erste Version: 10/2018
letzte Bearbeitung: 10/2018

Chronik des Aufstiegs: Weimarer Republik und Drittes Reich - Die Pforten der Hölle - Aufstieg aus der Hölle

F1157.

Sie wollte mir auch zuerst nicht glauben, daß ich ihr Sohn war und sagte sie hätte nur einen Sohn und der wäre ins Heim gekommen, weil er krank war

Vorgeschichte: F1156. Khiris: Erst als ich Jahre später mit einem meiner damaligen Betreuer darüber redete, begriff ich, daß mein Beißen eines der größten Probleme gewesen war, warum sie mich zuerst nicht rausgelassen hatten

Khiris erzählt:
Eines Tage fragte mich Karon, ob ich ihn auf einer Reise begleiten wollte, da würde er nämlich am Haus meiner Eltern vorbeifahren und wenn ich meine Mutter wiedersehen wollte, wäre das eine Gelegenheit dazu.

Ich fuhr also mit.

Wir kamen nicht nur an dem Haus meiner Eltern vorbei sondern auch an dem Heim, wo ich damals gewesen war. Das Gehöft, das ich Schloß genannt hatte, weil es mehrere Zimmer hatte, stand jetzt leer und Karon erklärte mir, daß das Heim, bald nachdem sie mich geholt hatten, geschlossen worden war, weil er wegen der schlimmen Verhältnisse dort Beschwerde eingelegt hatte. Daraufhin hätten sich die Behörden das angesehen und man sei zu dem Schluß gekommen, daß das so wirklich nicht weitergehen könnte. Die Kinder aus dem Heim seien dann in ein anderes Heim gekommen, wo sie zumindest Kleidung und genug zu Essen bekommen würden, weil es sich nicht gelohnt hatte die Gebäude reparieren zu lassen. Er hätte sich das immer wieder mal angeschaut, weil er sich da sicher sein wollte, daß es den Kindern nicht schlechter geht.

Als wir uns meinem früheren Zuhause näherten, erkannte ich durchaus einiges wieder. Mir war aber nicht bewußt gewesen, wie ärmlich meine Eltern gelebt hatten. Ich klopfte an. Eine hagere alte Frau öffnete und fragte, was die hohen Herren denn von ihr wollten. Ich erkannte sie eindeutig als meine Mutter, war aber erstaunt, wie klein und ausgemergelt sie aussah. Sie wollte mir auch zuerst nicht glauben, daß ich ihr Sohn war und sagte, sie hätte nur einen Sohn und der wäre ins Heim gekommen, weil er krank war.
"Genau der bin ich." antwortete ich.
Sie behauptete, das könne gar nicht sein, dazu wäre ihr Sohn zu krank gewesen.
"War ich wirklich so schlimm, Karon?" fragte ich.
"Sagen wir es mal so: Am Anfang war ich schon ganz froh daß da ein Gitter zwischen uns war, damit ich nicht ständig aufpassen muß, daß du mich nicht beißt. Aber dann hast du ja ziemlich schnell gelernt, daß das so nicht geht. Die Betreuerinnen in dem Heim, wo du vorher warst haben auch ernsthaft behauptet, du könntest nicht sprechen. Dabei konntest du in Wirklichkeit ungefähr so gut sprechen wie Fünfjährige das normalerweise tun, du hast nur an ganz merkwürdigen Stellen manche Dinge nicht verstanden. Aber sie werden es nicht glauben, liebe Frau, der Junge hat inzwischen ganz erfolgreich studiert und macht gerade seinen Doktor." antwortete er.
"Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie ich abends im Bett gelegen habe und das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen vorgelesen bekam." sagte ich.
Da glaubte sie mir plötzlich und ließ mich ein.

Die Hütte, die mir als kleines Kind groß erschienen war, war etwa drei Meter lang und etwa zwei Meter breit. Am vorderen Ende war ein kleiner Herd, hinten das Bett nahm die ganze Breite des Raumes ein und war vielleicht 1,20 breit und 1,80 lang. Das war das Ehebett, in dem meine Eltern immer geschlafen hatten. Wie ich erfuhr, war mein Vater inzwischen gestorben. Davor stand ein kleiner Tisch und zwei wackelige Hocker. Eigentlich paßte das alles nicht wirklich in den Raum. Sie setzte sich auf das Bett und bot uns die Hocker an, die ich am liebsten sofort neu geleimt hätte. Wir packten den mitgebrachten Picknickkorb aus und deckten den wackeligen Tisch mit Tischdecke, Tellern, Besteck und einem typischen Picknik. Als sie etwas Verlegenes dazu meinte, erklärte ich, daß ich als ihr Sohn doch wohl meiner Mutter etwas zu essen mitbringen könne, wie mir Karon geraten hatte. Das schien sie zu befriedigen.

Karon hatte mir erklärt, daß es sinnvoll war, jedem seine Portion zuzuteilen, weil arme Leute dazu neigen, wenn ihnen beliebig viel angeboten wird, möglichst viel in sich hineinzuschlingen, weil sie auf lange Sicht nicht damit rechnen, sich wieder satt essen zu können. Wenn sie die ganze Zeit vorher zu wenig hatten, können sie sich so überfressen, daß sie daran sterben. Statt ihr sofort so viel zu geben wie sie will, würden wir ihr nachher noch etwas für die nächsten Tage geben. Er hatte mir erklärt, daß sie dann damit durchaus vernünftig umgehen würde, weil arme Menschen im Laufe ihres Lebens lernen, sich ihr Essen sorgfältig einzuteilen. Meine Mutter lobte das Essen über den grünen Klee, dabei war es einfach nur ein normales Abendessen. Als wir ihr beim Abschied noch einen Sack Kartoffeln, ein großes Brot, ein Stück Butter und Wurst gaben, wirkte sie als könne sie das gar nicht glauben.

Auf dem Rest der Reise unterhielt ich mich immer wieder mit Karon darüber, wie sehr mich schockiert hatte, wie meine Mutter lebte. Er erklärte mir, daß man, wenn man einem Menschen der so lebt, helfen will, sich genau überlegen muß, was man tut. Sie irgendwo anders hinbringen, würde sie unglücklich machen, weil sie dann in der Fremde ist. Wenn man ihnen zu viel gibt, werden die Nachbarn neidisch und sie verliert dadurch ihre Freunde. Aber sie hat auch nichts mehr zu tun und fängt an sich zu langweilen. Aber wenn ich ihr monatlich einen Betrag zuschicken würde, der ihren Bedarf an Grundnahrungsmitteln decken würde - er nannte mir eine Summe, die ich mir von meinem Gehalt durchaus leisten konnte - dann würde sie damit der Sorge um ihr täglich Brot enthoben und könnte das, was sie arbeiten würde, nutzen, um sich ein paar Kleinigkeiten zu leisten. Das läge dann durchaus auch in dem Rahmen, was manche andere Kinder ihren Eltern dort an Unterstützung zukommen lassen und würde deshalb auch nicht zu viel Neid auslösen.

Ich überlegte mir das, bis wir zuhause waren und tat letztlich, was er mir geraten hatte, weil ich das Geld sowieso nicht wirklich brauchte und nicht wollte, daß meine Mutter so hungern mußte, wie ich mich das aus meiner frühen Kindheit erinnerte. Andererseits hatte ich auf dieser Reise aber auch festgestellt, daß ich mit meiner Mutter jetzt als Erwachsener wenig anfangen konnte, weil sie außer ihrer Sorge um das täglich Brot und den Klatsch über die Nachbarn keine Gesprächsthemen kannte. Sie lebte einfach in einer völlig anderen Welt.

Kersti

Fortsetzung:
F1158. Khiris: Die wenigen Blätter der Akte die sich auf die Zeit, bevor ich zu den Schwarzen Rittern kam, bezogen, waren da verwirrend