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Er war ein hochrangiger Priester und vertrat den Tempel gegenüber der Regierung des Staates. Seine Gäste kamen, um die Politik des Landes mit ihm zu besprechen. Ich mußte dann schweigen, aber der Herr erwartete, daß ich gut zuhörte und mir jedes Wort merkte, das er mit ihnen wechselte. Auch darüber redetete er mir, erklärte mir, warum er bestimmte Dinge gesagt oder weshalb er geschwiegen hatte. Die Gedanken, die ich mir dazu machte, schienen ihm mit jedem Tag mehr zu gefallen.
Und doch schien mir das alles so merkwürdig unpersönlich. Er
hatte etwas mit mir vor, wurde mir klar. Mir fielen einige
unerfreuliche Möglichkeiten ein, was das sein könnte.
Eigentlich glaubte ich nicht, daß er mir etwas
Böses tun könnte, das war nicht seine Art.
Trotzdem wurden meine Befürchtungen immer
mehr. Schließlich ging ich zu einem Herrn und
erzählte ihm davon. Er nickte ernst, schwieg
eine Weile und sagte dann:
"Du hast recht, ich habe etwas mit dir vor. Ich habe eine
Disziplinübung für dich. Ich werde dir diese
Befürchtungen lassen und gebe dir die Aufgabe, sie für
eine Woche völlig aus deinem Geist zu verbannen."
Ich nickte. Ich wußte, es war sinnlos, ihn noch einmal darum zu
bitten, daß er sagte, was er mit mir vorhatte. Statt dessen
überlegte ich, was wohl das Schlimmste sein könnte, das er
mir antun könnte. Eine namenlose Angst erwachte in mir, vor etwas,
das so schrecklich war, daß ich es nicht wagte, es im Geiste
anzurühren. Ich konzentrierte mich auf diese Angst und fragte
mich, ob ich damit zurechtkommen könnte, noch einmal das zu
erleben, was diese namenlose Angst in mir erschaffen hatte. Mir wurde
klar, das ich es konnte und Ruhe breitete sich in mir aus.
Dann dachte ich nicht mehr an meine Befürchtungen und wartete
ruhig ab, was seine Pläne mit mir waren.
Am Ende dieser Woche kam der König. Wie üblich bediente ich schweigend und versuchte mich möglichst unauffällig zu verhalten. Ich durfte ihm nicht in die Augen sehen. Diesmal allerdings war es schwierig, denn ich spürte, wie er mich ständig aufmerksam beobachtete, während ich so alltägliche Dinge tat wie Wein eingießen und Suppe servieren.
Mit einem Gedanken befahl mir der Herr, mich vor dem König niederzuwerfen. Ich gehorchte und entspannte gewaltsam meine Muskeln, die sich vor Angst völlig verkrampfen wollten. Eindeutig hatten sie über mich gesprochen und hatten irgendetwas vor. Gewaltsam hinderte ich meine Gedanken daran, mir eine ausführliche Sammlung häßlicher Befürchtungen zu präsentieren, was sie alles für schlimme Dinge mit mir vorhaben könnten. Beide sahen schweigend auf mich herab - und da sie im Tempel ausgebildet waren, wußte ich, daß sie meine Gefühle spüren konnten. Ich beruhigte meinen Geist zu völligem Schweigen und wartete ab.
"Steh auf und sieh mich an." befahl der König.
Ich gehorchte und sah ihm ruhig in die Augen. Er berührte sacht
meinen Geist und nach kurzer Überlegung ließ ich ihn ein.
Dann verlor ich die Wahrnehmung der äußeren Welt aus meinem Bewußtsein.
In meinem Geist standen wir uns gegenüber. Ich fühlte mich
hier größer als er und sehr sicher.
"Warum hast du mich eingelassen?" fragte der König.
"Es erschien mir klüger." antwortete ich.
"Du könntest mich nicht rauswerfen." behauptete er.
"Doch, das könnte ich." entgegnete ich.
"Dann tu das." befahl er.
"Ich könnte dich verletzen." lehnte ich ab.
"Das ist meine Sorge. Versuche mich herauszuwerfen." forderte
er erneut.
Ich schwieg nachdenklich, dann machte ich die Grenze meines Geistes nachgiebig und glitschig und beförderte ihn trotz seiner Gegenwehr ganz sacht nach draußen. Er glaubte vielleicht, daß ich keine ernsthafte Gefahr für ihn war. Ich hatte dieses Vertrauen nicht.
Den König kannte ich nicht, aber ich hätte niemanden absichtlich verletzt.
"Mich hat noch niemand so sanft und unwiderstehlich nach
draußen befördert." kommentierte der König
amusiert.
"Ich hatte Angst, ich könnte dich verletzen. Deshalb habe ich
das erfunden." antwortete ich.
Er sah mich überrascht an.
"Der König wird dich prüfen und dir dann eine Frage
stellen. Wenn du nicht bestehst oder die Frage mit nein beantwortest,
kannst du zu mir zurückkehren." erklärte mein Herr und
verließ ohne Abschied den Raum.
Ich folgte dem König in den Palast.
Die Prüfungen bestanden in noch mehr so seltsamen Übungen, wie mein Herr mir immer gegeben hatte und in langen Gesprächen über das, was ich bei diesen Übungen erlebte.
Dann fragte er mich, ob ich im Tempel für die Einweihung ausgebildet werden wolle. Ich beantwortete die Frage ohne jegliches Zögern mit "Ja" und wurde sofort in den Tempel geleitet.
Quelle: Erinnerung an eigene frühere Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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