erste Version zwischen 07.06.2000 und 26.02.2001
letzte Überarbeitung: 9/06

V166.

Außenseiter: Ist das Opfer selber schuld?

Beispielgeschichte, Kersti:

Dann einigten sich Klasse und Lehrer, ich sei schuld, daß sie mich ärgerten und gaben mir die üblichen Ratschläge

Einmal wollte ein Lehrer mir helfen. Groß kündigte er an, daß er dafür eine Stunde opfern wolle und empfand das als eine großartige Leistung.

Ich war gar nicht begeistert von dem Gedanken, daß eine ganze Stunde lang in einer Angelegenheit herumgerührt werden sollte, die mir SO wehtat. Ganz abgesehen davon, daß ich bei der Herangehensweise die Erfolgschancen ziemlich genau auf null schätzte. Aber - es war immerhin nicht vollständig (hundertprozentig schon aber) auszuschließen, daß vielleicht doch ein Wunder geschehen könnte, und daß doch etwas geschieht, das etwas bringt. Also ließ ich mich darauf ein.

Der Lehrer fragte die anderen, warum sie mich ärgerten.
Sie antworteten, daß ich blöd und seltsam sei und daß das Ärgern eigentlich doch nur Spaß sei.
Ich fand diese Begründung unmöglich. Seit wann gibt "Spaß" einem das Recht, andere zugrundezurichten? Ganz abgesehen davon, daß ich nicht die geringste Vorstellung hatte, was sie eigentlich mit "blöd", "komisch" oder "seltsam" meinten. Also bat ich sie, mir an einem Beispiel zu erklären, was sie meinten. (Tatsächlich sind sie wohl schlicht nicht auf den Gedanken, daß sie mich mit ihrem Geärgere vor ernsthafte Probleme stellten! Und dem Lehrer scheint dieses Mißverständnis wohl auch nicht aufgefallen zu sein.)

Zuerst erzählten sie eine Begebenheit vom Vortag:
Ich war wieder einmal dabei, auszuprobieren, ob es nicht möglicherweise doch funktioniert, wenn man die Versuche, einen zu Ärgern, einfach ignoriert. Das Ergebnis war eigentlich wie immer - zuerst warfen sie mir Schimpfworte an den Kopf, danach Kreidestückchen, als das keine Reaktion brachte, größere Wurfgeschosse und schließlich zupften sie an mir herum und als das nicht die ersehnte Reaktion erbrachte, stießen sie mich herum und dann ... dauerte es nicht lange - wegen der ständigen Ärgerreien hatte ich eh nicht gerade die besten Nerven - bis ich in Tränen ausbrach.

Ich fragte mich kopfschüttelnd, was daran "komisch" sein sollte, wenn ein Mensch aus Erschöpfung und Verzweiflung - sie ließen mir doch den ganzen Vormittag keine fünf Minuten Ruhe - in Tränen ausbricht. Aber sie kamen offensichtlich gar nicht auf den Gedanken, daß sie mich mit ihrem Verhalten an den Rand meiner Kräfte brachten.

Auf meine Bitte hin erzählten sie ein zweites Beispiel. Diesmal hatte ich überhaupt keine Vorstellung, was ich falsch gemacht hatte. Absolut nicht. Egal wieviel ich hin und herüberlegte. Da ich mein Verhalten angemessen fand, fragte ich, was ich falsch gemacht hätte.
"Aber das weißt du doch!" behauptete eine Mitschülerin.
"Nein, das weiß ich nicht!" widersprach ich.
"Doch das weißt du!"
"Nein, das weiß ich nicht!"
So ging es hin und her. Auch der Lehrer erklärte mir, daß ich das wüßte. Ich kam mir vor, wie im falschen Film. Ich konnte mir durchaus vorstellen, daß sie sich absolut nicht vorstellen konnten, daß ich nicht wußte, was sie da an mir auszusetzen hatten. Umgekehrt konnte ich schließlich auch einiges am Verhalten und Denken meiner Mitschüler nicht nachvollziehen, weil ich nach ganz anderen Grundsätzen handelte. Nur ist es ja wirklich meine große Mühe, eine Frage zu beantworten, sozusagen als Experiment. Es könnte ja etwas ändern.

Dann einigten sich Klasse und Lehrer, ich sei schuld, daß sie mich ärgerten und gaben mir die üblichen Ratschläge. Der Lehrer meinte, ich müsse dankbar sein.

Ich fragte mich wofür. Da ich Lehrer grundsätzlich für unfähig hielt, soziale Probleme zu lösen, hätte ich ihn bestimmt nicht um Hilfe gebeten. Und die Lehrer, die ich kennenlernte, waren darin unfähig. Keiner ist über ein "sich hilflos fühlen" angesichts meiner Situation hinausgekommen.

Dieser spezielle Lehrer hat - sicherlich gut gemeint - etwas getan, was schlimmer ist als gar nichts. Er hat mir auch noch die Alleinschuld dafür zugewiesen, daß ich eine Situation nicht ändern konnte - in der ich nicht einmal, wenn ich die Leute schüttelte, erfahren konnte, was ich denn eigentlich so schrecklich falsch machte, um in ihren Augen diese Strafe zu verdienen.

Kersti:

O2. Kersti: Toleranz als Fähigkeit
O3. Kersti: Ist in der Schule das Denken verboten?
O4. Kersti: Unterbindet Ausgrenzung in der Schule soziales Lernen?
V13. Kersti: Ich würde mir nie die Mühe machen, etwas zu kritisieren, was ich schlecht finde
V17. Kersti: Brief über angemessenen Umgang mit Verleumdungen
V38. Kersti: Ausgeschlossen!
V39. Kersti: Wie wird man zum Außenseiter?
V92. Kersti: ...als hätte ihnen jemand das Denken verboten!
V114. Kersti: Ich bin zu stolz, um gegen mein Gewissen zu handeln
V167. Kersti: 17-jährige Gruppenführer verhindern Ausgrenzung wirksamer als Lehrer
V168. Kersti: Meckerrunde
V171. Kersti: Außenseiter: Es tut in der Seele weh, das zu beobachten
V172. Kersti: Ein echt guter Rat
V174. Kersti: Warum ich schreibe, wie es war, ausgegrenzt zu sein
V223. Kersti: Option - was mir einmal sehr geholfen hat
V228. Kersti: Für was ist ein Mensch verantwortlich?
V248. Kersti: Spielverderber - oder - Wer sind die Guten?
V257. Kersti: Leben in zwei getrennten Welten
V277. Kersti: Das Prinzip der Narrenfreiheit
V301. Kersti: Um Außenseiter zu integrieren, muß man die Gemeinschaft ändern, die ausgrenzt
V302. Kersti: Strafe dafür, daß man etwas schon vor den anderen kann
V308. Kersti: Aussenseiterkarrieren - wie sie entstehen, was sie verhindern kann
V309. Kersti: Gibt es Aussenseitereigenschaften?
VA1. Kersti: Sekteneigenschaften als Folge von Ausgrenzung
VA2. Kersti: Hoffnungslosigkeit und doch nicht aufgeben
VA48. Kersti: Direkte Zensur - indirekte Zensur - Gedankenzensur
VA86. Kersti: Können Raucher und Nichtraucher immer aufeinander zugehen?
VA103. Kersti: Sektenhetze
VA163. Kersti: Die Wirkung indirekter Kritik
VA166. Kersti: Eine Schule für Indigokinder?
VA189. Kersti: Schule: Auslese oder Berufsfindungshilfe
VA232. Kersti: Wie entstanden die Verschwörungstheorien - und inwiefern sind sie realtistisch?
VA255. Kersti: Das Geschlossene-Anstalt-Phänomen
VA256. Kersti: Werden Indigokinder irrtümlicherweise auf ADHS behandelt?
VA263. Kersti: Haben Kinder mit ADHS eine unrealistische Selbsteinschätzung?
VA274. Kersti: Sprachverwirrung durch ADHS-Wahrnehmung oder Langweilige Routineaufgaben sind nicht langweilig
VB4. Kersti: Warum ich so viele persönliche Erfahrungen beschreibe

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von Lesern immer bekomme.