vor 26.2.01
Es wäre die Hölle gewesen, nur an meine Schmerzen und meine
düstere Zukunft zu denken. Also sah ich mich um, suchte nach Ablenkung.
Eine Studentin kam auf mich zu, setzte sich vor meinen Tisch und begann mein
Herz zu zeichnen. Ich beobachtete sie bei der Arbeit. Nach einer Weile
dachte ich ihr zu:
*Bist du dir sicher, daß du das richtig gezeichnet hast? Bei allen
anatomischen Zeichnungen, die ich bisher gesehen haben laufen die Adern
so:* ich überlagerte ihre Zeichnung in ihrem Geist durch
Gedankenübertragung mit dem Bild, was ich für richtig hielt.
Sie sah mich an, als hätte plötzlich eine Schnecke zu sprechen
begonnen. Ich ließ ihr Zeit sich wieder zu fassen. Statt einer echten
Antwort, fing sie laut an, über die besserwisserischen Menschen zu
schimpfen, die keine Ahnung hätten.
*Geh hin und vergleiche deine Zeichnung mit den Anatomiebüchern der
Bibliothek. Du wirst sehen, daß ich Recht habe.* Ich nannte ihr
einige Stellen in verschiedenen Büchern.
*Aber du trägst ja gar keinen Gedankenabschirmer!*
*So ist es.*
*Woher weißt du das denn alles?*
*Ich habe jahrelang Medizinprofessoren Ratschläge erteilt, welche der
neu erschienenen Bücher empfehlenswert sind. Da lernt man solche
Dinge.*
*Aber Menschen sind doch dumm...* meinte sie ungläubig.
*Ja. Ungefähr so dumm wie die Götter, die
so hochmütig auf sie herabsehen.* konterte ich.
"Was fällt dir eigentlich ein!"
Sie schäumte vor Wut. Das Mädchen konnte kaum fassen, daß
ich es wagte, so etwas auch nur zu denken.
*Weißt du, irgendwann kommt der Punkt, wo sich die Rücksicht auf
die Regeln der Höflichkeit nicht mehr lohnt. Viel schlimmer kann es
für mich ja nicht mehr kommen, oder?*
Sie sah mich wieder eine Weile sprachlos an. Ich erwiderte ruhig und offen
ihren Blick.
*Ja, du hast recht, es sei denn...* sie brach ab.
Ich ergänzte ihren Gedanken ruhig:
*Es sei denn in den Versuchlaboren. Die sind mir sowieso sicher. Alle
Menschen hier, kommen nach spätestens zwei Wochen in die
Versuchslabore, wenn die Sichtscheibe undurchsichtig geworden ist.*
Sie nickte und fragte:
*Woher weißt du das?*
*Es gibt in der Bibliothek einige Bücher, in denen man das lesen
kann.*
*Wie kannst du mit diesem Wissen weiterleben?*
*Für mich ist nicht so wichtig, was andere tun, selbst wenn sie es mir
antun. Solange ich selber anständig bleibe, und etwas tue, was ich
für sinnvoll halte, ist für mich das Leben wert, gelebt zu
werden.*
*Du meinst es reicht dir, wenn wir dir eine sinnvolle Aufgabe geben?*
*Nein. Das wäre eine Sklavenmentalität. Meine Aufgaben wähle
ich mir selbst. Jetzt arbeite ich beispielsweise daran, euch Studenten
bewußt zu machen, wie grausam, unnötig und verbrecherisch das
ist, was hier im Anatomiesaal mit Menschen gemacht wird. Das ich hier
für dich als Zeichenobjekt zur Verfügung stehe, ist in meinen
Augen lediglich ein Unrecht, gegen das ich mich nicht wehren kann.*
erklärte ich.
Das stellte ihr Weltbild vollends auf den Kopf.
*Wenn du Fragen zum Lehrstoff hast, kannst du mich in dem Zimmer besuchen,
wo ich gefangen bin. Ich helfe dir gerne weiter.* lud ich sie ein.
Sie ging weiter zu einem anderen Menschen. Sie mußte noch einiges
zeichnen an diesem Tag. Bis zum Ende der Anatomiestunde hatte ich noch zwei
weitere junge Götter zu mir eingeladen. Die drei kammen am nächsten Morgen
tatsächlich und löcherten mich mit Fragen zu ihrem Studium. Am Tag
darauf waren es schon zehn. Mein Unterricht hatte ihnen so gut gefallen,
daß sie ihre Freunde mitbrachten.
Zwei Wochen später war diese Schar auf zwanzig Studenten angewachsen.
Ich ging mit ihnen in die Bibliothek und bat Torion, uns einige Bücher
herauszusuchen. Als er mit vollen Armen zurückkehrte, fragte er:
"Sag mal Karion, wie schaffst du es, daß die normalen Regeln
für dich nie zu gelten scheinen? Du bewegst dich frei in der gesamten
Bibliothek, hast immer einen Schwarm Studenten um dich und selbst die
Sichtscheibe in deinem Herzen ist noch klar."
*Ich weiß nicht. Ich lebe einfach.* antwortete ich.
"Das ist unser Tutor. Wir können ihn doch nicht wie einem normalen
Menschen behandeln." sagte einer der Studenten.
"Bevor ich degradiert wurde, war ich Professor. Doch hat keiner meiner
Tutanten mich nachher noch einmal als Tutor bezeichnet." entgegnete
Torion.
"Nichts gegen dich, Torion. Du warst ein guter Professor und
anständiger als die meisten, doch Karion ist anders. Er
läßt sich durch nichts unterkriegen, nie entmutigen. Er ist
nicht nur klug, er ist brilliant und dabei gar nicht so hochmütig, wie
die anderen Professoren. Er würde niemanden etwas Böses tun. Doch
er hat den Mut sich mit jedem anzulegen." erklärte einer der
Studenten.
"Ihr habt recht. Vor Jahren wurde beschlossen, die Bedarfsplanung in
einigen Landwirtschaftsbetrieben Menschen zu überlassen. Ich dachte
mir, daß das nicht funktionieren kann, da sie dort auf einen Posten
gesetzt wurden, wo sie Göttern Befehle erteilen mußten, aber
nicht die Macht in die Hand bekamen, sie auch durchzusetzen. In vier der
fünf Betriebe funktionierte es tatsächlich nicht. Im fünften
war Karion. Er hat den gesamten Betrieb nach seinen Vorstellungen
umstrukturiert, so daß dort heute noch wesentlich mehr geleistet wird
als in jedem anderen Betrieb des Landes. Ich weiß nicht, wie er es
geschafft hat, sich durchzusetzen, doch zu Strafe wurde er
schließlich seiner Stimme beraubt." erzählte Torion.
Es ist ein seltsames Gefühl, so gelobt zu werden. Ich hatte einfach nur
getan, was ich für notwendig hielt. Hätte ich zusehen sollen, wie
ein Gott Menschen foltert, statt sie ihre Arbeit tun zu lassen? Der Mann
mußte auf einen Posten, wo er keine Macht über Menschen hat.
Meinen Vorgesetzten davon zu überzeugen, dauerte allerdings eine Weile.
Einigen Göttern schien meine bloße Existenz Grund genug zu sein,
mich so lange mit dem Strafer zu quälen, bis ich nicht mehr aufstehen
konnte. Andere haben mich dagegen von Anfang an behandelt wie einen der
ihren. Wäre ich unfähig gewesen, unter diesen unmöglichen
Umständen die Aufgabe der Bedarfsplanung zu erfüllen, hätte
ich es zweifellos leichter gehabt. Die Götter, die die Oberaufsicht
über die Landwirtschaft unseres Landes hatten, konnten mir nicht
verzeihen, daß ich es nach und nach jeden einzelnen Gott des
Betriebes, an dem ich arbeitete, dazu brachte, daß er meine
Anweisungen zuverlässig ausführte, da sie sinnvoll waren. Selbst
mein direkter Vorgesetzter hat sich am Ende meist an meine Ratschläge
gehalten.
Und dann haben sie mich zur Strafe meiner Stimme beraubt. Sie haben ausdrücklich gesagt, daß sie mich genau dafür bestraften, daß ich erfolgreich meine Aufgabe erfüllt hatte. Und ich habe ihnen gesagt, was ich von diesem Unfug hielt. Geholfen hat mir das selbstverständlich nicht. Ich empfand das wie ein Todesurteil. Damals brachte meine Freundin auch meinen Sohn zur Welt. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Ich hoffe, es geht ihm gut. Mein damaliger Vorgesetzter, der keine Möglichkeit gehabt hatte, mich vor dem Urteil, das über mich gesprochen wurde, zu schützen, hat mir versprochen, sich um das Kind zu kümmern.
Zu meinem Erstaunen war meine Glasscheibe nach zwei Wochen noch so klar wie am ersten Tag. erst nach einem halben Jahr begann sie langsam trübe zu werden.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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