Währendessen saß ich mit Jesus in seinem Zimmer und bohrte
nach der Ursache für seinen unbeherrschbaren Zorn, bis wir
schließlich bei folgender Geschichte endeten:
"Meine erste Begegnung mit meinem Vater hast
du miterlebt, Simon. Er ist damals mit seinem Raumschiff am Rande
der Felder unseres Dorfes gelandet, wo ich zusammen mit meiner
Freundin Maria und Simon spielte. Ich war damals gerade vier, Maria
drei und du Simon ebenfalls drei. Wir alle hatten noch nie ein
Raumschiff gesehen und ich kannte meinen Vater nicht. Also kamen zwei
für mich wildfremde Menschen auf mich zu, hoben mich trotz meines
Protestes hoch und trugen mich in das Schiff meines Vaters. Ich hatte
Todesangst, weil ich nicht wußte, was sie mit mir vorhatten -
und entsprechend wehrte ich mich auch, bekam Schläge dafür
und gab schließlich den Kampf auf, weil ich hoffnungslos
unterlegen war. Sie legten mich auf ein großes hartes,
weißes Bett ohne Decke und legten einen Hebel um. Ich verlor die
Besinnung und dachte ich würde sterben.
Als ich wieder zu mir kam, saß meine Mutter neben dem Bett. Ich
sah, daß sie geweint hatte.
"Haben sie dich auch totgemacht?" fragte ich.
"Nein. Sie haben mich nicht getötet und sie haben dich auch
nicht getötet. Du hattest nur Angst, daß sie das tun
wollten. In Wirklichkeit haben sie dich nur ein wenig schlafen
lassen, damit sie in Ruhe nachschauen konnten, ob du auch ganz gesund
bist, Josef." antwortete meine Mutter.
"Aber warum hast du geweint?" fragte ich.
"Ich war so wütend, daß sie dich geholt haben, ohne
vorher mich zu rufen. Dann hätte ich dir erklären
können, daß es nicht so schlimm ist, wie du dachtest.
Deshalb habe ich mit ihnen geschimpft und sie haben mich für das
Schimpfen bestraft. Aber ich habe weitergeschimpft, bis sie es
eingesehen haben." ein stolzes Lächeln erhellte ihr Gesicht,
"Weißt du, so etwas tut weh. Aber ich kann damit
umgehen."
Ich habe es meinem Vater nicht verziehen.
Die weiteren Begegnungen waren nicht so schlimm. Sie waren unangenehm. Aber ich hatte nicht solche Angst. Ich wußte ja, daß es nur Untersuchungen waren.
Bald darauf wurde mir gesagt, daß ich das Dorf verlassen
müsse, um in der Ferne ausgebildet zu werden. Meine Mutter, so
wurde mir gesagt, dürfe mich nicht begleiten. Ich floh in die
Felder, um mich auszuheulen. Da fand ich Simon, der auch weinte. Ich
bekam Mitleid und fragte ihn warum.
"Ich muß nach Karmel zur Ausbildung." sagte er.
"Ich muß auch weit weg zur Ausbildung." sagte ich.
Da hat Simon sich zusammengerissen und mich getröstet.
Am Ende hat meine Mutter sich ein zweites mal gegen die Engel
durchgesetzt und mich zu der ersten Stelle, wo ich lernen sollte,
begleitet.
Meine Lehrer waren zwei junge Männer. Ein Schwertkampflehrer und einer, der mir lesen, schreiben, rechnen und die Grundzüge unserer Geschichte beibringen sollte. Zuerst habe ich sie gehaßt, weil sie von mir verlangten, daß ich den ganzen Tag lernen sollte - zuerst lesen und so, wenn ich nicht mehr stillsitzen konnte, kämpfen und wenn das ich nicht mehr kämpfen konnte, wieder lesen.
Ich habe erst im Nachhinein erfahren, wie sehr mein Vater sie unter Druck gesetzt hat. Durch Morddrohungen und Folter. Ich hatte Glück, daß sie das damals nicht an mir ausgelassen haben.
Doch mit der Zeit lernte ich sie lieben, weil sie zwischendurch immer so schöne Geschichten erzählten und Witze machten, damit ich wieder lachte.
Als mein Vater schließlich meinte, es sei Zeit, daß ich etwas anderes lerne, begann ich zu weinen. Ich wurde für dieses Weinen mit Folter bestraft, bis ich die Besinnung verlor."
"Wie alt warst du damals?" fragte ich.
"Sechs.
Danach habe ich aufgegeben. Ich glaubte nicht daran, daß es meinem Vater etwas bedeuten könnte, ob es mir schlecht oder gut ging. Und ohne seine Liebe hatte ich keine Chance, etwas bei ihm zu erreichen. Doch meine Mutter hat mit ihm geredet - erst um mich selbst begleiten zu können und, als sie damit nicht durchkam, damit wenigstens einer meiner Lehrer mich begleitete.
Schließlich saß mein Schwertkampflehrer mit im Raumschiff, das mich fortbringen sollte. Ich saß schweigsam am Boden und wartete, was da kommen sollte. In Gegenwart meines Vaters, so hatte ich beschlossen, wollte ich nie wieder weinen.
Der Lehrer fragte, wohin ich kommen solle. Mein Vater sagte es ihm.
Daraufhin bekam mein Lehrer einen Wutanfall. Er schimpfte mit meinem
Vater, sagte ihm, daß das nichts für ein so kleines Kind
sei und versuchte verzweifelt, ihn umzustimmen.
"Die bringen ihn doch um." sagte er.
Mein Vater zog eine Lähmpistole und schoß auf ihn. Als er
dadurch wehrlos war, öffnete er die Bodenluke und warf ihn dort
hinaus. Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Er hatte ihn aus
mehreren hundert Metern Höhe zu Boden fallen lassen. Er konnte
das nicht überlebt haben. Als ich es erfaßt hatte, ging ich
mit meinem Schwert auf meinen Vater los und wollte ihn umbringen.
Entsetzliche Schmerzen raubten mir mitten im Sprung die Beherrschung
meiner Muskeln.
Ich habe es ihm nicht verziehen."
"Jesus, du sagst jetzt schon zum zweiten mal: 'Ich habe es ihm
nicht verziehen.' Das ist falsch. Es macht dich kaputt. Genau das ist
die Ursache, warum du dich nicht beherrschen konntest."
"Ich weiß. Ich weiß aber nicht, wo ich die Kraft zum
Verzeihen hernehmen soll."
"Wenn du sie in dir selbst nicht findest, bitte Gott darum,
daß er dir hilft. Ich will jetzt kein 'Ich kann nicht.' von dir
hören. Los."
Damit hatte ich ihn in die Ecke gedrängt. Da brandete dieser
unbeherrschbare Zorn wieder in ihm auf. Ich wußte, ich schwebte
in Lebensgefahr. Und der Bursche trug nicht nur ein Schwert, er hatte
auch noch gelernt, damit umzugehen. Ich ging in mich, in die Herzgegend
und bat um Frieden und Liebe. Ich entspannte mich. Erst als ich mich
ganz ruhig und voller tiefster Liebe für ihn fühlte,
begann ich zu sprechen.
"Jesus." sagte ich leise, ließ ihm mit meiner Liebe einen
kurzen Gedankenimpuls zukommen: *ich habe dir nichts getan. Diese Wut
hat nichts mit mir zu tun. Sie ist fast so alt wie du. Nimm dich
zusammen und tu, was ich dir gesagt habe.* und schaute ihm ruhig und
gerade in die Augen.
Ich spürte, wie ich ihn erreichte. Er erlangte die Kontrolle
über seinen Körper zurück und fing das Schwert direkt
über meiner Stirn wieder ab. Dann ließ er die Arme zitternd
sinken und sah mich mit tränenerfüllten Augen an.
Das Ganze hatte nur Bruchteile von Sekunden gedauert. Doch ich
fühlte mich vollkommen ausgelaugt und erschöpft. Ich betete,
wie ich das auch beim Heilen machte, um Kraft und sie floß mich
wie klares weißes Licht zu und hüllte mich ein. Ich atmete
tief durch, entspannte meine Muskeln und lächelte Jesus zu.
"Leg dein Schwert in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers, Jesus.
Dann hast du mehr Zeit, um zur Besinnung zu kommen, wenn du wieder
einmal die Beherrschung verlierst." sagte ich freundlich.
Er nickte und gehorchte. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewußt,
wie knapp ich dem Tod entronnen war. Er zitterte.
"Jetzt geh wieder an den Anfang des Geschehens und erzähl mir
alles noch einmal." befahl ich.
Er sah mich ungläubig an, staunte über meine furchtlose
Hartnäckigkeit.
*Du weißt doch, was die Alternative wäre.* erklärte ich.
Er dachte daran, daß ich gesagt hatte, daß wir
überlegten, ihn zu vergiften - und daß ich dann ebenso
getötet würde. Und er begriff.
Er ging gehorsam an den Anfang der Geschichte und begann zu erzählen. Es kamen noch mehr häßliche Einzelheiten dazu. Ich hörte still zu, nickte manchmal oder lächelte und achtete streng darauf, im inneren Frieden zu bleiben, während Jesus mir von den Mißhandlungen seiner Kindheit erzählte und seine Stimme vor Tränen bald erstickte oder vor Wut zitterte. Immer wieder ließ ich ihn die Ereignisse durchgehen, fragte nach weiteren Einzelheiten. Und jedesmal, wenn er zum Ende kam, fragte ich, ob er jetzt verzeihen könne. Jedesmal verneinte er, jedesmal bat ich ihn, Gott um Hilfe zu bitten. Jedesmal sprang er auf, griff nach dem Schwert. Ich ging in mein Herz und sagte nur noch ein Wort: "Jesus." Und er legte es jedesmal beschämt zurück und setzte sich wieder an seinen Platz. Am Abend war ich zu Tode erschöpft.
Am nächsten Tag wechselte ich das Thema und ging der Frage nach, warum Jesus seinen Vater so hartnäckig mit dem Höchsten, mit Gott gleichsetzte. Im Grunde wußte er es doch besser.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615,
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