erste Version: 6/2009
letzte Bearbeitung: 7/2018

VB73.

Wenn Du glaubst, ohne jemanden nicht leben zu können, fühlst Du nicht Liebe sondern Angst

Inhalt

VB73.1 Kersti: Die Todesangst, die entsteht, weil man sehr schlechte Eltern hat, macht Kinder anhänglich
VB73.1.b1 Kersti: Schimpansenmütter und Schimpansenkinder
VB73.2 Kersti: Die Verwechslung von Verantwortung und Schuld
VB73.3 Kersti: Das Kribbeln im Bauch, wenn man verliebt ist, ist Angst
VB73.3.b1 Kersti: Er hat mich geängstigt und jetzt will ich ihn heiraten
VB73. Kersti: Quellen

 
Inhalt

1. Die Todesangst, die entsteht, weil man sehr schlechte Eltern hat, macht Kinder anhänglich

Wenn man unsere nächsten Verwandten unter den Tieren beobachtet, entdeckt man oft Verhaltensweisen, die es auch beim Menschen gibt, jedoch ohne den kulturellen Überbau. Und das ein oder andere, das vorher rätselhaft war, wird plötzlich klar. Ein solches Erlebnis bescherten mir Autor: Jane Goodalls Bücher.

Zusammenfassung von Informationen aus den Büchern von Jane Goodall

Schimpansenmütter und Schimpansenkinder

Flo war eine Schimpansenmutter die gerne mit ihren Kindern spielte, fürsorglich mit ihnen umging, die zärtlich und tolerant zu ihren Kindern war. Das erste Kind, das Jane Goodall bei ihr erlebte war ein kleines Schimpansenmädchen. Wenn Flo weiterziehen wollte und achtete sie stets sorgfältig darauf, daß ihr Kind nicht so in ein Spiel vertieft war, daß es die Mutter aus den Augen verlor. Das Schimpansenmädchen machte sich deshalb auch keine Sorgen, daß die Mutter vielleicht verloren gehen könnte. Es entfernte sich verhältnismäßig weit von seiner Mutter und schaute fast nie nach, ob sie noch da war. Sie wuchs zu einer selbstbewußten Schimpansenfrau heran, die selbstbewußt mit anderen Schimpansen umging und Spaß an der Sexualität mit den oft jähzornigen Schimpansenmännchen hatte. Flo und ihre erwachsenen Kinder hielten eng zusammen und kamen sich gegenseitig auch in gefährlichen Situationen zuhilfe.

Olly war eine Schimpansenfrau, das dem eigenen Kind oft das Essen wegnahm. Wenn Olly einen Platz verließ achtete sie nie darauf, daß ihr Kind ihr auch folgte. Ihr Schimpansenkind hielt sich immer in der Nähe seiner Mutter, wenn es sie einmal kurz aus den Augen verlor, hatte es richtig Angst - denn einmal hatte es tagelang seine Mutter suchen müssen, ehe es sie endlich wiederfand.

Nicht gelungen ist die Erziehung von Flos nächstem Kind, einem Schimpansenjungen. Flo war schon sehr alt und sie machte einen Fehler, den auch menschliche Mütter mit ihrem letzten Kind oft machen. Sie verwöhnte den Jungen. Als er alt genug dazu war und sie ihre Kraft für sich selber gebraucht hätte, machte sie zwar zaghafte Versuche, ihn zu entwöhnen, hielt diese aber nicht durch. Der Schimpansenjunge entwickelte sich zu einem kleinen Tyrannen, der seine altersschwache Mutter schlug, wenn sie nicht tat, was er wollte.

Schimpansen werden nach 3,5 bis 4,5 Jahren von der Muttermilch entwöhnt. Die Geschlechtsreife tritt mit sieben Jahren ein, mit 13-14 Jahren erfolgt die erste Fortpflanzung. Selbst dreijährige Schimpansenkinder überleben es gewöhnlich nicht, wenn die Mutter stirbt. Es kommt zwar oft vor, daß ältere Geschwister sich um sie kümmern, doch die verwaisten Kinder verlieren ihren Appetit, magern ab und überleben den schweren Verlust oft nicht.1.; 2.

Es ist eine bekannte Tatsache in der menschlichen Psychologie, daß Kinder sich um so mehr an ihre Eltern klammern, je schlechter sie behandelt werden. In unserer Zeit in Deutschland, wo es so ist, daß es Kindern in Heimen zumindest besser ergeht als Kindern bei Eltern, die sie fast zu Tode prügeln oder sie verhungern lassen würden, ist das unverständlich. Wenn man sich aber bewußt bleibt, daß in dem meisten Kulturen Kinder die vor dem zehnten Lebensjahr ihre Eltern verloren, kaum Chancen hatten je in eine Lebenssituation zu kommen, in der sie erfolgreich eigene Kinder aufziehen konnten, selbst wenn es Kinderheime gab und daß immer deutlich mehr der Waisen gestorben sind als in richtigen Familien, so wird klar, warum menschliche Kinder heute noch so reagieren wie Ollys Schimpansenkind, wenn Eltern Rabeneltern sind: Sie haben keine Alternative. Der Antrieb für dieses bedingungslose die Eltern respektieren, alles was sie als Liebe bezeichnen selber Liebe nennen und die fraglose Unterwerfung der Kinder unter die Macht und Gewalt der Eltern, ist nicht Liebe sondern Todesangst. Bei mißhandelten und vernachlässigten Menschenkindern ebenso wie bei Schimpansenkindern.

Kinder die so aufwachsen, lernen in ihrer Kindheit, daß man Angst Liebe nennt. Und daß das falsch ist, können sie nicht wissen, denn Liebe ohne Angst haben sie nie kennengelernt.

 
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2. Die Verwechslung von Verantwortung und Schuld

In der Arbeit mit mißbrauchten Kindern taucht die "Ich bin böse"-Verdrängung als Locus-of-Control-Shift auf. Hier glaubt das Kind oft, es wäre verdorben und am Mißbrauch Schuld3., 4. S.289ff. Dies ist einerseits eine Verwechslung von Verantwortung und Schuld: Wenn Eltern gute Eltern sind, übernimmt die Mutter die Verantwortung dafür, daß das Kind nicht verloren geht. Sind Eltern schlechte Eltern, übernimmt das Kind die Verantwortung dafür, daß es die Eltern nicht verliert.

Andererseits ist es aber auch ein Zeichen von Unreife. Die Differenzierung zwischen den nicht gleichbedeutenden Begriffen Verantwortung und Schuld etwas, das kleine Kinder gewöhnlich noch nicht gelernt haben, da sie ja in Moralstufe 1 böse sein mit bestraft werden gleichsetzen, also noch nicht begriffen haben, was Moral eigentlich ist.5. S.26f, S.51ff, S.364ff
VB136.1.1.1 Kersti: Stufe 1: Orientierung an Lob und Strafe (fraglose Unterwerfung unter Macht)
Um den Unterschied zwischen Verantwortung und Schuld deutlich zu machen:

Ein Erwachsener sollte immer die Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen, weil er am genauesten weiß, was er braucht, um das Leben als gelungen zu betrachten und daher am ehesten in der Lage ist, sich sinnvolle Ziele zu setzen und zu planen, was zu ihrer Umsetzung nötig ist. Wenn er das tut, heißt das aber nicht, daß er immer schuld ist, wenn sein Leben schief geht, denn es ist ja nicht gesagt, daß er überhaupt die Mittel an der Hand hatte, die er für ein gelungenes Leben brauchen würde und Kriege und Naturkatastrophen, die jede Planung zunichte machen können, hat er erst recht nicht in der Hand. Trotz dieser unkalkulierbaren Faktoren ist der einzelene Erwachsene auch in solchen Situationen, wo er sein Leben nicht in der Gewalt hat, immer noch derjenige, der für dessen Leben die Hauptverantwortung übernehmen sollte, sonst kann man ihm nicht einmal wirksam helfen.
Kinder auf der Moralstufe drei übernehmen das Weltbild einer geliebten Autorität vollständig, ohne es im Einzelnen darauf überprüfen zu können, ob es richtig ist.
VB136.1.1.2 Kersti: Niveau 2 - Moral der konventionellen Rollenkonformität
Wenn ihm dann die Schuld dafür zugewiesen wird, daß das Leben der Eltern schief gegangen ist, dann hat ein kleines Kind nicht das Handwerkszeug, sich zu wehren.
VA37.1 Kersti: Beispielgeschichte 2: "Ich bin Schuld, daß das Leben meiner Eltern schief ging!"
Im allgemeinen wird ein Kind in unserer Gesellschaft erst als Jugendlicher fähig, ein Weltbild Punkt für Punkt zu überprüfen und moralische Regeln infrage zu stellen, weil sie höheren moralischen Prinzipien widersprechen5. S.58.
VB136.1.2.3 Kersti: Niveau 3: Das Erschaffen neuer Weltbilder
VB136.1.1.3 Kersti: Niveau 3 - Moral der selbst akzeptierten moralischen Prinzipien
Jüngere Kinder können zwar - hauptsächlich im Rahmen der Antiautoritären Erziehung - das Handwerkszeug beherrschen, das man verwendet, um sich ein eigenes Weltbild zu zimmern, brauchen aber die Geborgenheit, die eine Harmonie mit dem elterlichen Weltbild vermittelt und werden daher das Weltbild der Eltern nur in Randbereichen oder bezogen auf einzelne Situationen infrage stellen, die die Beziehung mit den Eltern nicht gefährden. Ein kleines Kind kann damit umgehen, wenn es mehr über Bisamratten weiß als seine Eltern und deshalb deren Ansichten dazu infrage stellt, aber nicht wenn sich materialistisch ausgerichtete Eltern Sorgen machen, das Kind könnte verrückt werden, weil es plötzlich spirituelle Ansichten entwickelt. Ein Jugendlicher ist dagegen durchaus bereit, so zu tun als hätte er von den Eltern abweichende moralische Grundsätze, nur um auszuprobieren wie sie darauf reagieren.

3. Das Kribbeln im Bauch, wenn man verliebt ist, ist Angst

So manche Sachen die man in Büchern lesen kann, verwunderten mich. So gab es beispielsweise ein Buch, das hieß "Wenn Frauen zu sehr lieben: Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden" - und ich fragte mich verwirrt, wie man zu viel von lieben kann und was das bloß mit gebraucht werden zu tun haben soll. Das ist doch keine Liebe, von was die da reden, dachte ich.

In anderen Büchern las ich oft über ein Kribbeln im Bauch und ich rätselte, was das denn sein könne. Wenn ich mich verliebt hatte, dann gab es da diverse schöne Gefühle aber definitiv kein Kribbeln im Bauch.

Irgendwann sagte eine Bekannte: "Das Kribbeln im Bauch ist Angst." - und nachdem ich darüber eine Weile mit ihr geredet hatte wurde mir so einiges klar.

Angst fühlt man tatsächlich im Bauch. Klar - wenn jemand Liebe nie ohne Angst erlebt hat, hält er diese Angst für Liebe oder für einen Teil der Liebe. Und wenn er dann das Kribbeln der Angst im Bauch spürt, glaubt er er ist verliebt - denn in der Kindheit hat er ja gelernt, daß dieses Angstkribbeln zu den geliebten Eltern gehört. Also muß das Kribbeln doch ein Zeichen für Liebe sein? - Und so lange man dieses Kribbeln allen Ernstes für Liebe hält, verliebt man sich natürlich nur in Partner, vor denen man sich fürchtet. Wenn man sich nicht fürchtet, fehlt ja das Kribbeln und dann kann es doch keine Liebe sein, oder?

Das erklärte mir eine Beobachtung:

Beispielgeschichte, Kersti:

Er hat mich geängstigt und jetzt will ich ihn heiraten

Ich telefonierte mit einer Frau, die als Kind mißbraucht worden war. Ein Mann hatte sie zutiefst geängstigt. Während sie vorher nicht verliebt war, meinte sie jetzt plötzlich, sie würde ihn aber doch mögen und wolle ihn heiraten, damit er aufhört sie unter Druck zu setzen. Ich erklärte ihr, daß das doch dumm ist: Wenn man von einem Menschen bedroht wird, dann zieht man nicht zu ihm hin, sondern nimmt so viel Abstand, daß man sich sicher fühlen kann. Ich hatte nicht das Gefühl, daß sie meine Argumentation besonders überzeugend fand.
Tja ... und jetzt weiß ich, warum sich Kinder von Alkoholikern so oft in Alkoholiker verlieben. Wenn sie das Kribbeln im Bauch für Liebe halten, dann ist das ja kein Wunder!

Kersti

 
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Quellen

  1. Autor: Jane Goodall, Autor: Phillip Berman (Aus dem Englischen von Erika Ifang): Buch: B141.6.1 Grund zur Hoffnung. Autobiographie. (2001) München: Wilhelm Goldmann Verlag. ISBN 3-442-15139-2
  2. Autor: Jane VanLawick-Goodall: Buch: B141.6.2 Wilde Schimpansen. (1982) Hamburg: Rowohlt ISBN: 3498024124
  3. Autor: Mathias Hirsch: Inzest und Psychoanalyse. S.105-127 In: Autor: Gabriele Ramin: Buch: B149.5 Inzest und sexueller Mißbrauch. Beratung und Therapie. Ein Handbuch. (1993) Paderborn: Jungfermann Verlag. ISBN 3-87387-082-7
  4. Autor: Colin A. Ross: Buch: B126.2.2.2 The Trauma Model. A solution to the Problem of Comorbidity in Psychiatry Richardson in Texas, USA: Manitou Communications, Inc, ISBN 0-9704525-0-0
  5. Autor: Lawrence Kohlberg (Herausgegeben von Wolfgang Althof, Gil Noam und Fritz Oser): Buch: B125.2 Die Psychologie der Moralentwicklung. (1996) Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. ISBN 3-518-28832-6

Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal im Voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von Lesern immer bekomme.
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