Reinkarnationserinnerung - 13 Hexen

M1.

Krankheit

Als ich fünf war, bekam ich wie beinahe jeden Winter zuvor eine Erkältung. Meine Mutter kümmerte sich nicht darum. Es gab im Winter wenig Arbeit in Haus und Garten, so daß ich mich in den Heuschober verkriechen und schlafen konnte, solange ich wollte. Wenn ich nicht schlief, hatte ich auch keine Lust aufzustehen, so döste ich vor mich hin, dachte mir Geschichten aus, in denen meine Mutter mir das Essen hochbrachte, wie das die Mütter anderer Kinder tun. Wenn ich allzuviel Hunger hatte, ging ich anfangs noch hinunter, wenn meine Mutter zum Essen rief. Doch irgendwie schien alles nicht mehr zu schmecken, und der Weg hinunter wurde mir immer anstrengender. Also blieb ich im Heu und schlief weiter, nur die langen, zermürbenden Hustenanfälle konnten mich noch wecken. Meine Mutter schaute nicht, wie es mir ging.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Wütende Frauenstimmen holten mich aus dem Schlaf. Ich war zu krank, um viel zu verstehen.
"Das kannst du nicht so machen", meckerte meine Tante. Ich wunderte mich, was sie bei uns machte.
"Wen kümmert es, wenn das Blag stirbt. Es hat mir nur Unheil gebracht."
"Dann bring sie zur Hexe. Ich lasse nicht zu, daß sie stirbt."
"Also gut. Aber du mußt bezahlen."
"Nichts da. Sie ist deine Tochter."
Dann gingen sie wieder hinunter.

Ich überlegte, was ich Böses getan haben könnte, daß meine Mutter mich zur Hexe bringen wollte, damit die mich in den Backofen steckt. Und noch viel schlimmer - warum wollte meine Tante das? Sie war doch sonst nie böse zu mir. Ein Teller war mir in der letzten Zeit nicht heruntergefallen. So klein war ich nicht mehr. Hatte ich vielleicht zu viel geheult? Warum wollte meine Mutter mich zur Hexe bringen? Andere Kinder taten viel schlimmere Dinge und bekamen nur eine Tracht Prügel. Ich fand keine Antwort. Sie würde ihre ständige Drohung also doch wahr machen. Ich schlief erschöpft wieder ein.

Meine Mutter weckte mich mit Schlägen und einer Schimpftirade, schimpfte, als ich anfing zu heulen, befahl mir, mich anzuziehen, und zerrte mich dann an der Hand durch das Dorf zum Hexenhäuschen am Waldrand. Immer wenn ich hinfiel, bekam ich eine Ohrfeige. Das nützte nichts: Ich war zu schwach, um mich auf den Beinen zu halten. Wahrscheinlich war es sowieso egal. Wenn ich gebacken würde, spielte es gewiß keine große Rolle, ob ich vorher ein paar Ohrfeigen mehr oder weniger bekam.

Oben angekommen, riß meine Mutter ohne zu klopfen die Tür vom Hexenhäuschen auf, warf ein paar Münzen auf den Tisch und rief:
"Mach sie doch gesund wenn du kannst. Hier ist das Geld."
Sie rannte davon und ließ mich zitternd in der offenen Tür stehen. Mir wurde bewußt, daß ich zu schwach zum Weglaufen war. Außerdem könnte die Hexe ihren Besen nehmen und hinter mir herfliegen.

Ich straffte mich und richtete mich stolz auf. Meine Mutter wußte es nicht. Ich schon. Ich bin lieb. So weit ich mich erinnern konnte, hatte ich nie einen Menschen absichtlich geärgert. Immer hatte ich mich bemüht alles so gut zu machen, wie ich nur kann. Denn Lieb sein ist das wichtigste, das es auf der Welt gibt. Böse sein macht unglücklich. Ich begriff nicht, warum andere Menschen das nicht wußten.

Eine Frau kam aus dem zweiten Zimmer der Hütte, schloß die Tür und sagte freundlich:
"Komm herein, Kind. Du siehst ja ganz blaß aus."
Ich betrachtete sie nachdenklich. Sie war eigentlich nicht böse, wie meine Mutter das immer sagte. Ich mußte herausfinden, woran ich war.
"Steckst du mich jetzt in den Backofen?"
"Ich - einem Kind so etwas antun? Ihr Götter, wer hat dir nur so einen Unfug erzählt?"
Die Frau war empört und zutiefst verletzt. Ich spürte, daß soetwas das schrecklichste Verbrechen war, was sie sich vorstellen konnte. Ich wollte sie trösten.
"Meine Mutter erzählt das. Aber in Wirklichkeit bist du lieb. Ich merke so etwas nämlich. Aber meine Mutter weiß nicht was lieb und böse ist. Und manchmal lügt sie auch, weil sie mich nicht mag." sagte ich.
"Wie kannst du nur sagen, daß deine Mutter dich nicht mag?"
"Weil es stimmt. Aber ich hab sie lieb. Sie ist doch meine Mutter."
Die Hexe verstummte, nahm mich auf den Arm, trug mich ins hintere Zimmer und kümmerte sich so um mich, wie ich mir das von meiner Mutter immer gewünscht hatte. Sie gab mir warme, mit Honig gesüßte Kräutertees, die richtig gut schmeckten, erzählte mir Geschichten, hielt nachts an meinem Bett Wache, wenn ich mich in Fieberträumen hin und her warf.

Ich schwebte über eine Woche in Lebensgefahr und brauchte noch zwei Wochen, um einigermaßen wieder zu Kräften zu kommen. Dabei konnte ich sehen, daß sie zu allen Leuten so lieb war, wie zu mir und daß sie für jede Krankheit das richtige Heilmittel wußte, wenn die armen Leute, die keinen Arzt bezahlen konnten, zu ihr kamen. Das wollte ich lernen. Ich versuchte ihr zu helfen, so gut ich konnte und fragte ihr Löcher in den Bauch, als ich merkte, daß sie nichts dagegen hatte. Jede Frage beantwortete sie geduldig und erzählte dabei wunderschöne, aber sehr merkwürdige Geschichten.

Eines Tages zog die Hexe schließlich ihre warmen Sachen an und sagte zu mir:
"Es ist so weit. Ich muß deiner Mutter sagen, daß du wieder richtig gesund bist und sie dich abholen kann."
Sie war dabei sehr traurig.
"Aber ich will nicht weg. Ich will hierbleiben, eine Hexe werden und Leute gesund machen wie du!" protestierte ich.
Für einen Bruchteil einer Sekunde strahlte die alte Hexe vor Freude. Dann sank sie in sich zusammen und schüttelte resigniert den Kopf.
"Nein Kind. In früheren Zeiten wäre jede Mutter stolz gewesen, wenn eine Hexe ihr Kind zur Tochter gewählt hätte. Aber heute gingen die Leute zum Pfarrer in der Stadt und würden erzählen, ich hätte dich geraubt, um dich dem Teufel zu verkaufen. Und dann bringen sie mich ins Gefängnis und verbrennen mich auf dem Scheiterhaufen. Nein Kind, das kann ich nicht machen."
"Aber wenn meine Mutter mir das erlauben würde, geht das, oder?" fragte ich.
"Ja, dann ginge es. Aber sie wird das ganz bestimmt nicht erlauben."
"Aber versuchen darf ich es, oder?"
"Kind, Kind, weißt du, was du dir wünscht? Sie werden dich dein Leben lang dafür verspotten und mit Steinen bewerfen, daß du anderen hilfst. Und am Ende wirst du noch auf dem Scheiterhaufen verbrannt."
"Meinst du wirklich, daß ich dafür in die Hölle komme?" fragte ich.
Ich konnte mir das nicht vorstellen. Gott war doch allwissend. Er sah doch, daß sie nichts böses tat.
"Nein Kind. Nicht in der Hölle. Auf dem Marktplatz in der Stadt. Die Götter sind viel gnädiger als Menschen."
"Aber ich darf sie doch fragen, oder?" fragte ich.
Verspottet und mit Steinen beworfen wurde ich sowieso. Und die Hexe war der liebste Mensch, dem ich je begegnet war.
"Ja. Fragen darfst du." sagte sie und ging.

Bald darauf kehrte sie mit meiner Mutter zurück. Zaghaft fragte ich, ob ich bleiben dürfte. Da begann meine Mutter mich so wüst zu beschimpfen, daß ich nur noch weinen konnte:
"Oh von dir habe ich nichts anderes erwartet. Du kommst ganz auf deinen Vater, der ein wahrer Teufel war. Es ist ein Wunder, daß dir nicht Hörner auf der Stirn gewachsen sind. Aber vielleicht wachsen sie ja noch, wenn du größer wirst. Du warst schon immer so ein schreckliches, undankbares Kind, und das, wo ich so viel Gutes für dich getan habe. Bleib doch bei dieser Hexe, da gehörst du hin. Wechselbalg, das aus der Sünde gezeugt wurde."
Ich konnte nicht fassen was ich hörte. Warum tat sie das? Wenn ich ihr wirklich etwas getan hätte, müßte ich das wissen, oder? Ich weinte mir die Seele aus dem Leib. Sanft legte die alte Hexe ihre Hände auf meine Schultern und drückte mich an sich. Ruhig und würdig sprach sie:
"Geh in Frieden. Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als ein unschuldiges Kind zu beschimpfen, das sich nur ein wenig Liebe wünscht, dann geh und laß das Kind hier, wo ihm niemand etwas Böses tut. Geh. Der Friede des Herrn sei in dir." sie sagte das in einem seltsam beschwörenden Tonfall und meine Mutter wurde tatsächlich friedlich und ging.
Ich wunderte mich. So war meine Mutter nie. Als ich zu der Hexe hochsah, merkte ich, daß sie weinte. Sie nahm mich auf den Arm, trug mich in ihr Bett und tröstete mich.

Kersti


M2. Kersti: Fortsetzung: Kirchgang
MI. Kersti: Inhaltsübersicht: 13 Hexen
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
Sonstiges
Kersti: Hauptseite
Kersti: Suche und Links
Kersti: Über Inhalt, Philosophie und Autorin dieser Seite

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/     E-Mail an Kersti
Ich freue mich über jede Art von Rückmeldung, Kritik, Hinweise auf interessante Internetseiten und beantworte Briefe, soweit es meine Zeit erlaubt.