vor 26.2.01
*Fjaera, ich glaube, wir müssen los.*
Vorsichtig ließ ich die Frau auf den Operationstisch gleiten, die an
meiner Schulter eingeschlafen war. Fjaera holte einige Decken und deckte sie
sorgfältig zu.
*Jemand sollte für sie da sein, wenn sie erwacht.* sagte ich.
*Ich werde mich darum kümmern.* versprach Fjaera und schloß die
Tür ab.
Dann sagte sie leise zu mir:
"Du kümmerst dich immer nur um andere."
Ich dachte darüber nach erkannte:
*Manchmal ist das einfacher, als sich den eigenen Problemen zu stellen.*
*Hast du Angst?* fragte sie, erstaunt als hätte sie geglaubt, ich
wäre dieses Gefühls nicht fähig.
*Ja.* antwortete ich.
"Oh Karion." sagte sie voller Kummer, legte den Arm um mich und
schmiegte sich an mich.
Ich genoß ihre tröstliche Wärme und wich so den Gedanken an
die Zukunft aus. Vielleicht war sie auch in mich verliebt. Wie dem auch sein
mochte, es würde nichts daraus werden. Sie hatte keine Möglichkeit
mich zu schützen.
An meinem Tisch angekommen verabschiedete ich mich mit einer Umarmung von Fjaera. Andere Studenten spotteten darüber, aber sie kümmerte sich nicht darum. Ich setzte mich auf meinen Platz vor dem Zeichentisch und ließ es zu, daß die Saalbediensteten mich dort mit den fest in meinen Knochen eingelassenen Schrauben an das Gestell schraubten. Sie behandelten uns wie Schautafeln. Ich sah mich um. Die anderen Menschen sahen so von Schmerzen benebelt aus wie immer.
Nahe der Tür standen meine Studenten. Studenten suchen sich einen
Professor als Tutor, an den sie sich mit ihren Fragen wenden. Diese
Studenten wandten sich an mich. Sie sahen aus, als hielten sie gerade eine
Krisensitzung ab. Das Thema konnte ich mir denken. Ich griff mit meinen
Gedanken hinüber und fragte:
*Was steht ihr so an der Tür herum? Wollt ihr nicht
herüberkommen?*
Sie schauten zu mir. Einer fragte:
*Karion, weißt du...* er brach ab, mit dem Gefühl schon zu viel
verraten zu haben.
*Heute kam ein Arzt zu mir und meinte, ich solle mich um eine Frau
kümmern, der sie ein Fenster am Herzen eingesetzt hatten. Das meintest
du doch, oder?*
Ich begleitete die Worte mit mildem Spott. Ich wollte nicht bemitleidet
werden.
*Hat er das wirklich so gesagt, ohne einen Gedanken an dich?*
Meine Studenten waren bestürzt. Sie hatten gelernt. Vor drei Monaten
wäre ihnen nicht aufgefallen, welche Gedankenlosigkeit dieser Ausspruch
beinhaltete. Nicht, wenn ich es in dieser spöttischen, stolzen Art
gedacht hätte. Ich lächelte zufrieden. Sie lernten langsam,
über Gefühle auch nachzudenken und andere zu verstehen. Sie
entdeckten ihre Menschlichkeit.
Sie waren zu mir gekommen, weil sich herumsprach, daß ich mehr über Medizin weiß als manche Professoren, gut erklären kann und die Bücherei in und auswendig kenne. Doch sie hatten auch das gelernt, was ich ihnen hatte beibringen wollen. Menschlichkeit. Ein Gefühl für Recht und Unrecht, dafür, daß Menschen mehr sind als nur Gebrauchsgegenstände, die man beliebig benutzen oder wegwerfen kann.
*Karion, wir müssen etwas tun!*
Die Gedankenstimme des Jungen war drängend. Ich war gar nicht erfreut,
an die Zukunft erinnert zu werden. Außerdem hatte er Unrecht.
*Was können wir tun?* fragte ich sanft.
*Ich weiß nicht.* antwortete der junge Gott.
Er hatte noch nie erlebt, was es bedeutet, ausgeliefert zu sein, nichts tun
zu können. Jetzt bekam er langsam eine Ahnung davon.
*Ich weiß auch nichts.* sagte ich.
*Aber sie bringen dich um!* protestierte er.
*Ja, sie bringen mich um. Ganz langsam und qualvoll. Und sie haben
schon damit begonnen.* bestätigte ich.
Der Junge spürte hinter meiner oberflächlichen Ruhe das Grauen.
*Du mußt fliehen!* forderte er.
*Wie? Und wohin? Mit einer Glasscheibe in der Brust, wo sich das Fleisch
entzündet, wenn sie nicht täglich mit Desinfektionmittel
eingeschmiert wird. Mit einem Herzen, das bei jedem Schlag wehtut. Meinst
du, ich kann damit rennen?* fragte ich.
*Nein. Aber irgendetwas müssen wir doch tun...* sagte er.
*Meinst du? Ich konnte in meinem Leben sehr oft nichts tun.* widersprach
ich.
Der Junge weinte. Wortlos schickte ich ihm Wärme und Liebe
hinüber.
*Treffen wir uns heute Abend wieder in der Bibliothek?* fragte ich meine
Studenten.
Ich wollte mich von ihnen noch einmal verabschieden können. Sie nickten
bedrückt. Sie hatten das Gedankengespräch mitgehört. Ich
wußte daß sie, wie ich auch, über Auswege grübeln
würden. Wahrscheinlich erfolglos. Mit gesenktem Kopf verließen
sie den Anatomiesaal.
Ich begann mich sehr schnell zu langweilen. Ich brauchte dringend eine
Ablenkung von meinen Schmerzen. Ich betrachtete die junge Göttin, die
vor mir saß, um mein Herz zu malen. Sie musterte gedankenverloren mein
Gesicht. Ich sah ihr in die Augen, bis ihr bewußt wurde, daß ich
sie sah. Dann dachte ich ihr *Hallo* zu. Sie war überrascht. Ich
lächelte ihr zu.
"Warst du das?" fragte sie verwirrt.
*Ja* antwortete ich.
"Aber du bist doch ein Mensch!" wunderte sie sich.
*Ja und?* fragte ich.
*Aber Menschen können doch nicht ...* setzte sie verwirrt an.
*Bist du sicher? Ich unterhalte mich oft mit der kleinen, dunkelhäutigen
Tochter der Köchin.* entgegnete ich spöttisch.
Die junge Göttin wurde nachdenklich, betrachtete schweigend mein Gesicht
und kehrte zu dem Gedankengang zurück, der sie vorher beschäftigt
hatte. Zaghaft fragte sie:
*Was ist es eigentlich für ein Gefühl, so eine Glasscheibe im
Brustkorb zu haben?*
*Schmerzen, grauenhafte Schmerzen. Willst du es genau wissen?*
Die Göttin sah mich mit großen Augen an. Sie hatte begriffen, was
ich mit dieser Gegenfrage meinte und dachte ernsthaft darüber nach.
*Ja.* antwortete sie.
Ich nickte ernst, nahm sanft Verbindung mit ihr auf, schirmte sie aber
noch von den Schmerzen ab.
*Wer bist du?* fragte sie voll Ehrfurcht, als sie meine große, innere
Stärke spürte.
*Ich heiße Karion.* verstand ich die Frage bewußt falsch.
Das Staunen war immer da, wenn ich einen Gott mein Inneres sehen ließ.
Ich weiß nicht, warum ich innerlich so viel stärker war als die
meisten Götter. Aber diese Ehrfurcht erschien mir falsch, krankhaft.
Die Göttin spürte, warum ich sie mißverstehen wollte.
*Bist du bereit?* fragte ich.
*Ja.* antwortete sie.
Ich ließ sie meine Schmerzen spüren. Sie keuchte und brach die
Verbindung zu mir so abrupt ab, daß mir für einen Moment schwarz
vor Augen wurde. Sie brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu fassen.
Dann nahm sie vorsichtig wieder Kontakt auf, erspürte meine Schmerzen.
*Das ist ja schrecklich.* dachte sie mir zu, als sie den Kontakt langsam
wieder löste. Ich stimmte ihr zu und erklärte:
*Verhältnismäßig habe ich es noch am besten getroffen. Da
drüben der Frau haben sie den gesamten vorderen Brustkorb durch ein
Guckfenster ersetzt. Sie hat große Angst zu ersticken. Kein Wunder.
Ihre Arme kann sie nicht nach vorne bewegen. Dazu fehlen ihr die Muskeln.
Bei einem anderen sind die Gedärme zu sehen. Ob er aufrecht stehen
kann, weiß ich nicht. Möglicherweise bietet die Glasscheibe
genug Stütze.*
*Aber das sind doch nur Menschen. Sie spüren das nicht so wie wir.*
widersprach die Göttin verunsichert.
*So? Ich weiß das besser. Menschen können ihr Energiefeld nicht
so gezielt einsetzen wie wir. Deshalb macht ihr Geist einen so schwachen
Eindruck. Das täuscht. Wenn du wirklich wissen willst, wie Menschen
denken oder fühlen, gibt es nur eine Möglichkeit. Du mußt
dein Energiefeld mit ihrem verbinden. Frag sie vorher laut um Erlaubnis.
Und nimm für deine ersten Experimente keinen der Menschen in diesem
Saal. Du würdest die Schmerzen nicht verkraften.*
Die junge Göttin wunderte sich über die selbstverständliche
Autorität, mit der ich ihr Ratschläge erteilte. So vieles an mir
paßte nicht zu dem Bild, das sie sich von Menschen gemacht hatte. Sie
würde diese Nacht wahrscheinlich noch lange darüber nachdenken.
Ich mochte sie.
*Heute Abend treffe ich mich mit meinen Tutanten noch einmal zum Abschied in
der Bibliothek. Wenn du willst, kannst du auch kommen.* lud ich sie ein.
Die Vorstellung, daß ich Tutanten haben könnte wie ein Professor,
erschien der Göttin so erstaunlich, daß sie vollkommen
vergaß, mir zu antworten. Ich war überzeugt, daß sie kommen
würde, und sei es nur aus Neugier. Sie zeigte gute, menschliche
Ansätze. Während einige andere Studenten mein Herz malten
beobachtete ich sie weiterhin.
Nach der Anatomiestunde brachte ein Student mich in meinen Schlafraum. Kurz
darauf kam Fjaera. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe. Sie brach in
Tränen aus. Schweigend wiegte ich sie in meinen Armen, bis sie sich
wieder beruhigt hatte.
"Ich liebe dich auch. Ich habe dich von Anfang an geliebt."
antwortete sie.
*Und wir wußten von Anfang an, daß nichts daraus würde
werden können.* ergänzte ich ernst.
Sie nickte und strich mir übers Haar.
"Und trotzdem liebe ich dich. Und ich bin froh, dich kennengelernt zu
haben."
Ich nickte.
Mehr als ein sanfte Streicheln hätte ich körperlich nicht verkraftet. Doch das reichte mir, denn ich spürte, welche Liebe dahinter stand. Und ich war auch zu erschöpft von den Schmerzen der letzten Monate, zu mehr fehlte mir einfach der innere Antrieb. Ich hatte fast ein halbes Jahr mit dieser Sichtscheibe im Körper gelebt, obwohl jeder andere Mensch nach zwei Wochen schon in die Versuchslabore kam.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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