Bäume. Sie sind einst aus Samen gesprossen, die oft klein und unscheinbar waren. Sie sind Jahr um Jahr im ständigen Wechsel der Jahreszeiten in die Höhe gewachsen. Ihre Stämme nahmen Jahresring um Jahresring an Umfang zu, ehe sie schließlich ihre heutige stattliche Größe erreichten. Ich könnte von ihrer Schönheit schreiben, der Vielfalt an Blattformen, von den Farben des Laubes im Herbst oder vom Wuchs ihrer Stämme und Äste. Doch ich werde hier von einem anderen Grund, den Wald zu lieben, erzählen. Ein Grund, den viele Menschen ins Reich der Märchen verweisen und für eine Lüge halten.
Ich gehe gerne nachts in den Wald, am liebsten alleine. Ich schließe die Haustür hinter mir, als wäre es die Tür zu einer anderen Welt, laufe barfuß, um den von altem Laub bedeckten Waldboden unter meinen Füßen spüren zu können, halte mich im Schatten der Büsche und Bäume, an denen ich auf dem Weg zum Wald vorbeikomme, schleiche, so daß die Menschen, die ich sehe, mich nicht bemerken. Wie ein scheues, wildes Tier, das Angst vor den unnatürlichen Lichtern der Menschenwelt hat.
Schließlich komme ich unter dem schützenden Blätterdach des Waldes an, richte mich auf, lausche mit geschlossenen Augen auf das liebevolle Flüstern der Bäume. Nein, es ist natürlich nicht das Geräusch, das so liebevoll klingt, das kommt vom Wind. Und doch - sobald ich den Raum unter der Krone eines Baumes betreten habe, ist es da, das Gefühl von einer wohlwollenden Macht behütet und geliebt zu sein. Es ist nicht menschlich - irgendwie kühler, sachte und mächtig, alt und von einer zeitlosen Gelassenheit. Verzaubert trete ich auf einen der Bäume zu, lege meine Hand an den Stamm und öffne mich, um ihn zu verstehen. Bäume sind anders.
Von allen Tieren und Pflanzen, die ich kenne, kann nur ein Baum den Menschen an persönlicher Macht übertreffen. - Ich meine nicht äußere formale Macht, sondern jene Kraft, die der Seele innewohnt, die andere beeinflussen kann, ohne dafür Hilfsmittel zu benötigen. Weder Körperkraft, noch Sprache, nicht Geld oder Waffen, keine Schönheit und auch kein Wissen. Ich kann die Macht des Baumes spüren, indem ich meine Hand an den Stamm lege. Wenn ich ihn darum bitte, läßt er vielleicht etwas von seiner Kraft in meinen Körper fließen, so daß Müdigkeit wie weggeblasen ist. Oder er erzählt mir von dem, was sein Leben ausmacht, läßt mich vielleicht nachfühlen, wie es ist, ein Baum zu sein oder eine Knospe, die sich im Frühjahr zu einem Blatt entfaltet.
Bäume sind anders. Jahre, Jahrhunderte wachsen sie, unbeweglich, ruhig. Jeder Wechsel geschieht allmählich, Frühling folgt auf Winter, Sommer auf Frühling, dann wird es Herbst, Winter und wieder Frühling. Alles scheint sich zu wiederholen, Nacht folgt auf Tag und Tag auf Nacht. Alles wandelt sich, bewegt sich, Tiere wandern dahin. Nur der Baum bleibt, während er größer und immer größer wird. Bäume strahlen eine heitere Ruhe, einen Frieden aus, wie Menschen ihn nicht kennen.
Ich öffne die Augen, lasse das Spiel des silberhellen Mondlichtes auf mich wirken, das durch die sich bewegenden Blätter zum Boden dringt und dort filigrane Muster zeichnet. Silberhell und tiefdunkel. Mit lautlosen Schritten bewege ich mich zwischen den Bäumen, hebe die Hände hoch zum Licht. Ein ruhiger verzauberter Tanz. Ein Lied, hell, klar, höher als ich sonst singen kann und tief, dunkel, daß mein ganzer Körper mitschwingt. Eine Sprache, fremd und doch vertraut, denn ich habe sie immer schon gesungen. Lange tanze, singe, spreche ich, eine vollkommene, friedvolle Einheit von Bewegung, Wort, Melodie und dem Wald mit seinen Pflanzen und Tieren, deren ruhige Schritte ich ganz in der Nähe höre. Sie fliehen nicht, halten sich aber im Schatten verborgen. Lange singe ich, werde innerlich ruhig und friedlich. Dann irgendwann atme ich tief aus. Das Lied hat sein Ende. Im Vorbeigehen lege ich die Hand grüßend an den einen oder anderen Stamm, verlasse mit leisen Schritten das schützende Blätterdach. Draußen im Freiem drehe ich mich um, hebe die Hände zu einer Geste, die Gruß und Segen ist, denn sie läßt einen kleinen Teil meiner Kraft und Gefühle auf den Wald übergehen.
Ich gehe barfuß, schleiche wie ein scheues, wildes Tier, halte mich im Schatten der Büsche und Bäume, so daß die Menschen, an denen ich vorbeikomme mich nicht bemerken, bis ich schließlich durch die Haustür trete und so endgültig in die Welt der Menschen zurückkehre.
In meinem Zimmer angekommen, denke ich voll Liebe an den Wald. Einmal habe ich ihm versprochen, alles in meiner Macht stehende zu tun, um ihn zu schützen und zu bewahren.
Doch was ist das schon?
Ich fahre mit Bus und Straßenbahn zur Arbeit, kaufe mit dem Fahrrad ein. Ich achte darauf, jedes Blatt Papier von beiden Seiten zu beschreiben, lasse mir beim Bäcker mein Stück Kuchen ohne Verpackung geben. Ich sage, warum ich das so mache, versuche andere dazu zu bringen, daß sie ein wenig mehr für den Umweltschutz tun.
Aber was ist das schon? ... Kleinigkeiten.
Ich bin nur eine von den vielen Millionen Menschen dieser Erde, die nicht alle tun, was in ihrer Macht steht.
Der Wald stirbt.
Es tut weh zu sehen, wie auf den Bergkuppen der Wald immer mehr verschwindet.
Es tut weh, zu sehen, wie Bäume, die frei stehen, genug Licht und Platz haben, Bäume, die noch nicht über die besten Jahre hinaus sind, dennoch sterben, weil Luft Wasser und Boden langsam vergiftet werden.
Es tut weh, zu spüren, wenn ich die Hand an ihren Stamm lege, daß viele Bäume mehr Kraft, Frieden und Trost brauchen, als ich ihnen geben kann.
Es tut weh zu sehen, daß schon ganz junge Bäume, Fichten, die noch nicht einmal bis zu meinem Knie reichen, so krank sind, daß sie Angsttriebe entwickeln.
Der Wald stirbt.
"Uralte Macht", bete ich zu Gott, jener Macht, die Jesus Vater nannte, "Bitte mach, daß der Wald nicht ganz vernichtet wird."
"Ganz gleich, was auch geschieht", kommt eine Antwort in meinen Sinn, Worte die nicht von mir stammen, sondern von einer über alle Begriffe hinaus alten Macht, "Einmal wird es wieder grenzenlose Wälder geben."
Ich aber bete, daß unter dem Blätterdach dieser Wälder Menschen leben, viele Menschen, daß nicht erst unsere Kultur zerstört werden muß, ehe auf dieser Welt wieder Wälder existieren können.
Es ist noch nicht zu spät, dazuzulernen.
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