vor 26.2.01
Vielleicht sollte ich zuerst erklären, was Götter sind. Sie unterscheiden sich kaum von uns Menschen. Ihre Haut ist hell, ihr Haar glatt und blond, sie sind hochgewachsen und es gibt viele Mischlingskinder. Sie halten sich für intelligenter als Menschen, was ich nicht glaube. Meine Mutter gehörte der niedrigsten Menschenrasse an, klein, dunkel, ohne jeden Einschlag göttlichen Blutes. Dennoch war sie die gebildetste Frau, die ich kenne. Außerdem halten sich die Götter viel auf ihre Fähigkeiten im Gedankenlesen zugute. Man nennt das die Gaben der Götter und die meisten Menschen sind dessen nicht fähig. Ich besitze die Gaben der Götter. Ich kann mich verständlich machen, obwohl ich stumm bin. Die Tochter der Köchin, ein Menschenkind niedriger Rasse, lernte Gedanken lesen, um mich verstehen zu können. Die Götter haben uns Menschen durch Gentechnik künstlich erschaffen.
An jenem Tage hatte ich einige Bücher durchgesehen, die von der
Universitätsbibliothek neu bestellt worden waren. Das wichtigste las
ich sofort durch und nahm es dann mit zu meinem Herrn, da der sich
sicherlich auch dafür interessieren würde. Als ich ins
Arbeitszimmer kam, spürte ich, daß etwas nicht stimmte. Kaver ein
anderer Gott stand neben ihm.
*Torion, du hast Sorgen?* dachte ich ihm zu.
Mein Herr sah mich an.
*Heute ist meine medizinische Untersuchung.* antwortete er und war zutiefst
beunruhigt.
Ich wunderte mich. Normalerweise haben nur Menschen Grund zur Angst vor
Untersuchungen. Man kann nie wissen, ob die Götter eine Operation
planen. Beispielsweise könnten sie die Nerven durchtrennen, die zum
Sprechen nötig sind.
*Medizinische Untersuchungen finden regelmäßig jedes halbe Jahr
statt.* stellte ich fest.
*Man könnte wegen gestern einen genetischen Mangel entdecken.*
erklärte Torion.
Er hatte sich am Vortag mit dem Leiter der Universität angelegt, um
einen Menschenversuch zu verhindern. Ich fragte mich, ob Torion eine
Erbkrankheit hatte, die bisher vertuscht worden war, oder ob er
fürchtete, daß das Ärzteteam eine erfinden würde. Ich
hielt beides für denkbar. Die Ärzte waren wie Torion auch
Professoren der Universität, in der wir lebten. Ich hätte nicht
gedacht, daß sie so weit gehen würden, einen der ihren aus
Willkür zum Menschen zu degradieren. Wenn sie das taten, gab es
allerdings keine Möglichkeit, dagegen anzugehen. Es gibt keinen
schlimmeren Platz für Menschen als die Universität. Torion
verbarg seine Angst hinter Stolz.
*Karion, gleich kommen einige Studenten, denen ich versprochen habe,
daß ich ihnen Bücher fürs Studium raussuchen würde.
Kannst du dich darum kümmern?* wechselte er das Thema.
Ich nickte. Dann verließ er mit dem anderen Gott den Raum.
Ich blieb zurück und hatte Angst. Ich war überzeugt, daß die Götter mich zu Tode foltern würden. Selbstverständlich im Dienste der Wissenschaft. Ich machte Torion keine Vorwürfe. An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt. Unter den Professoren war Torion der einzige, mit dem ich auskommen konnte. Die Ausgänge der Universität sind so scharf bewacht, daß ein Entkommen nahezu unmöglich ist. Zumal es in diesem Land keine freien Menschen gab und ich nicht das Wissen hatte, um in der Wildnis allein zu überleben. Eine hoffnungslose Situation.
Es klopfte. Ich öffnete. Eine Studentin stand vor der Tür. Ich
kannte sie als eine der Anständigen.
"Kannst du mir zeigen, wo dein Herr ist?" fragte sie.
*Er hat mich gebeten, für dich die Bücher herauszusuchen, da er
nicht dazu gekommen ist. Laß uns in die Bibliothek gehen. Was
brauchst du?*
Die Studentin sah mich überrascht an. Sie hatte wohl nicht
gewußt, daß ich die Gaben der Götter habe. Torion
hält das nicht geheim. Aber Götter legen, was dieses Thema angeht,
bei Menschen oft eine bemerkenswerte Blindheit an den Tag. Meine Stummheit
dagegen war allgemein bekannt.
*Woran erkennst du das richtige Buch?* fragte sie staunend.
Offensichtlich glaubte sie, daß ich nicht lesen könne.
*Ganz einfach, ich lese den Buchrücken durch.* antwortete ich
sarkastisch.
Schnell schrieb ich einen Zettel für die anderen Studenten, daß
sie wegen der Bücher in die Bibliothek kommen sollten und ging los.
*Ich brauche ein Lehrbuch über Anatomie.*
Ich suchte es der Studentin heraus. Das beste mir bekannte Anatomiebuch
stammte von einem Gott, der aus Prinzip nur Leichen von Menschen seziert
hat, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Ich erzählte das
jedem, der bereit war, mir zuzuhören und hoffte, daß es einen
Teil dazu beitragen mochte, daß die Menschenversuche irgendwann
abgeschafft würden. Meiner Ansicht nach war der einzige Erfolg dieser
grausamen Praktiken, daß den Medizinstudenten jeder Rest an
Menschlichkeit ausgetrieben wurde, die sie sich in ihrer Kindheit noch
bewahrt haben mochten. Ich verwickelte die Studentin in eine Diskussion
über den Unsinn von Menschenversuchen. Sie war mir sympathisch.
Wir wurden durch einen Studenten unterbrochen, der den Strafer benutzte, um mich auf ihn auf merksam zu machen, wie andere Leute einen antippen oder ansprechen. Das ist ein kleines, elektronisches Gerät, das jedes Menschenkind unterm Schulterblatt eingepflanzt bekommt, wenn es zehn Jahre alt ist. Wenn ein Strafer durch jene ebenfalls sehr kleinen Sender erregt wird, die Götter in ihren Fingern eingepflanzt bekommen, sobald sie mit einundzwanzig auf die Universität kommen, schickt er eine Welle unerträglicher Schmerzen durch den Körper. Wenn ich an diesen Strafer auch nur denke, werde ich wütend! Wie kommen die Götter dazu, Menschen, die sich auch ohne jeden Zwang bemühen würden, ihre Arbeit anständig zu erledigen, so ein Ding einzupflanzen? Ich sprach in aller Ruhe den Satz zuende und tat als hätte ich nichts bemerkt, bis er mich heftig anstieß und mir sagte, daß er mit mir reden wolle. Na also! Er kann auch sprechen.
*Womit kann ich dir dienen?* fragte ich höflich.
"Gib mir die Bücher, die dein Herr für mich herausgesucht
hat." befahl er wütend, vermutlich weil ich keine Angst vor ihm
hatte.
*Sag mir, was du brauchst. Mein Herr hat mich gebeten, die Bücher
selbst herauszusuchen.* antwortete ich ruhig.
"Wie bitte? Ich soll mir von einem Menschen Bücher empfehlen
lassen?" fuhr er auf.
*Selbstverständlich. Da ich genug Ahnung habe, um meinem Herrn, der
Professor ist, Bücher empfehlen zu können, kann ich auch einem
Studenten das richtige Lehrbuch auswählen.* antwortete ich.
Ich lächelte über den unangebrachten Hochmut des jungen Gottes.
*Um Bücher empfehlen zu können, muß man sie nicht nur
kennen, man muß sie auch verstehen.* belehrte der junge Gott mich
herablassend.
*Sehr richtig. Deshalb betraut man mit dieser Aufgabe auch keine Studenten.
Was für Bücher wolltest du noch einmal?* konterte ich.
*Über die Grundlagen der Operationstechnik. Und wehe das Buch ist nicht
gut. Dann wirst du etwas erleben.* antwortete der Bursche.
Ich suchte ihm ein gutes Buch heraus.
*Wahrscheinlich wird er mich später bestrafen, weil er sich ärgert, daß ich
ihm eine gute Empfehlung gegeben habe.* dachte ich mir.
Ich wandte mich an einen zweiten Studenten, der still daneben gestanden hatte, fragte ihn, was er brauchte und gab es ihm. Er betrachtete mich so erstaunt, als wäre auch ihm jetzt erst klargeworden, daß ich die Gaben der Götter habe.
Torion war zur Essenszeit noch nicht zurück. Eine Routineuntersuchung
dauert nicht so lange. In sorgenvolle Gedanken versunken, ging ich zur
Kantine und versuchte den Studenten nicht in die Quere zu kommen. Die
Köchin sagte ratlos:
"Dein Gott hat nicht gesagt, was du essen willst. Was soll ich dir denn
geben?"
Ich lächelte und nickte ihr grüßend zu. Ich hatte keinen
Nerv, es jetzt mit Zeichensprache zu versuchen. Also nahm ich mit ihrer
Tochter Verbindung auf.
*Violla - kannst du mal in die Kantine kommen und deiner Mutter sagen,
daß sie mir das Menu 2 geben soll?*
Sie sprang auf, stürmte aus der Küche zu mir hinaus und sprang in
meine ausgebreiteten Arme. Lachend schwang ich das kleine Mädchen
herum. Wann immer ich Zeit dazu hatte, habe ich mich um sie gekümmert.
Ich habe ihr die Gedankensprache beigebracht, lesen und schreiben. Auch mein
Herr hat sich, wohl eher mir zuliebe, ein wenig um sie gekümmert. Beim
Essen unterhielt ich mich liebevoll mit dem kleinen Mädchen. Eine kurze
Zeit, in der ich meine Ängste vor der Zukunft vergaß.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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