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Das Drachenreich: Der erste Drache

F75.

Die Stecker

Als die Drachen zehn Meter lang waren, bekamen sie ein Geschirr angepaßt, das es uns ermöglichen sollte, sie zu reiten. Sie hatten ungeduldig darauf gewartet und sich riesig darauf gefreut und auch ich hatte Freude daran, meinen Drachen zu reiten.

Mit gemischten Gefühlen sah ich dagegen einer Operation entgegen, die für drei Tage nach dem ersten Drachenritt angesetzt war: Mir sollte ein Computerzugang ins Gehirn implantiert werden. Die Zustimmung zu dieser Operation hatte ich schon unterschreiben müssen, bevor ich die Prüfungen wegen der Auswahl zum Drachenreiter machte. Gefallen tat mir die Aussicht allerdings überhaupt nicht. Zum einen war bekannt daß die Operation zwar nicht ernsthaft gefährlich war, aber doch immer zu tage- bis wochenlang anhaltenden schweren Kopfschmerzen führte und es gewöhnlich einige Tage dauerte, bis man nach der Operation das Bewußtsein wiedererlangte. Abgesehen davon wollte ich einfach keine technischen Geräte im Körper haben.

Dennoch war klar, daß es nicht in Frage kam, auch nur etwas dagegen zu sagen: Zum einen würde uns dieser Zugang helfen, den Wissensdurst unserer Drachen zu befriedigen, zum zweiten brauchten wir die Möglichkeit, uns so schnell und wirksam in das Computernetz einhacken zu können, wie das nur diese Zugänge erlauben, ziemlich sicher, sobald klar würde, daß wir nicht die Kriege führen würden, für die sie uns ausersehen hatten.

Als ich den Befehl erhielt, zum Krankenhaus zu fliegen, um die Operation vornehmen zu lassen, sattelte ich also meinen Drachen und flog los, sobald ich mich ordnungsgemäß abgemeldet hatte. Unterwegs gab es einen unerwarteten Aufenthalt: Mein Drache entdeckte eine Baustelle, landete und fragte den Mann, der dort die Aufsicht führte, aus, wie denn das alles funktionierte.

Trotzdem kamen wir rechtzeitig zum geplanten Termin am Krankenhaus an. Die Vorbereitungen zur Operation schienen - so weit ich das beurteilen konnte - völlig plangemäß abzulaufen und alles wirkte wie Routine. Niemand schien sich Sorgen zu machen, daß irgendetwas schiefgehen könnte, als ich mich auf die Operationsliege legte und durch die Narkose einschlief.

Als ich erwachte war das erste was ich spürte die schlimmsten Kopfschmerzen, die ich in meinem Leben bisher gehabt hatte.
"Mein Gott, wo kommen diese Kopfschmerzen her?" dachte ich. Das nächste was mir zu Bewußtsein kam, war daß ich einen Durst hatte, als hätte ich drei Tage nichts getrunken. Ich öffnete meine Augen, rappelte mich auf und wunderte mich, daß ich in einem vollgeschissenen Krankenhausbett lag. Wie kam denn so etwas? Ach ja, die Operation. Aber den Durst und das vollgeschissene Bett erklärte das nicht.
*Sie haben Dir einfach keine Infusionen gegeben, dabei habe ich ihnen das ständig gesagt!* hörte ich die Stimme des Drachen in meinem Geist. Mein Kopf reagierte darauf mit heftigsten Kopfschmerzen. Ich wimmerte.
*Weißt Du wo die Toilette ist?* fragte ich. Der Drache wies mich auf eine Tür in der Ecke des Zimmers hin. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und ging an der Wand entlang in die Kabine. Dabei torkelte ich wie ein Betrunkener. Mein Gehirn hatte sich noch nicht an die Anschlüsse gewöhnt. Zuerst trank ich mich am Wasserhahn satt, dann duschte ich und überlegte, was wohl passiert sein könnte. Schließlich müßte das Krankenhauspersonal doch wissen, daß sie Ärger mit der Regierung bekommen, wenn sie mich dermaßen vernachlässigen! Und normalerweise lassen sie doch niemanden in einem vollgeschissenen Bett liegen. Nicht einmal richtig arme Leute, die nur den notwendigsten Teil der Behandlung bezahlen können.

Ich zog mich an und verließ das Zimmer, um nach etwas zu Essen zu suchen. Dabei beruhigte ich den Drachen, der in den letzten Tagen Angst um mich gehabt hatte, weil sich niemand um mich gekümmert hatte.
*Ich habe jetzt getrunken, verdursten kann ich also nicht mehr. Und wenn ich hier kein Essen finde, fliegen wir einfach nach Hause.* erklärte ich ihm.
Leider fiel diese Erklärung nicht sehr überzeugend aus, denn ich hatte rasende Kopfschmerzen und hätte deshalb am liebsten geheult. Die Gefühle des Drachen wechselten von Angst zu rasender Wut. - Ein Gefühl das ich bei ihm noch nicht erlebt hatte. Und es war erschreckend, wie heftig die Wut in meinen Geist einschlug und dazu führte, daß ich augenblicklich auch wütend wurde. Ich taumelte und fiel zu Boden. Dann riß ich mich zusammen und befahl meinem Drachen, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
*So lange Du so wütend bist, kann hier kein Mensch klar denken!* erklärte ich. Langsam ebbte die Wut ab. Eine Krankenschwester stürmte auf mich zu und fuhr mich an, was ich außerhalb meines Zimmers suche.
"Entspannen sie sich. Das ist nicht ihre Wut die sie da fühlen."
"Ach und wem gehört sie dann?" fuhr sie mich an.
"Dem Drachen." antwortete ich.
Sie stutzte, schüttelte den Kopf und wirkte immer noch wie betäubt durch den Nachhall der Wut.
"Warum habe ich keine Infusionen bekommen?" fragte ich.
Der Drache nahm ihre Erinnerung an eine überwältigende Angst wahr, die sie empfunden hatte, als sie sich meinem Zimmer näherte und spiegelte sie in meinen Geist. Ich bekam ihre wütende gesprochene Antwort nicht richtig mit, sagte nur:
"Die Angst gehörte auch dem Drachen. Er hatte Angst um mich. Man kann innerhalb von wenigen Tagen verdursten, wenn man bewußtlos ist und das weiß er."
Sie brach in Tränen aus und flehte mich an, es niemandem zu verraten. Ich schüttelte den Kopf.
"Das geht nicht. Wenn wir das nicht richtig klären, haben wir dasselbe Problem in ein paar Tagen noch einmal. Ich muß mit dem Chef sprechen. Und ich brauche etwas zu essen."

Ich aß schließlich in einem Dienstraum der Krankenschwestern, da sie den Drachen nicht vor dem Fenster des Speisesaals für Patienten haben wollten. Als ich fertig war, waren zwar Hunger und Durst gestillt, aber ich fühlte mich immer noch hundeelend. Ich war wirklich nicht dazu aufgelegt, Verhandlungen zu führen.

Als der Klinikleiter kam, begrüßte ich ihn.
"Was machst du hier? Du solltest im Bett liegen. Du hast Dich noch nicht ausreichend von den Operationen erholt." fuhr er mich an, sobald er meine Begrüßung erwidert hatte.
"Die letzten drei Tage habe ich keine Infusionen bekommen, ich habe in einem vollgeschissenen Bett geschlafen und offensichtlich keinerlei Pflege erhalten." sagte ich.
"Ich bringe diese Krankenschwester um!" fuhr er auf.
"Das wirst Du nicht tun." widersprach ich leise, aber in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete.
Er stutzte.
"Das ist eine Operation, die so wichtig ist, daß Du normalerweise selber kontrolliert hättest, ob alles in Ordnung ist. Das hast Du aber nicht getan, sonst hättest Du zumindest das vollgeschissene Bett bemerkt. Nicht wahr?"
Er wurde blaß und antwortete nichts. Ich spürte, daß er erwartete, dafür hingerichtet zu werden. Die Regierung brachte für so etwas kein Verständnis auf, wenn es ihre wichtigen Geheimgeschäfte betraf.
"Ich kann Dir auch sagen, woran es lag." fuhr ich fort "Als du dich dem Zimmer genähert hast, hast du Angst bekommen. Du hattest keinen erkennbaren Grund für diese Angst und konntest sie dir auch nicht erklären. Aber sie war so überwältigend, daß Du umgedreht bist, bevor Du die Tür aufgemacht hast, nicht wahr?"
Er nickte. Immer noch innerlich erstarrt vor Angst.
"Der Krankenschwester ist es genauso ergangen."
"Wahrscheinlich." bestätigte er.
"Es war nicht deine Angst, es war die des Drachen. Und er hatte Angst um mich, weil sie niemand um mich gekümmert hat. Gegen so eine Angst kommt keine wie auch immer geartete Drohung an. Und wenn jemand das hätte vorhersehen können, dann ich. Ich bin schließlich der einzige hier, der weiß, wie Drachen denken und welchen Einfluß ihre Gefühle auf Menschen haben. Aber ich habe es nicht vorhergesehen und deshalb haben wir jetzt den Salat. Glücklicherweise geht es mir so wie man das nach einer erfolgreichen Operation erwarten kann. Du weißt, daß das auch anders hätte ausgehen können." Er nickte. Langsam wurde ihm klar, daß er diesmal wohl davonkommen würde.
"Du machst der Krankenschwester klar, daß sie richtigen Ärger bekommen wird, sollte so etwas jemals wieder vorkommen. Und daß es nicht an dir liegt, daß das diesmal nicht passiert, sondern auf meinen Befehl. Damit dürfte sichergestellt sein, daß das die Disziplin nicht untergräbt. Aber diesmal wird ihr nichts passieren, das ihr dauerhaft schadet. Sie wird weder dauerhaft degradiert noch irgendwie verstümmelt. Sollte diese Anweisung nicht befolgt werden, werde ich dafür sorgen, daß es Dir ebenso ergeht." erklärte ich.
Er nickte.
"Diesmal aber werden wir das ganze einfach nicht verraten. Du beschwerst Dich, daß der Drache das Klinikpersonal verängstigt hat und forderst, daß die nächste Operation bei uns stattfindet. Ich beschwere mich, daß das Personal so verängstigt ist, daß man Angst haben muß, daß sie ihre Arbeit nicht mehr erledigen können und ich fordere, daß die nächste Operation bei uns stattfindet, wo wir uns notfalls selber um unsere Leute kümmern können. Daß sie die Arbeit tatsächlich nicht getan haben, verraten wir nicht."
Jetzt war er richtig erleichtert.
"Danach suchst Du einen Arzt aus, der diese Operation beherrscht aber so eine richtige Nervensäge ist, die immer alles hinterfragt und jeden damit nervt. Weißt du so jemanden?"
Er begann zu grinsen. Es gab also jemanden, den er loswerden wollte.
"Den brauchen wir als Arzt. Der wird sich auch durch einen Drachen nicht einschüchtern lassen. Und ich fliege heute noch nach Hause, also schick den guten Mann sofort los." erklärte ich.

Daß ich in diesem Zustand mit dem Drachen fliegen wollte, führte zu Protesten, doch nachdem ich erklärt hatte, daß kein Pilot, der durch einen besorgten Drachen verfolgt wird, mehr sicher fliegt, sagte der Klinikleiter nichts mehr dagegen. Außerdem war mein Drache mit meinen Gedanken verbunden und paßte sehr sorgfältig auf mich auf, während er flog. Als ich ankam, legte ich mich sofort schlafen, ohne die besorgten Fragen der anderen Drachenreiter zu beantworten.

Als ich wieder aufwachte, merkte ich, daß mein rechter Arm am Bettrand angebunden war. Ich sah hin und stellte fest, daß gerade eine Infusion durchfloß. Mein Drache erklärte mir, daß das war, weil ich die letzten Tage zu wenig getrunken hatte. Ich sollte warten bis die Flasche durchgelaufen ist. Er wirkte gut gelaunt und schien das Gefühl zu haben, daß ich gut versorgt sei.

Nicht einmal fünf Minuten später kam unser neuer Arzt und stellte sich vor. Er wirkte jung und selbstsicher aber auch etwas unruhig. Er fragte mich, wie es mir ginge.
"Hundeelend. Aber so weit ich weiß, ist das völlig normal nach einer solche Operation." antwortete ich. Danach beschrieb ich die Symptome im Einzelnen, unterbrach aber, als er plötzlich nach seinem Kopf faßte und stöhnte. Ich richtete mich auf, umarmte ihn und fragte:
"Kopfschmerzen?"
Er nickte wimmernd.
"OK. Fühl Dich hinein und merk dir, wie es sich anfühlt."
Er nickte wieder.
"Dann hör jetzt auf, mein Lieber."
Der Arzt atmete erleichtert auf.
"Der Drache hat dir grade rüber gespiegelt wie ich mich fühle." erklärte ich ihm.
"So furchtbar fühlt sich das an?" fragte er.
"Es hat schon erheblich nachgelassen, seit ich das erste mal aufgewacht bin." sagte ich.
Er schüttelte sich.
"Und das macht ihr freiwillig mit?"
"Mit der Freiwilligkeit ist es nicht weit her. Wir mußten, als wir für die Drachen ausgewählt wurden, unterschreiben, daß wir damit einverstanden sind." antwortete ich.

Da ich gespürt hatte, daß sein Vorgesetzter ihn hatte loswerden wollen, hatte ich zuerst befürchtet, unser Arzt könnte unzufrieden sein, weil er diese Versetzung in ein Geheimprojekt der Regierung nicht gewollt hatte. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Wann immer das Thema aufkam, sagte er, wie froh er war, den kleinlichen Anfeindungen seines früheren Chefs entkommen zu sein.

Die Operationen der anderen Drachenreiter verliefen komplikationslos. Natürlich änderte das nichts an den fiesen Kopfschmerzen. Da wir anderen Drachenreiter die Ängste eines Drachen von unseren eigenen unterscheiden konnten, und da die Drachen der Anderen von meinem Drachen erfuhren, wie sich die Operation bei mir ausgewirkt hatte, waren wir fähig, die Drachen zu beruhigen, wenn sie sich Sorgen um uns machten und das medizinische Personal konnte sich deshalb um unsere Leute kümmern, ohne völlig von Drachengefühlen überschwemmt zu werden.

Weniger komplikationslos verlief meine Gewöhnung an den neuen Anschluß. Ich hatte gesagt bekommen, daß ich mit diesem Stecker anfangs nur eine halbe Stunde ins Internet gehen durfte, doch als ich es dann wirklich tat, hatte mein Drache so viele Ideen, was man noch alles im Internet nachgucken könnte, daß ich die Zeit vergaß und danach wieder tagelang Kopfschmerzen hatte. Dem Drachen tat das dann entsetzlich leid, was die Sache aber auch nicht besser machte. Beim zweiten Versuch passierte mir dasselbe. Danach sorgte ich dafür, daß der Computer nach Ablauf der voreingestellten Zeit automatisch herunterfuhr. Wenn ich die Zeit zu lang gewählt hatte, kam es dann immer noch vor, daß ich mir leichte Kopfschmerzen einhandelte, aber im Wesentlichen konnte ich von da ab sicherstellen, daß ich mich nicht überlastete.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


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