Aber die Zeichen waren eindeutig und es gab nicht wirklich eine
Möglichkeit die junge Priesterin vor den Folgen ihrer eigenen
Entscheidungen zu bewahren,
"... und wenn es die gäbe, würde das Kind es mir nie verzeihen.
Ich sollte von ihr nicht als Kind denken. Sie hat längst bewiesen,
daß sie viel erwachsener ist, als all die anderen Frauen und
Männer hier. - Und wahrscheinlich wird sie, was ich ihr zu sagen
habe, genauso als Hohn betrachten, wie ich es damals für Hohn
hielt."
Die Priesterin stand auf:
"Jera, ich bitte dich, tritt an unseren Tisch."
Als ich die Hohepriesterin rufen hörte stand ich auf und ging
hinüber zur Festtafel. Wieder bot die Priesterin mir Essen und Trinken
an, wieder lehnte ich ab. Damit teilte ich der versammelten Gemeinschaft
mit, daß ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Wieder
stellte die Hohepriesterin die Frage, ob sie auf mein Schweigen vertrauen
könnte und sagte dann laut, daß sie meinem "ja" vertraute.
"Liebe Freunde, ich habe euch etwas zu verkünden, worauf wir alle
schon lange warten. Jera hat die Prüfung bestanden. Sie ist jetzt
eine Hochgeweihte. Erweist ihr die Ehre."
Ich starrte sie verwirrt an. So lange hatte ich mir nichts sehnlicher
gewünscht als diese Einweihung. Und jetzt, wo ich nichts mehr mit
ihnen zu tun haben wollte, jetzt bekam ich sie. Die anderen bildeten
schweigend ein Spalier, durch das mich die Hohepriesterin
hinausführte, hinunter in die Einweihungshöhle. Ich mußte
einfach wissen, wie die Hohepriesterin auf den Gedanken kam. Es war so
widersinnig. Kaum waren wir außer Hörweite fragte ich:
"Was war die Prüfung?"
"Du hast dich für dein Gewissen gegen die gesamte Gemeinschaft
gestellt, ohne etwas für dich persönlich zu fordern. Das war die
Prüfung, die das Leben dir stellte. Die letzte Prüfung stellen
nicht wir Menschen."
"Und was soll ich jetzt mit der Einweihung?" fragte ich mehr verwirrt als
vorwurfsvoll - und Tränen brannten in meinen Augen.
Die Alte lächelte:
"Das habe ich mich damals auch gefragt. Ich kann es dir nicht sagen.
Das Leben wird es zeigen."
Ich spürte ihr Mitgefühl und ihre Liebe, doch das bot mir keinen
Trost. Zum Abschluß nannte sie mir die Losungsworte der
Hochgeweihten, sagte aber, daß ich sie eigentlich nicht brauchte.
"Nicht jeder Hochgeweihte bleibt, bis man ihm die Losungsworte mitteilt.
Und manche Hochgeweihte erwerben ihr Wissen selbst, ohne formale
Ausbildung. Und es mag auch sein, daß Kirchenvertreter die Worte aus
jemandem herausgefoltert haben. Vertraue deinem eigenen Urteil. Die alten
Formen tragen nicht mehr."
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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