*Geh noch einmal zu dem letzten Ereignis vor dem Mord und erzähl
mir die ganze Geschichte.* befahl ich.
Er tat es. Die alles verzehrende Wut war immer noch da.
"Die Wut gehört nicht hierher. Geh zu dem Ereignis, aus dem
sie stammt und erzähle mir, was du fühlst." befahl ich.
Ich wurde dadurch unterbrochen, daß ich über den Sender in
meinem Kopf eine unbekannte Stimme hörte:
"Simon, Jesus, geht zur Gefängniswache, hole dort das Schwert
des Jesus und komm dann in dem Funkraum."
*Das ist mein Vater.* dachte Jesus mir zu.
Ich wurde schlagartig wütend: mußte sich dieser Kerl denn in
alles einmischen? Und verdammt noch mal, Jesus war einfach zu
unausgeglichen, als daß er ein Schwert in die Hand nehmen
dürfte. Besonders dann nicht, wenn ich gerade dabei war, nach der
Ursache dieser Unausgeglichenheit zu bohren. Von Jesus spürte ich
niedergeschlagene Zustimmung zu meinem Standpunkt. Dann bekam ich
mühsam meine Gefühle wieder unter Kontrolle, rief in der
Gedankensprache Arid, damit er uns hinausließ und erstattete ihm
Bericht über das Vorgefallene.
*Dann müssen wir wohl einen Grund finden, warum Jesus dringend zur
weiteren Ausbildung Karmel verlassen und in die Wüste gehen
muß.* der trockene Humor von Arid war mir Balsam auf der Seele.
Auch von Jesus spürte ich Erleichterung wegen dieser Idee. Er
traute sich selbst nicht und wollte möglichst weit
von Menschen weg sein, denen er eventuell schaden könnte.
Auf dem Weg zum Funkraum umgingen wir die belebteren Bezirke der Burg.
"... Und es ist vollständig inakzeptabel, daß mein Sohn
nur wegen eines wertlosen Sklavenjungen eingesperrt wird. Er ist
schließlich der kommende König." schloß der
König der Engel seine Rede.
Ich lag von den Foltern zur Strafe, daß Jesus eingesperrt worden
war, immer noch zitternd am Boden. Und das war auch gut so, denn bei
diesen Worten wäre ich ihm an die Kehle gegangen, wenn ich es
gekonnt hätte. Ein Schüler Karmels mochte zwar auf einem
Sklavenmarkt gekauft worden sein - aber davon war er noch lange kein
Sklave und erst Recht nicht wertlos. Im Gegenteil wurde bei uns nichts
so hoch geschätzt wie diese Kinder, die die Zukunft Karmels waren.
Und ein Mann, der sich an einem dieser Kinder vergriffen hatte, war
für den Rest seines Lebens für jeden höheren Posten
untragbar.
Diesmal war es Jesus, der mit seiner Antwort Besonnenheit bewies:
"Vater. Ihr habt euch all die Jahre bemüht, eurer Herrschaft
über die Essener den Anschein der Rechtmäßigkeit
zu geben. Und - wenn dieser Anschein gewahrt bleiben soll, dann
muß irgendetwas geschehen, was zumindest wie eine Buße
aussieht. Ein Teil der zur Einweihung gehörigen Riten sind nahezu
identisch mit bestimmten Bußübungen. Dazu muß man in
die Wüste gehen. Wenn wir die vorziehen, reicht das vielleicht,
um den Eindruck der Rechtmäßigkeit zu wahren."
Zu meinem Erstaunen stimmte der Mann zu und befahl Jesus, mich aus
dem Funkraum zu schaffen.
Vor der Tür wartete Arid, nickte Jesus zu und begleitete uns durch die Burg. Diejenigen, die uns begegneten, sahen zuerst ärgerlich auf Jesus, weil er frei herumlief, dann sahen sie Arid an und kamen zu dem Ergebnis, daß es vermutlich doch in Ordnung sei. Es war bekannt, daß Jesus keine Gegenwehr geleistet hatte, als er gefangengenommen wurde, deshalb erschien es ihnen denkbar, daß jemand, der so hoch stand wie Arid oder ich, sich entschlossen hatte, sich statt auf Wachen auf Jesu Ehrenwort zu verlassen, wenn er ihn irgendwohin führte.
Daß ich manchmal rätselhafte Anfälle hatte, war allgemein bekannt. So wunderte es niemanden, daß Jesus mich trug. Niemand wußte, daß diese "Anfälle" in Wirklichkeit auf Foltern zurückzuführen waren. Deshalb waren die meisten Essener der Ansicht, daß ich meinen hohen Rang zu unrecht bekleidete und daß diese Anfälle ein Zeichen für eine verborgene innere Charakterschwäche seien.
*Deine Antwort war klug.* dachte Arid, der die ganze Situation durch
eine telepatische Verbindung zu mir miterlebt hatte, Jesus zu.
*Ich hätte lieber Simon um Rat gefragt. Aber der war so
wütend, daß das nicht ging.* antwortete Jesus.
Arid warf mir einen amusierten Blick zu.
*So so, diesmal hast du also die Beherrschung verloren.*
*Ja.* antwortete ich.
*Ich frage mich, wie es möglich ist, daß jemand, den dieser
Mann zur Erziehung in den Fingern gehabt hat, so grundanständig
sein kann, wie es Jesus ist.* meinte Arid nachdenklich.
*Ich anständig?* Jesus sah Arid verwirrt an.
*Von deinen Grundeinstellungen her bist du anständig. Dein Problem
ist, daß du dermaßen übel behandelt worden bist,
daß du es innerlich bis heute nicht vollständig verkraftet
hast.* erklärte Arid *Versteh mich nicht falsch. Ich halte dich
als König für absolut ungeeignet. Du solltest normalerweise
weit abseits vom Geschehen eine ruhige Arbeit haben, damit deine
seelischen Wunden heilen können. Als König bist du eine
wandelnde Zeitbombe. Und das schlimmste ist: Wir haben nicht die
Macht, zu verhindern, daß du König wirst.*
Jesus nickte zustimmend. Er sah an der Königswürde nur die
Verantwortung, nicht den Glanz.
*Wenn er sich selbst unter Kontrolle hätte, wäre er ein guter
König.* dachte ich.
Jesus sah mich erstaunt an.
*Dann muß er es lernen. Denn vor der Königswürde
können wir ihn nicht bewahren.* ergänzte Arid und sah mich an.
*Ich werde mein Bestes tun.* versprach ich - und bezweifelte, daß
das reichen würde.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.