12/09

Reinkarnationserinnerung

F89.

"Tut einfach so, als wäre ich gestorben."

Als Chehija fast zwölf Jahre alt war, verkündete der Scheich dem Stamm stolz, daß Chahandra - seine älteste Tochter - im nächsten Monat heiraten würde. Da das Mädchen sich auf die Hochzeit freute, waren im Frauenzelt alle glücklich über diese Botschaft.

Am nächsten Morgen suchte mich der Eunuch von Chehijas Mutter auf, nahm mich zur Seite, sagte mir, daß Kedo, Chahandras Leibwächter, kastriert worden war und brachte mich zu seinem Lager. Der alte Eunuch sagte zu mir:
"Mit dir werden sie dasselbe tun. Sie tun dir unter anderem deshalb so viel Gutes und behandeln dich fast wie einen Sohn der Familie, damit du bereit bist, ihnen die Kastration zu verzeihen, wenn es so weit ist."
Ich antwortete nicht. Ich war viel zu schockiert. Er hatte mir schon öfter gesagt, daß sie das mit mir tun würden, falls Chehijas Ehemann das wünscht - aber ich hatte es einfach nicht glauben wollen. Jetzt hatte ich den Beweis vor Augen.

Bevor ich mich von dem Schock erholen konnte, kam Chehija herein. Sie wirkte aufgescheucht.
"Mein Bruder hat gesagt, daß sie Kedo kastriert haben - aber das ist doch nicht wahr - oder?"
Ich sah sie an und dachte, daß ich das jetzt nicht auch noch brauchen konnte. Dann atemte ich tief durch und sagte:
"Chehija komm in meine Arme." sobald sie sich neben mich setzte umarmte ich sie und fragte leise: "Kedo, kannst du erzählen, wie es passiert ist?"

Kedo schloß die Augen. Ich legte ihm sacht die Hand auf die Schulter und wartete bis er antwortete.
"Ja. Ihr müßt das wohl wissen."
Dann begann er zu erzählen. Seiner Stimme merkte man die Schmerzen an und er kam oft ins Stocken an den schlimmsten Stellen der Geschichte.

Es begann völlig harmlos. Wie schon so oft war er mit einigen Männern des Stammes ein wenig hinaus in die Wüste geritten und man war dort vom Pferd gestiegen. Einer der anderen Männer ließ sich das Schwert von Kedo reichen - auch nichts Ungewöhnliches. Dann packten sie den unbewaffeten Kedo, zwangen ihn zu Boden und fesselten ihn. Einer der Männer ritt zum Lager zurück, während die anderen Kedo ein Schwert an den Hals hielten, damit er sich nicht wehren konnte und ihm die Hose auszogen. Als der Mann mit der Hebamme vom Lager zurückkehrte, sagte einer von den Söhnen des Scheichs:
"Komm, halt still, dann hast du es bald überstanden."
"Ich wußte da immer noch nicht, was sie genau vorhatten, aber ich habe still gehalten, denn sie waren so viele, daß ich nicht die geringste Chance mehr hatte, sobald sie mich einmal entwaffnet am Boden hatten. Und als die Hebamme mit ihrer Arbeit begann, war ziemlich schnell klar, was sie da tat." beendete er seine Geschichte.
"Tut das schlimm weh?" fragte ich.
"Schlimmer als du dir vorstellen kannst." antwortete Kedo.
Chehija, die die ganze Zeit lautlos in meinen Armen geschluchzt hatte, sagte:
"Das ist so gemein!"
"Gemein ist gar kein Ausdruck." entgegnete ich und drückte sie noch einmal, während ich die andere Hand immer noch leicht auf Kedos Schulter ruhen ließ, dann fragte ich:
"Sag mal, Chehija, was macht deine Schwester?"
"Sie weint. Und sie will nicht mehr heiraten."
"Dann geh zu ihr hin. Du wirst sie besser verstehen als ich - du mußt dir nur vorstellen, ich wäre kastriert worden. Sag ihr das, was du gerne hören würdest, wenn du an ihrer Stelle wärest. Und wenn sie sich einigermaßen beruhigt hat, schickst du sie hierher. Kedo braucht sie jetzt. Schaffst du das?"
Chehija sah mich mit großen Augen an, nickte und ging raus.

Als wir alleine waren, meinte der alte Eunuch:
"Das war sehr gut, was du eben gemacht hast, Sarim."
Ich glaube, das Lächeln das ich ihm zuwarf, sah gar nicht wie ein Lächeln aus.
"Und wie kommst du damit zurecht?"
Ich schwieg einen Augenblick und gab dann zu:
"Es macht mir Angst."
"Du hast dir also doch Illusionen gemacht."
Ich nickte.

In den folgenden Tagen redete ich viel mit Kedo. Einerseits, wollte er, daß ich ihm etwas erzählte - irgendetwas - um ihn von den Schmerzen abzulenken. Andererseits mußte ich irgendwie mit der Aussicht klarkommen, daß es mir selbst so ergehen könnte.

Als zehnjähriger zählte ich als Sohn einer Sklavin ohne ein einziges Stück Vieh zu den Ärmsten der Armen. Ich war damals wesentlich kleiner als der gleichaltrige Sohn des Scheichs, denn ich hatte den größten Teil meines Lebens nicht genug zu essen gehabt.

Dann machte sich die Frau des Scheichs unter den Sklaven des Stammes auf die Suche nach einem Leibwächter für ihre Tochter und pickte sich den Jungen heraus, der ihrer Ansicht nach am liebevollsten mit Kleinkindern umging. Das war ich. Und zum ersten mal in meinem Leben durfte ich das ganze Jahr jeden Tag so viel essen wie ich wollte und ich holte den Wachstumsvorsprung der Jungen des Scheichs innerhalb eines Jahres auf.

Ich habe beobachtet, wie es meinen Spielkameraden von früher erging. Denen, die genauso arm waren, wie ich es gewesen war. Ein zehnjähriger Junge gilt als Krieger. Doch wenn man Sohn des Scheichs ist, bedeutet das etwas völlig anderes als wenn man ein Sklavenjunge ist. Zwar nicht offiziell, aber real. Ein Sohn des Scheichs kommt auf den Kriegszügen mit, wird aber durch seine erwachsenen Verwandten von allen ernsthaft gefährlichen Aufgaben ferngehalten, denn ein Zehnjähriger ist ziemlich schnell tot, wenn er in einen echten Kampf verwickelt wird. Für Aufgaben, wo ein Zehnjähriger nicht wirklich eine Hilfe ist, werden auch Sklavenjungen nicht eingesetzt. Aber für gefährliche Kundschafteraufgaben, bei denen man sich dicht an die Feinde anschleichen muß, nimmt man sie gerne. Und sie melden sich freiwillig - denn eine Kundschafteraufgabe bedeutet ein größerer Anteil der Beute und das heißt weniger Hunger. Von den Sklavenjungen des Stammes, deren Mütter genausowenig besaßen wie meine, ist keiner älter als vierzehn geworden. Keiner hat ein Kind gezeugt. Außer mir. Diejenigen Sklaven, die lange genug überlebten, um letztlich freizukommen, hatten Mütter, die etwas Vieh besaßen.

Kurz zusammengefaßt hatte mir meine Aufgabe als Leibwächter ziemlich sicher mein Leben gerettet. Sie hatte bewirkt, daß ich meine Tochter über die ersten Jahre hinweg satt bekommen konnte, in denen kleine Kinder so leicht sterben, wenn man nicht genug zu essen für sie hat. Selbst wenn ich bei Chehijas Hochzeit kastriert wurde und meine Familie nicht mitnehmen konnte, habe ich zehn glückliche Jahre länger gelebt, als ich sonst überhaupt gelebt hätte. Und ich glaube nicht, daß ein Leben als Eunuch schlimmer ist als gar kein Leben.

Zwar konnte ich fliehen, wenn ich wollte und ich würde durchaus auch alleine zurechtkommen, wenn es sein mußte. Aber das wäre dann das Leben eines Verstoßenen, und selbst wenn ich als Erwachsener bessere Überlebenschancen hätte als ein Kind, würde ich sehr wahrscheinlich nicht wieder zu einer Familie kommen und die Menschen, die mir wirklich nahestanden, Schaha, meine Tochter Chedilla, meine Mutter und Chehija, die ich liebte, als wäre sie meine kleine Schwester, würde ich nie wieder sehen. Ich kam zu dem Schluß, daß ich fliehen würde, wenn ich sicher wußte, daß sie das vorhatten, aber nicht, wenn ich es nur vermutete. Und ich war mir darüber im Klaren, daß das hieß, daß ich die Gelegenheit für eine erfolgreiche Flucht damit sicherlich verpassen würde, denn ich wußte ja, wie es Kedo ergangen war.

Außerdem war ich mir auch einfach nicht sicher, ob es richtig war, das Gute anzunehmen und vor dem Preis, den sie dafür verlangten, zu fliehen - aber andererseits hatten sie mich auch nicht gefragt, ob ich einverstanden bin, als Erwachsener kastriert zu werden, wenn sie mich vorher nur reich genug beschenken. Das hätte ich nämlich abgelehnt und dann lieber auf lebensgefährlichen Kundschafteraufträgen mein Glück versucht. Stattdessen hatten sie mich gefragt, ob ich ein kleines Schwesterchen will. Und das kleine Schwesterchen, das ich da bekommen habe, liebe ich immer noch.

Kedo ordnete seine Angelegenheiten, als ihm klipp und klar gesagt wurde, daß er seine Frau nicht mitnehmen durfte - schließlich wäre er ja nicht verheiratet und hätte deshalb kein Recht darauf. Er ließ ihr fast sein gesamtes Vieh, damit sie seine beiden kleinen Söhne ausreichend versorgen konnte und behielt nur seine beiden Reitpferde und die beiden Kamele, die zu ihrer Versorgung nötig waren. Er verabschiedete sich von Frau und Kindern und ritt nach der Hochzeit gehorsam mit fort.
"Tut einfach so, als wäre ich gestorben." sagte er. Er sah dabei sehr verloren aus.

Das war natürlich nicht so einfach. Seine Söhne fragten oft nach ihm und ich erklärte ihnen geduldig immer wieder, warum ihr Vater nicht wiederkommen konnte, obwohl er das sicher gerne wollte.

Kersti

Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben


F81. Kersti: Fortsetzung: Merkwürdigerweise erleichterte mich die Kastration irgendwie
F86. Kersti: Voriges: Sie tun das, weil sie eine Tochter haben, für die es wichtig ist, daß du sie ehrlich liebst
FI8. Kersti: Inhalt:
VA106. Kersti: Reinkarnation
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
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Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
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