vor 26.2.01
Er hatte recht. Was sie auch vorhatten, ich konnte nichts dagegen unternehmen. Und er war nicht einmal bereit mir die Wahrheit zu sagen. Ich senkte den Kopf und folgte ihm in den Operationsraum. Gehorsam zog ich mich aus, legte mich auf die Liege und ließ zu, daß sie mich dort anschnallten. Jemand schaltete den Betäubungsstrahler ein und ich verlor das Bewußtsein.
*Nichts wie weg hier!* dachte ich unwillkürlich und die Riemen
schnitten in meine Arme und Beine ein.
Dann unterdrückte ich diesen unsinnigen Impuls und kämpfte mit
meiner Willenskraft gegen den Schmerz an, drängte ihn aus dem Zentrum
meiner Aufmerksamkeit. Ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch
solche Schmerzen haben kann. Sie kamen aus der Gegend meines Herzens. Die
Götter hatten das Herz freigelegt und mir dort eine Glasscheibe in den
Bruskorb eingesetzt, so daß man es bei der Arbeit beobachten konnte.
Bei jedem Atemzug und bei jedem Herzschlag scheuerte diese Scheibe an den
Rippen und zog schmerzhaft an Rippenfell und Herzbeutel, die beide reichlich
mit Nerven versorgt sind. Gewaltsam entspannte ich mich und sah mich um.
Ich lag immer noch angeschnallt auf der Operationsliege. Um mich herum
standen Ärzte und Studenten und sahen mich an. Nach und nach
verließen sie den Raum.
Nur einer blieb zurück. Forschend sah er mich an und stellte den
Gedankenabschirmer aus, als er meinen beherrschten Gesichtsausdruck
sah.
*Du kannst mich ruhig losschnallen. Ich mache keine Dummheiten.*
dachte ich ihm zu.
Zögernd löste er die Riemen. Ich setzte mich vorsichtig hin. Vor
Schmerzen wurde es mir schwarz vor Augen. Als ich mich wieder gefangen
hatte, meinte der Student:
"Du bist ungewöhnlich tapfer. Die meisten
Menschen brauchen mehr als einen Tag, bis sie sich nach der Operation
wieder beruhigen."
*Das wundert mich nicht. Weißt du, was das für Schmerzen sind?*
fragte ich bitter und zornig.
"Nein. Die meisten Menschen im Anatomiesaal tragen doch einen
Abschirmer." entgegnete er besänftigend.
*Willst du es wissen?* fragte ich herausfordernd.
Ich wollte ihn dazu bringen, daß er sich telepathisch in meine
Schmerzen einfühlte, damit er lernte, Menschen besser zu verstehen.
"Nein. Ihr Menschen seid nun einmal dazu da, der höheren Rasse zu
dienen." entgegnete er bestimmt.
Es hat keinen Sinn jemanden eine solche Erfahrung aufzuzwingen. Doch dem
zweiten mußte ich widersprechen:
*Aber nicht so! Ein Holofilm würde denselben Zweck erfüllen. Er
könnte bei irgendeiner sowieso notwendigen Operation unter
Betäubung gedreht werden. Statt dessen foltert ihr für diesen
Zweck alle zwei Wochen einen Menschen zu Tode.*
"Was kann ich schon daran ändern?" fragte der junge Gott mich
ratlos.
*Jetzt wahrscheinlich nichts. Vielleicht bekommst du als Erwachsener eine
Gelegenheit dazu. Wenn du diesen Vorschlag öfters anderen machst - er
bedeutet auch eine Kostenersparnis - wird er vielleicht aufgegriffen*,
erlärte ich und fragte,
*Weißt du vielleicht, was mit Torion geschehen ist?*
"Er wurde degradiert. Er hatte eine Erbkrankheit. Sie haben ihn als
Bibliothekar eingeteilt."
*Kannst du mich in die Bibliothek begleiten? Ich möchte mit ihm reden.*
bat ich.
"Schaffst du das überhaupt?" fragte er mich.
*Es wird anstrengend.* antwortete ich.
Er spürte, daß mir der kurze Weg wie eine kaum zu
bewältigende Aufgabe vorkam - und meine Entschlossenheit dennoch auf
eigenen Füßen dort anzukommen. Ich zog mich wieder an.
"Also gut." sagte er, öffnete die Tür.
Das Aufstehen beantwortete mein Körper mit einer solchen Welle von
Schmerzen, daß ich beinahe umgefallen wäre. Erst nach einigen
Sekunden wagte ich loszugehen. Schon nach wenigen Schritten zwangen mich die
Schmerzen, erneut innezuhalten. Mein ganzer Körper überzog sich
mit einer dünnen Schweißschicht. Ich lehnte mich keuchend an den
Türrahmen. Der Student drehte sich besorgt um.
*Es geht schon.* dachte ich ihm zu und ging diesmal langsamer, damit Herz
und Lunge nicht so heftig arbeiten mußten.
Im Schneckentempo bewegte ich mich fort, meine Wahrnehmung verengte sich auf
den nächsten Schritt, auf die Kacheln des Ganges. Ich sah sie mir so
sorgfältig an, als hinge mein Leben davon ab, daß ich am
nächsten Morgen ihr Aussehen beschreiben kann. Sie lenkten mich von den
Schmerzen ab. So überraschte es mich vollkommen, als Torion mich
begrüßte. Ich stand einige Sekunden fassungslos da, aus meiner
innigen Betrachtung über Fliesen gerissen, zurück in eine
schmerzerfüllte Welt. Ich starrte ihn einfach nur an, bis es mir
endlich gelungen war, mich wieder in der Realität zurechtzufinden.
*Karion, du siehst schlecht aus. Wie ist es dir ergangen?* fragte Torion
mich besorgt.
Wortlos knöpfte ich mein Hemd auf. Torion reagierte entsetzt und bekam
ein schlechtes Gewissen.
*Indem ich dich hierherholte, wollte ich dich schützen.* sagte er
niedergeschlagen.
*Ich weiß. Ich hatte von Anfang an solche Befürchtungen.*
antwortete ich, sandte ihm mit den Worten Trost.
*Warum hast du nichts gesagt? Ich wollte dich doch nicht zwingen!* fragte er
fassungslos.
*Für's Dableiben hätte ich andere Befürchtungen gehabt.*
antwortete ich.
*Aber sie bringen dich um!* protestierte er.
*Ja. Ganz langsam und qualvoll. Und sie haben schon damit angefangen.
*Weißt du, Torion. Manche Dinge sind Schicksal. Sie werden einem
angetan und man hat kein Mittel in der Hand, sich dagegen zu wehren. Man
muß sich damit abfinden - zwangsläufig - und versuchen, so gut
wie möglich damit fertigzuwerden. Alles andere würde Kräfte
kosten, die man nicht übrig hat, wenn man in seinem Leben irgendetwas
Gutes erreichen will. Torion, an deiner Stelle hätte ich genauso
gehandelt.* dachte ich sanft.
*Auch wenn es das Leben deines Freundes kostet?* fragte er zurück und
seine Seele war voll Schmerz.
*Torion, das ist nicht deine Verantwortung. Du kannst andere Götter
nicht zwingen, hier besser mit Menschen umgehen. Du kannst nicht mehr tun,
als mit ihnen zu reden und selber vorbildlich zu handeln.*
*Welche Krankheit haben sie bei dir diagnostiziert?* fragte ich
neugierig.
Torion nannte einen Namen in der Sprache der Götter vom hohen Himmel,
die über die normalen Götter herrschen, der übersetzt
hieß: "den Menschen zu nahe kommend"
*Sie waren also so zuvorkommend, für dich eigens eine neue Erbkrankheit
zu erfinden!* kommentierte ich schmunzelnd.
Torion lachte endlich.
*Ein genialer Schachzug. Niemand wird zugeben, daß er diese Krankheit
nicht kennt. Niemand wird wagen, den Ratschluß unserer besten
Fachleute infrage zu stellen. Eine Diagnose einer echten Krankheit mit
bekannten Symptomen, hätte man dagegen hieb- und stichfest widerlegen
können. Nur wir beiden sind selbstbewußt genug, uns absolut
sicher zu sein, daß es diese Krankheit nicht gibt.* Ich lachte.
*Daß du noch lachen kannst!* meinte Torion ungläubig.
*Wenn ich das nicht könnte, wäre ich längst an Verzweiflung
gestorben.* entgegnete ich.
Torion überdachte mein bisheriges Leben und mußte dem
zustimmen.
Der Rückweg und die darauffolgende Nacht waren in einen Nebel von Schmerzen getaucht.
Am nächsten Morgen mußte ich in die Halle der Anatomie. Ich bestand darauf, auf eigenen Füßen dorthinzugehen. Etwas anderes hätte ich mit meinem Gefühl für meine Menschenwürde nicht vereinbaren können.
Beim Betreten des Anatomiesaales begrüßte ich jeden der Menschen mit einem Lächeln und Nicken, die ebenfalls eine Sichtscheibe im Körper trugen, damit die jungen, göttlichen Studenten unsere inneren Organe bei der Arbeit beobachten und zeichnen konnten. Das hatte ich mir zum Grundsatz gemacht, seit ich dieses Gruselkabinett der Wissenschaft vor Jahren das erste mal betreten hatte. Andere Götter und Menschen zogen es vor, diesen Menschen nicht in die schmerzverzerrten Gesichter zu schauen. Sie hätten es wohl nicht ertragen, sich in deren schreckliche Situation zu versetzen: ein Leben als Schautafeln, voller Schmerzen und ohne die Möglichkeit, sich anderen mitzueilen. Sie alle waren bei der Operation ihrer Stimme beraubt worden, damit sie nicht vor Schmerzen schreien oder wimmern konnten. Ihr Energiefeld war durch einen Gedankenabschirmer von der Umwelt abgeschnitten. Selbst wenn sie die Gedankensprache beherrschten, hätte sie niemand hören können.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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