Nach über einer Stunde kehrte die Hohepriesterin zurück, und bedeutete mir stumm, ihr zu folgen. Sie gab mit keiner Geste, mit keinem Wort zu verstehen, was sie dachte, brachte mich nur stumm zurück in die Höhle, wo sie mich vorher hingebracht hatte und schloß mich dort ein.
Sie kehrte lange nicht zurück. Wasser tropfte genug von den Wänden, doch zu essen gab es nichts. Ich verlor das Zeitgefühl - doch es währte lange genug, daß der Hunger zuerst sehr quälend wuerde und dann nach einer wie endlos erscheinenden Zeit völlig verschwand. Irgendwann kam ich auf die Idee, daß sie mich hierhergebracht hatten, um mich verhungern zu lassen, wie so viele Menschen in unserem Dorf in den letzten Jahren verhungert waren. Ich hatte nicht wirklich Angst davor - doch jedesmal wenn ich darüber nachdachte, war ich mir sicherer, daß es stimmt. Ich war eingesperrt. Ich konnte nicht fliehen.
Schließlich kam die Hohepriesterin wieder und führte mich
schweigend aus der Höhle. Der erste, der mich sah, war wieder Gaivin.
Und wieder ließ sie mich mit meinem Geliebten allein.
"Heute ist der Tag meines Opfers. Ich habe gesagt, daß ich noch
einmal mit dir reden will. Weißt du, ich will, daß du mich
verstehst." sagte er zu mir.
Mir schossen die Tränen in die Augen:
"Ach Gaivin, ich habe dir doch schon einmal gesagt, daß ich dich
verstehe. Und daß ich dich genauso liebe wie vorher. Aber davon,
daß ich dich verstehe, wird deine Entscheidung nicht richtig. Es ist
zerstörerisch, Menschen zu opfern, um das Wetter zu ändern. Es
ist einfach falsch. Selbst dann, wenn es tausende an Menschenleben retten
kann." sagte ich eindringlich und fragte mich gleichzeitig, warum ich
noch einmal versuchte, ihn zu überzeugen. Er hatte mir schon einmal
gesagt, daß er mich nicht verstand, nicht verstehen konnte. War es
mir wirklich so wichtig, daß er mich verstand? Ja. Das war es. Aber
ich brauchte es eigentlich gar nicht zu versuchen - sein Verständnis,
was ich mir so sehr wünschte, würde ich nicht bekommen. Ich hatte
Erinnerungen an längst vergangene Leben, in denen
ich wer weiß wie viele Menschen geopfert hatte, weil ich solche
Hungersnöte verhindern wollte. Ja. Und ich hatte gesehen, was dabei
herauskam und deshalb würde ich nie wieder so etwas tun. Nie wieder.
Er hatte solche Erinnerungen nicht und deshalb konnte er mich nicht
verstehen. Man kann Menschen nicht daran hindern, ihre eigenen Fehler
selber zu machen. Leider. Ich umarmte ihn und sagte ihm, daß ich ihn
immer lieben werde, ganz gleich, was er tut. Und ich weinte in seinen Armen.
Wir schliefen in dieser letzten Nacht miteinander. Um der Liebe Willen - und vielleicht würde ich dann ja wenigstens ein Kind von ihm bekommen. Ich hatte meine fruchtbaren Tage.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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