." sagte er.
"Dann wurde es aber Zeit, daß es dir jemand sagt."
antwortete ich.
Wir unterhielten uns danach nur über Nichtigkeiten, bis Johannes
mit dem Jesus und seinem Freund demonstrativ das Zimmer verließ.
Kaum waren wir alleine, dachte ich Arid zu:
*Du hast ein halbes Jahr Zeit, um den Jesus so auszubilden, daß
er die ech ten Einweihungen sicher besteht. Dann will ich mich ihm
widmen.*
*So wenig?* fragte Arid zurück.
*Ja. Johannes ist derselben Meinung. Der Jesus wird zurechtkommen und
wir werden die verbleibende Zeit nötig haben, um ihn die Geheime
Geschichte Karmels vollständig zu lehren.
Der Mann ist gut ausgebildet. Er ist es nur nicht gewöhnt,
daß andere ihm innerlich gewachsen sind.*
*Du kennst ihn übrigends. Er lebte in eurem Dorf. Er wurde damals
Josef genannt.* sagte Arid zu mir.
*Ich weiß.* antwortete ich *Damals war er aber gesund.*
*Ich weiß nicht, wieso wir ihn heute noch unbedingt zum
Königs-Jesus machen wollt. Bei dem stimmt doch etwas nicht.*
sagte Maria leise.
"Der Josef, der mein Freund war, hatte keinen Buckel. Er war ein
fröhlicher Junge gewesen, der durch sein inneres Licht geradezu
überstrahlt wurde. Warum hat Josef einen Buckel. Was ist
geschehen, seit er ein kleines Kinder war?" fragte ich Arid.
"Das weiß keiner. Er redet nicht über seine Kindheit.
Doch jedes Wort, was er über seinen Vater, den Herrn im Himmel
sagt, ist bitter." antwortete Arid.
"Hat ihm niemand gesagt, daß er verzeihen muß, wenn er
frei sein will?" fragte Maria.
"Doch. Seine Anwort ist: 'Ich weiß.'
Mit Tränen in den Augen." sagte Arid.
Ein halbes Jahr lang war also Arid für die Ausbildung des Jesus zuständig. Johannes und ich verließen uns hundertprozentig darauf, daß er seine Sache gut machen würde. Zuerst klangen seine Berichte geradezu euphorisch. Doch nach drei Monaten rief Arid mich nach Karmel, es sei dringend.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.